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Gertrud Luckner
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Yehiel Ilsar

Erinnerungen an Gertrud Luckner

Ich erinnere mich nicht mehr an die Umstände noch an das genaue Datum des Beginns meiner Bekanntschaft mit Gertrud Luckner, die zu einer etwa vierzigjährigen innigen Freundschaft führte. Gertrud Luckner war, zusammen mit Pfarrer Hermann Maas aus Heidelberg und Erich Lüth aus Hamburg, eine der drei ersten Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein Einreisevisum nach Israel erhielten und die ich, in meiner Eigenschaft als Leiter der Deutschen Abteilung im Außenministerium des Staates Israel, kennenlernte. Während ihrer ersten Besuche in Israel war Frau Luckner wahrscheinlich bemüht, Menschen, Überlebende der Schoa, einstige Freiburger, zu deren Rettung sie irgendwie beigetragen hatte, ausfindig zu machen und wiederzusehen.

Im Jahre 1958 — ich war auf meiner neuen Mission als Generalkonsul in der Schweiz — erhielt ich eines Tages einen Anruf von Dr. Luckner aus Freiburg. Sie müsse mich dringend in einer sehr persönlichen Angelegenheit sprechen. Am nächsten läg war sie schon in Zürich. Sie erzähte mir, daß die Wiedergutmachungsbehörde in Deutschland ein Gutachten über ihren Gesundheitszustand verlange, um eine entsprechende Wiedergutmachung für die ihr zugefügten Leiden und der dadurch verursachten körperlichen Schäden bestimmen zu können. Auf keinen Fall sei sie aber gewillt, sich von einem deutschen Arzt untersuchen zu lassen. Ich möchte ihr einen zuverlässigen und verantwortlichen Schweizer Arzt empfehlen, dem sie sich anvertrauen könnte. Dies geschah zu ihrer und der deutschen Behörde Zufriedenheit.

Später, ich war inzwischen Botschafter auf den Philippinen, schrieb sie mir am 28.11.1960 nach Manila:

„Die Verteilung und die angesammelten Stöße von Arbeit haben mich noch nicht wieder nach Zürich gelangen lassen. Doch werde ich Herrn Dr. Labhard wohl wieder aufsuchen müssen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß ich dort Zugang habe. Aber es wird wohl erst 1961 gelingen.“

Im selben Brief schreibt sie noch, was sich dem Sinne nach Jahre hindurch in ihren Briefen häufig wiederholt:

„Ich war im Juni-Juli in Israel, glücklich wie immer ... Auf meiner Rückreise war ich wieder etwa eine Woche in Rom und konnte — wie ich hoffe — meine Erfahrungen fruchtbar auswerten für Israel.“

Rom war für sie der Vatikan, und dieser war für sie personifiziert in Kardinal Bea. Mit ihm war sie befreundet, ihm vertraute sie, ihm teilte sie ihre Gedanken über Israel und ihre Erfahrungen in Israel mit. Sie war ganz und gar davon überzeugt, daß der Inhalt ihrer Gespräche mit dem Kardinal zum Papst gelange. Nach dem Tod von Kardinal Bea am 16. November 1968 hörten ihre Besuche in Rom beinahe gänzlich auf.

Auf einer undatierten Ansichtskarte, welche Reste der ausgegrabenen Synagoge Ostias zeigt, schrieb Frau Luckner aus Rom:

„Über mein Büro erhielt ich einen guten Brief, der beklagt, daß der Hl. Vater nicht genügend für Israel interessiert sei und täte — ein guter Brief auch für Kardinal Bea, der mir sagte, angeblich beklage man sich in Deutschland, daß der Hl. Vater zuviel für Israel tue — und Kardinal Bea fügte hinzu: das ist offenbar Propaganda deutscher Nazis ...“

Israel war für Frau Luckner ein echtes Anliegen, das sie völlig ergriffen hatte. Sie sah in Israel nicht nur einen Staat, sondern — wenn ich ihre Haltung richtig interpretiere — die Erfüllung der Verheißung Gottes an Sein Volk Israel, es aus allen Teilen der Welt zu sammeln und in seine alte Heimat zurückzuführen, damit das heimat- und staatenlose Volk nach zweitausend Jahren seinen alten Boden endlich wieder unter seinen Füßen fühlt, belebt und befruchtet und seinen unabhängigen Staat gründet. Israel ist das ewige Volk Gottes, das mit Seiner Vor- und Fürsorge in das Land Israel zurückgeführt wird, die alte Heimstätte erneuert und — zur Verwunderung der Welt — sich dadurch verjüngt und wieder schöpferisch ist.

Gertrud Luckners höchstpersönlicher Einsatz für die Erleichterung der Situation der Juden unter der Naziherrschaft, ihre stete Ausschau für einen möglichen Schlupfwinkel zum Überleben der Juden, waren ihr eine christlich-religiöse Notwendigkeit, ein ihr persönlich gewordener Auftrag. Dieses Bestreben verstand sie nicht nur als echte christliche Nächstenliebe, sondern, wie mir scheint, als selbstverständlichen Einsatz für das Wort Gottes, welches ewiglich das Sein Seines Volkes betrifft.

