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Gertrud Luckner
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Clemens Thoma

Gertrud Luckner: Selbstzeugnisse und Anliegen

An ihrem 70. Geburtstag wurde Frau Dr. Luckner von einem jugendlichen Vertreter des Schomer HaZa‘ir1 mit folgender poetischer Aussage gewürdigt:

„... Auf dem Weg zum Gipfel des Berges traf ich ein Mädchen, das seinen kleinen Bruder auf dem Rücken bergan trug. ,Kind‘, sagte ich, ,du trägst da eine schwere Last!‘ Das Mädchen blickte mich erstaunt an. ,Aber Herr, ich trage doch keine schwere Last, meinen Bruder trage ich!‘

Dann folgte der Kommentar des jungen Israeli:

„Wie dieses Mädchen haben Sie, Gertrud Luckner, in der Zeit der Hitlerherrschaft Ihre Brüder getragen — und sie waren Ihnen keine Last. Als eine der ersten waren Sie in Israel, um das neue Leben zu sehen, das wir uns aufbauten ... Auch heute noch können Sie sich mit keiner Ungerechtigkeit, keinem Leiden tatenlos abfinden.“2

Der Freiburger Rundbrief (FrRu) war seit 1948 ein immer schwerer werdender Rucksack, den Frau Luckner weder tags noch nachts ablegte, um uns Heutige vor Nazigiften zu warnen, um Verfolgten und Geschädigten zu helfen und um ein neues geistig-religiöses und politisches Klima unter Christen und Juden herbeizuführen.

1. Entschlüsselung ihres Arbeitsethos aus dem Freiburger Rundbrief

Seit dem siebten Jahrgang des Freiburger Rundbriefs Neue Folge (Heft 2/2000) trägt das Titelblatt den Zusatz: „Begründet von Dr. Gertrud Luckner“. Eine sehr gute Möglichkeit zum Kennenlernen ihrer Persönlichkeit, ihres Werkes, ihrer Beziehungen und ihrer Ideale bietet die im FrRu dokumentierte „Festakademie für Dr. Gertrud Luckner am 22. September 1985 in der Zentrale des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg i. Br.“.3

Feierstunde zum 85. Geburtstag von Gertrud Luckner am 26. Sept. 1985 im Haus des Deutschen Caritasverbandes; (v.l.n.r.) Clemens Thoma, Nora Ehrlich, G. Luckner, Ernst L. Ehrlich. Foto: FrRu

Gertrud Luckner hat damals an ihrem 85. Geburtstag ihr Leben und ihre Motivationen prägnant geschildert. Außerdem kamen an dieser Geburtstagsfeier Persönlichkeiten zu Wort, die mit ihr zusammengearbeitet haben, ihre Anerkennung und bisweilen auch Reklamationen erfahren haben: der damalige Präsident des Deutschen Caritasverbandes Dr. Georg Hüssler, Erzbischof Dr. Oskar Saier, der Oberbürgermeister von Freiburg Dr. Rolf Böhme, der damalige Vorsitzende des Zentralverbandes der Juden in Deutschland Werner Nachmann, ihr besonderer Berater und jüdischer Freund Dr. Ernst Ludwig Ehrlich, Akademiedirektor Dr. Martin Stöhr, Botschaftsrat Yehudi Kinar, Landesrabbiner Dr. Nathan P Levinson, der Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Freiburg Hans H. Altmann, Prof Hans Thieme, Bruder des Mitbegründers des FrRu Prof Karl Thieme, Prof Dr. Bernhard Casper von der Universität Freiburg, Walter Sylten, Direktor der Evangelischen Hilfsstelle für ehemalige Rassenverfolgte und des Evangelischen Hilfswerkes für die von den Nürnberger Gesetzen Betroffenen nichtjüdischen Glaubens, und Dr. Theophil Herder-Dorneich, Vorsitzender der Stiftung Oratio Domenica. Vor allem hat Gertrud Luckner selbst über ihr Leben und ihre Tätigkeiten prägnant referiert.4 Meine Aufgabe bei der Festveranstaltung war, Dr. Luckners Arbeit seit 1948 ausführlich nachzuzeichnen.