Hierin kann vielleicht die Erklärung gesehen werden, daß Frau Dr. Luckner, obschon sie wußte, daß sie unter ständiger Beobachtung von Nazischergen stand und ihre Verhaftung seitens der Gestapo täglich erfolgen konnte, ihre Aktivität für die Juden unentwegt fortsetzte. Anscheinend ist ihr nie der Gedanke gekommen, ihre Rettungsarbeit für Juden einzustellen oder Erzbischof Gröber von Freiburg zu veranlassen, ihre Tätigkeit, wenn auch nur zeitweilig, einem anderen zu übertragen. Die Hilfe für Juden war ihre Aufgabe, die sie unter allen Umständen durchführen mußte als christlichen Dienst an Gott. Das gab ihr die Stärke und erfüllte sie vielleicht mit dem Glauben: ihr kann in diesem Dienst Gottes nichts geschehen.

Kaum war sie von der zweijährigen Hölle des Konzentrationslagers befreit, hat sie die Arbeit für das jüdische Volk wieder aufgenommen. Diesmal ging es darum, im deutschen Volk das Verständnis des Wortes Gottes bezüglich der Juden zu wecken, dem Antisemitismus mutig entgegenzutreten, seine sündhaften Folgen anzuprangern und eine neue, biblisch fundierte Basis zu schaffen, auf welcher Christen und Juden zueinander finden können. Das führte sie zur Gründung der „Freiburger Rundbriefe“, die sie über ihr Leben hinaus begleiten.

Es darf wohl rechtens gesagt werden, daß die Publikation der alljährlichen „Freiburger Rundbriefe“ jedes Jahr finanziell neu in Frage gestellt war und die Sorge um die Beschaffung der notwendigen Gelder Frau Dr. Luckner fast täglich begleitete. Der Freiburger Rundbrief, vom ersten Heft, das August 1948 erschien, bis zum letzten Heft (XXXVII/XXXVIII), das 1987 noch unter ihrem Namen publiziert wurde, sowie die neue Auflage des „Freiburger Rundbrief Neue Folge“, die seit 1993/94 vierteljährlich unter der Hauptschriftleitung von Prof. Dr. Clemens Thoma erscheint, verdankt sein Bestehen und seine Wirkung der aufopfernden Hingabe von Gertrud Luckner. Er wurde ihr Sein und ihr Denken. Ihr Wohn- und Arbeitszimmer war überlagert mit Material für bereits publizierte oder sich in der Vorbereitung befindende „Freiburger Rundbriefe“. Es war schwierig, das Wohn/Arbeitszimmer zu betreten, denn wo man stand oder saß, überall stand oder saß man auf Stößen von Briefen, Zeitungen oder Büchern, die irgendwie mit dem „Freiburger Rundbrief“ zu tun hatten. Sie selbst saß tagsüber und einen Großteil der Nacht unbequem, umgeben von Massen von Material, bearbeitete und korrigierte. Das Lesen machte ihr schon große Schwierigkeiten. Sie mußte eine Lupe zu Hilfe nehmen. Auszüge aus einem Brief vom 10.09.1984 reflektieren Gertrud Luckners Alltag und ihre hektische Lebensweise:

„Zwar erlauben mir die neuen Augenlinsen, wieder zu reisen und überhaupt den Rundbrief weiterzuarbeiten, aber ein schnelles Wechseln der Lesebrille und nur die kurze beschränkte Distanz ist — da ich auch am Nebentisch Material einsehen muß — mit ständigem Schwindel verbunden und verlangsamt natürlich das Arbeiten. Insofern sind die Nächte bis zum Rande auch gefüllt. Dennoch bin ich außerordentlich dankbar, daß doch seit März dieses Jahres das Arbeiten anders aussieht als 1983 bis März 1984.

Ich werde etwa 19. oder 20. Oktober bis 23. Oktober vermutlich in Berlin sein zu einer dringenden Sitzung am 22., könnte vielleicht auch noch 23., dort verbringen. Die Sitzung hängt auch mit dem Heim in Nahariya zusammen (Wiedergutmachung). Ich selbst bin Hals über Kopf eingeladen nach Washington zu einer internationalen Arbeitstagung des United States Holocaust Memorial Council (vom 17.-19. September) für Retter von Juden und Geretteten (Faith in Humankind – Rescuers of Jews during the Holocaust). Aus Israel wird auch Gideon Hausner dort sein. Ich fliege am Samstag, dem 15. nach Washington, und dies obwohl die Rundbriefarbeit jetzt außerordentlich eilt, und wir mit dem in Vorbereitung befindlichen Doppelheft der Jahresfolgen 1983-84 im Spätherbst herauskommen sollten, es wohl aber kaum mehr schaffen. Durch den großen Gesamtregisterband ist die letzterschienene Folge 1982. Wir sind also im Rückstand.