Man kann und muß nicht alle 38 Jahrgänge des FrRu gelesen haben, um Persönlichkeit und Absichten von Gertrud Luckner zu erkennen. Es ging ihr um Bekanntmachung und Hilfeleistung angesichts des furchtbaren massenhaften Leidens und Sterbens jüdischer Menschen, um historische Demaskierungen christlicher und antichristlich-antijüdischer Antisemiten, um Warnungen vor neuen theologischen und soziologischen Feindschaftsideologien, um Anzeichen des Umdenkens in den christlichen Kirchen, um das Finden neuer nach-holocaustischer Denkansätze und um das Aufweisen jüdischen Leides und jüdischer Versöhnungsansätze. Besonders auf jüdischer Seite wäre man daher sicher hoch erfreut, wenn Gertrud Luckner auch von der Kirche als beispielhaft ausgezeichnet würde.

Akribisch registrierte sie alle christlich-jüdischen Läuterungs- und Versöhnungsbemühungen in evangelischen und katholischen Verlautbarungen. Mehrere solche Dokumente hat nur sie allein schriftlich festgehalten und so der Nachwelt überliefert. Ihr exaktes Wissen und Registrieren veranlaßte selbst Fachleute wie Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix zu mehreren Anrufen bei mir, um sich über Gertrud Luckners Äußerungen zu dieser oder jener evangelischen oder katholischen Verlautbarung zu informieren.5 Es ging ihr aber nie nur um die Publikation von Dokumenten, sondern auch um christliche und jüdische Deutungen und Echos.

Auf jüdischer Seite stellten sich besonders Ernst L. Ehrlich,6 Yehiel Ilsar und David Flusser für zukunftsweisende Deutungen zur Verfügung. Mich selbst zwang sie bisweilen förmlich zur Abfassung einer christlichen Stellungnahme zu offiziellen katholischen oder evangelischen Dokumenten über die christliche Beziehung zum jüdischen Volk. Dazwischen suchte sie oft Kardinal Augustin Bea in Rom auf oder konsultierte ihn telefonisch, was von Ereignissen in Israel oder anderswo im christlich-jüdischen Zusammenhang zu halten sei. Sie erzählte mir gelegentlich, wie Kardinal Bea jüdische Erfolge oder Ereignisse jüdisch-christlicher Verständigung freudig — mit beiden Händen auf seine Knie klatschend — gefeiert habe.

Gertrud Luckner war auch eine gute Journalistin. Beim Studieren verschiedener Jahrgänge des FrRu bin ich zur Erkenntnis gelangt, daß es genügt, besonders einen Rundbrief zu analysieren, da in allen Rundbriefen fast dieselben Anliegen immer wieder in verschiedenen Variationen auftauchen. Ich habe die 34. Folge (1982) ausgewählt und hoffe, anhand dieses Bandes sowohl die Mentalität dieser großen Frau des 20. Jahrhunderts als auch die Hauptinhalte ihres Schaffens charakterisieren zu können. Dies ist auch deshalb möglich, weil sie fast jeden Beitrag mit Sternchen und Anmerkungen versehen hat, um auf ähnliche themenbezogene Artikel, Veröffentlichungen und Ereignisse aufmerksam zu machen. Sie war eine zähe Arbeiterin und Beobachterin.

2. Ihre geistig-religiöse Haltung

Die schon erwähnten Kontakte mit Kardinal Augustin Bea (1881-1968) waren für Gertrud Luckner ein wichtiger Ansporn zu intensiver Arbeit für die Erneuerung der katholischen Kirche. In der erwähnten Folge (S. 7-9) ist die Rede des Generalsekretärs des Jüdischen Weltkongresses, Gerhart Riegner, anläßlich des 100. Geburtstages von Augustin Bea abgedruckt. Vieles aus dieser Rede gilt auch für Gertrud Luckner. Riegner sagte u. a. über Kardinal Bea:

„Mit tiefreligiösem Glauben verband er die Gabe ruhiger Entschlossenheit. Äußere Bescheidenheit stand in stiller Selbstbehauptung und dem Vertrauen in die Aufgabe, die er übernommen hatte, nicht im Wege. Er besaß ungeheure Willenskraft und unermeßliche Geduld und Energiereserve, für die ihn viele Jahrzehnte im Dienste der Kirche vorbereitet hatten, die aber trotzdem in seinem Alter erstaunlich waren.“

Tiefreligiöser Glaube, Entschlossenheit, Bescheidenheit, Selbstbehauptung, Vertrauen in die übernommenen Aufgaben, Willenskraft, Energiereserven, (manchmal etwas angebrochene) Geduld und Dienst für die Kirche waren auch Gertrud Luckners Werte.

Kennzeichnend ist auch ihr kurzes Vorwort zum Riegner-Vortrag. Die von diesem beiläufig erwähnte Erklärung des II. Vatikanischen Konzils über die Religionsfreiheit aufgreifend, zitierte sie einen Ausspruch von Kardinal Jan G. M. Willebrands: „Wir sollten nicht vergessen, daß Papst Pius XII. 1953 noch von Toleranz sprach, ebenso wie auch der Entwurf für die Erklärung der Religionsfreiheit ... von Toleranz sprach und nicht von Religionsfreiheit.“ Für Gertrud Luckner war Religionsfreiheit ein Stichwort, das eine volle religiöse Anerkennung des jüdischen Glaubens seitens der Christen fördern sollte.

Wie weitsichtig sie im theologischen Verständnis des Judentums war, zeigt sich auch am Beispiel ihrer Kommentierung des 19. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Hamburg (17.-21. Juni 1981).7 Sie griff u. a. folgende Sätze aus dem Vortrag „Zwanzig Jahre ,Juden und Christen‘ von Prof. Dr. Dietrich Goldschmidt, Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Evangelischen Kirchentag, heraus:

„Auf dem Kirchentag 1961 in Berlin haben wir gewissermaßen unsern ersten Grundkurs gehalten. In einem historischen Rückblick wurden Wurzeln des Antisemitismus in christlichem Antijudaismus bloßgelegt. Politisch wurde der Finger auf die Vergangenheit in der Gegenwart ... gelegt. Theologische Erkenntnis war, daß Gott einen ewigen Bund mit Israel geschlossen hat.“

Gertrud Luckner an ihrem 90. Geburtstag mit Dr. Georg Hüssler (l.) und Hellmut Pusclimann, Präsident des Dt. Caritasverbandes.

Was Papst Johannes Paul II. an der Klagemauer am 26. März 2000 deponierte, hat Frau Luckner 1981 (und schon früher) fest geglaubt und bezeugt: Das jüdische Volk ist „das Volk des Bundes“. Wir Christen legen erst dann unsere Selbstüberschätzung und unsere Feindschaften ab, wenn wir dies voll anerkennen und Gott um Vergebung bitten wegen unserer Sünden der Verachtung anderer Religionen und Menschen.8 Frau Luckner wollte nie Theologin sein. Sie unterstellte sich auch stets gerne und hilfesuchend dem theologischen Urteil von antisemitismusfreien Kirchenpersonen (z. B. dem für den FrRu sehr engagierten Freiburger Generalvikar Robert Schlund). Aber wenn es um Verfolgte, Verachtete und im Stich-Gelassene ging, war sie hoch theologisch, mitmenschlich und autoritätskritisch. Immer wieder gab sie in verschiedenen Variationen der Überzeugung Ausdruck, es gebe keine christliche Ökumene ohne Einbeziehung des Judentums. Das jüdische Volk war für sie das Volk des Bundes, dem sich das christliche Volk anzunähern hat.

3. Belebung der Erinnerung

Gertrud Luckner hatte ein phänomenales Gedächtnis. Personen und Institutionen, die in der Nazimaschinerie bzw. im mörderischen Antisemitismus eine Rolle gespielt hatten, fürchteten sich vor ihr. Mehr als um die Judenverfolger und Mörder ging es ihr jedoch um die jüdischen und nichtjüdischen Opfer und Widerständler. Diese wollte sie auch im FrRu ehren und ihre Taten und Leiden den Nachfahren zur Kenntnis bringen. Sie betrachtete dies als notwendige Geschichtsaufarbeitung und als religiöse Pflicht.

„Benedicta Maria Kempner zum Gedenken (1904-1982)“ lautet der Titel eines von G. Luckner verfaßten Artikels (S. 32-33). Aus der darunter abgelichteten Todesanzeige ist zu erschließen, daß es sich um die verstorbene Frau des stellvertretenden Chefanklägers in den Nürnberger Prozessen, Robert M. W. Kempner, handelt. Frau Kempner war bis zur NS-Herrschaft als Sozialarbeiterin in Berlin tätig gewesen. Nachdem sie ins Exil vertrieben worden war, arbeitete sie in Florenz für NS-verfolgte Schülerinnen. Dann kam sie als Gestapo-Geisel ins Gefängnis. Später erarbeitete sie für amerikanische Politiker einen Bericht über „Frauen in Deutschland“. Bekannt wurde sie besonders durch ihre beiden Bücher „Priester vor Hitlers Tribunalen“9 und „Nonnen unter dem Hakenkreuz“.

Gertrud Luckner würdigte in B. M. Kempner das Engagement von Menschen, die sich nach dem Machtantritt Hitlers für bedrohte Mitmenschen eingesetzt haben. Benedicta Maria Kempner „widmete ihr ganzes Leben mit großer Energie der Hilfe für Unterprivilegierte und Verfolgte“. Am Schluß zitiert sie einige Sätze aus einem Werk von Benedicta Maria Kempner:

„Unsere Zeit, die so arm ist an heroischen und heiligen Vorbildern, hat nicht nur die Dankespflicht, sich dieser Zeugen der Wahrheit zu erinnern, sie braucht ihr Andenken auch als Wegweiser zu jenen ewigen Werten, für die sie Opfer gebracht haben. Ihr heiliges Vermächtnis ist unsere Aufgabe.“10

Auch aus dieser Schilderung leuchtet das ideale Schaffensmotiv von Gertrud Luckner. Sie wollte möglichst viele, die während der Nazizeit gelitten, andern geholfen und Widerstand geleistet hatten, uns Späteren in Erinnerung bringen. Es lassen sich viele Reminiszenzen und Beweise der Tapferkeit aus der Verfolgungszeit in allen Jahrgängen finden. Der FrRu ist somit eine wichtige Fundgrube zur Erforschung und Würdigung der jüdischen und christlichen Opfer des Nationalsozialismus. Auch persönliche Gespräche — besonders mit jüdischen Besuchern — hatten sie in der Überzeugung bestärkt, daß das Vermächtnis der in der Nazizeit Verfolgten und Umgebrachten eine unverzichtbare Aufgabe für unsere Zeit ist. Erinnerung an die Greuel wie an die Helden von damals ist eine heutige soziale und religiöse Pflicht.

4. Geschichte und Theologie des jüdisch-christlichen Dialogs

Gertrud Luckner hat von Anfang an erkannt, daß eine der wichtigsten Erneuerungen der Christenheit im Bereich der Theologie und der Geschichtsschreibung erfolgen muß. In der Nummer des FrRu, die ich hier zu interpretieren versuche, finden sich Rezensionen zu 77 Büchern und Zeitschriften. Diese Zahl ist ein guter Durchschnitt auch in den andern Jahrgängen. Den Rezensenten schärfte Luckner stets ein, darauf zu achten, ob ein Buch judenfeindliche Elemente enthalte und ob es jüdisches Denken und christliches oder philosophisches Versagen richtig darstelle.

Charakteristisch ist auch die Wiedergabe von Reden und Beiträgen mit typisch jüdisch-christlichen Verständnisanalysen. Zu erwähnen sind u. a. zwei Vorträge, die auf dem 19. Deutschen Evangelischen Kirchentag gehalten wurden: „Jesus – Messias Israels?“, vom Neutestamentler Peter von der Osten-Sacken, Berlin, und „Jesus zwischen Juden und Christen“, vom Dogmatiker Friedrich-W. Marquardt, Berlin (S. 42-50). Auch Katholikentage und Tagungen zu christlich-jüdischen Themen werden sinngerecht gewürdigt.

Charakteristisch für G. Luckners genaue Kontrolle von eingesandten Berichten sind ihre langen Nachbemerkungen zur Tagung des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Aachen anläßlich der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Schalom Ben-Chorin am 7. März 1982. Frau Luckner war über die eingesandte Berichterstattung nicht glücklich. Es sei zu wenig auf das Schicksal Ben-Chorins Bezug genommen worden. So holte sie vieles zusätzlich in einer von ihr verfaßten Abhandlung nach: 1935 ging Ben-Chorin nach Verhaftungen durch die Gestapo nach Jerusalem. Dort erkannte er die Notwendigkeit des jüdisch-christlichen Gesprächs. Israel sei für ihn jetzt das „Land der Bewährung“. Es ging ihr darum, jene Juden und Christen hervorzuheben, die unter der Nazidiktatur gelitten oder in der Schreckenszeit selbst andere geschützt oder gar gerettet hatten. Besondere Zuneigung entfaltete sie gegenüber jenen, die nach der Schoa Rechenschaft über ihre Erfahrungen ablegten und die für jüdisch-christliche Gemeinsamkeiten warben.

Gertrud Luckner zeigte großes Interesse, die Einstellung von Politikern zu Juden, Judentum und Antisemitismus zu registrieren. Mit dieser Absicht brachte sie eine Rede des damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Johannes Rau vor einem wissenschaftlichen Symposion in Düsseldorf.11 Ein weiteres wichtiges Thema war für sie die Politik des Staates Israel, wie z. B. die Erklärung der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir in der Knesset am 16. November 1970.12 Wichtig waren für sie Golda Meirs Erwähnung der kurz zuvor in Leningrad, Riga, Czernowitz und Moskau verhafteten 33 Juden, die blutigen Auseinandersetzungen mit terroristischen Organisationen in Jordanien, der Tod des ägyptischen Präsidenten Gamal Abd El-Nasser und die amerikanischen und russischen Machtversuche in und um Israel.

Noch mehr als den staatlichen Autoritäten spürte sie den Aussagen und Taten kirchlicher Würdenträger nach. An erster Stelle achtete sie auf den Papst und den Vatikan. Die von dort kommenden Veröffentlichungen über Juden, Judentum, Religionsunterricht, Schoa und den Zweiten Weltkrieg hielt sie für wegweisend. Dabei ging es ihr auch um Nebenereignisse. So berichtet sie z. B., daß Papst Johannes Paul II. in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom der 335 Italiener gedachte, die 1944 in den dortigen Steinbrüchen von deutschen Truppen ermordet worden waren.

Der stetig umfassender werdende Rundbrief wurde ihr in den siebziger Jahren zu eng. Sie erkannte, daß sie bislang israelisch-jüdische Wissenschaftler zu wenig berücksichtigt hatte und befürchtete einen möglichen falschen Eindruck, als ob sich christliche Autoren mehr als israelische um die Aufarbeitung der jüdisch-christlichen Geschichte und des Holocaust bemühten. Deshalb fügte sie ab 1972 jedem Rundbrief das Bulletin „Immanuel, Dokumente des heutigen religiösen Denkens und Forschens in Israel“ bei, in dem die bedeutendsten jüdischen Autoren und ihre Deutung des christlich-jüdischen Dialogs noch intensiver und systematischer zu Wort kamen. Diese Veröffentlichungen der „Ökumenisch-Theologischen Forschungsgemeinschaft in Israel“ können heute als eine Primärquelle für die von jüdischen Wissenschaftlern mitgestaltete Geschichte des jüdisch-christlichen Dialogs in Dienst genommen werden.

Der Freiburger Rundbrief ist keine durchgehend spannende Lektüre. Er ist aber eine klare Fundgrube zur Eruierung und Diagnostizierung jüdischen und christlichen Lebens und Leidens während der Nazizeit sowie christlicher und nichtchristlicher Passivität und Hilfeleistung. Gertrud Luckner war eine zielbewußte Arbeiterin und Mahnerin auf diesen Gebieten. Man könnte sie eine Prophetin nennen.

  1. „Der junge Wächter“, zionistische Jugendbewegung, gegr. 1931.
  2. FrRu XXII(1970)27.
  3. FrRu XXXVII/XXXVIII(1985/86)34-48; vgl. auch meinen Artikel: ,,Gertrud Luckner und der bisherige Freiburger Rundbrief, in: FrRu 1(1993/94)1-8. (Anm. d. Red.: Jahrgangszahlen in arabischen Ziffern benennen den FrRu Neue Folge.)
  4. Vgl. Anm. 3, 45-46.
  5. Die beiden Autoren haben dies in ihrem Werk „Die Kirchen und das Judentum“, Paderborn/München, 2. Aufl. 1989 mehrmals bezeugt.
  6. Vgl. den Aufsatz von E. L. Ehrlich, Fortschritte im christlich-jüdischen Dialog, Theolog. Quartalschrift (180/2000)86-101. Der Autor kommt darin auf die wegweisende Bedeutung des FrRu zu sprechen.
  7. FrRu XXXIV(1982)40-50.
  8. FrRu 7(2000)161-183.
  9. FrRu XVIII(1966)145-146.
  10. B. M. Kempner, Nonnen unter dem Hakenkreuz, Würzburg 1979, 11.
  11. „Martin Luther und die Juden“, FrRu XXXV/XXXVI(1983/84)58-60.
  12. FrRu XXII(1970)21-26.

Jahrgang 7/2000 Seite 266



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