Völlig ausnahmsweise suche ich ein Manuskript, und zwar das Ihrige: Max P Birnbaum: Staat und Synagoge 1918-1938. Tübingen 1981. J. C. B. Mohr.1 In dieser Zeit, als Ihr Brief ankam, habe ich kaum lesen können und deswegen auch eine große Buch- und Aktenumorganisation in meinem Zimmer unternommen. Haben Sie vielleicht noch ein Duplikat? Es tut mir sehr leid, Ihnen diese Mühe zu machen, und ich weiß, daß ich mich über Ihre Besprechung sehr gefreut hatte.

Ich muß versuchen, fertig zu werden, damit ich Samstag früh 15.9. nach Washington fliege. Die Reise d. h. die Fahrt hat das Auswärtige Amt organisiert, in U.S.A. sorgen auch die deutschen Botschaften für uns. Außenminister Schultz wird am Sonntag abend die Tagung eröffnen. Teilnehmer auch Pädagogen aus U.S.A. — Elie Wiesel präsidiert. Wenn möglich, möchte ich nach Weihnachten oder gegen Frühjahr nach Israel kommen — meine Wirbelsäule bräuchte dringend Bäder im Toten Meer! ...“

Gertrud Luckner, Benjamin Amnon und Dr. Herbert Rosenkranz, in Yad Vashem am 5. Juni 1969. Foto: ADCV

Nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 kam Frau Dr. Luckner mit der ersten möglichen Flugverbindung nach Israel.2 Der große Sieg Israels schien sie weder zu erfreuen noch zu interessieren. Sie wollte hauptsächlich Jerusalem innerhalb der Mauern sehen und dort Verantwortliche der Kirchen besuchen und sprechen. Sie stellte ihnen viele Fragen zum Schicksal der arabischen Bevölkerung während der Kriegstage. Ich bekam das unangenehme Gefühl, daß Frau Luckner diesen Angriffskrieg Israels, der die Vernichtungsgefahr Israels bannte, mißbilligte. Sie äußerte sich nicht darüber, sondern war ausschließlich daran interessiert zu erfahren, wie es den Arabern ergangen war. Möglicherweise berichtete sie über ihre Eindrücke wie gewöhnlich in Rom.

Nach dem Yom-Kippur-Krieg dagegen kam sie sofort nach Israel mit der Frage: wo und woran fehlt es in Israel? Ihr wurde schnell klar, daß Israel der Rehabilitation der großen Anzahl von schwer verwundeten Soldaten nicht gewachsen war. Israel brauchte dringend ein großes, modern eingerichtetes Rehabilitationszentrum. Israel sah sich in der Nachkriegssituation nicht in der Lage, ein solches zu ermöglichen. Frau Luckner hatte die Idee, für diesen gänzlich humanen und unpolitischen Zweck könnte und sollte die Caritas Internationalis — wie bereits in Nord- und Südvietnam — Hilfe leisten. Nach überzeugenden Gesprächen und Verhandlungen mit dem Caritas Internationalis konnte sie der Israel Medical Association mitteilen, daß ein größerer Betrag für die Erstellung des physiotherapeutischen Pavillons und der medizinischen Station auf dem Carmel sichergestellt worden ist. Die Durchführung des Planes zeigte sich schwierig und mußte wegen ungeklärter Eigentumsverhältnisse immer wieder hinausgeschoben werden. Erst am 24.1.1977 konnte im Beisein von Dr. Luckner der Grundstein gelegt werden.3 Es ist das bedeutendste und modernste Rehabilitationszentrum Israels geworden und verdankt sein Erstehen zweifellos der Initiative von Gertrud Luckner und der finanziellen Hilfe des Caritasverbandes, damals unter der Leitung von Dr. Georg Hüssler.

Der Einsatz Gertrud Luckners zur Rettung von Juden in Deutschland in der Verfolgungszeit, ihre Arbeit für die Verständigung zwischen Juden und Christen und zwischen Deutschen und Juden, ihr Wirken für und in Israel sind in der Welt und vom iüdischen Volk nicht unbeachtet geblieben.

Sie ist bewundert, umworben und mit Ehrungen ausgezeichnet worden. Sie gehört zu den ersten Deutschen, deren Namen in die Liste Yad Vashems, der „Gerechten der Völker“, eingetragen wurde.4

Ihr ist ein Baum in der „Allee der Gerechten“ gepflanzt worden. Die Juden in Deutschland ließen zu ihrem 60. Geburtstag einen Hain von 1000 Bäumen in Migdal Ha‘Emek durch den Jüdischen Nationalfonds Keren Kayemeth Leisrael anlegen. 1986 wurde der Hain im Beisein von Gertrud Luckner nach ihr benannt.5

Ich möchte mit ein paar Zeilen schließen, die mir Frau Luckner auf einer undatierten Kunstkarte (der ,Blaue Esel‘ von Chagall) sandte und ihre Offenheit reflektieren:

„In Köln, zwischen zwei Zügen, war ich in der Chagall-Ausstellung, die bis Ende Oktober dort geht. Es ist eine breite Auswahl und gelungene Ausstellung dieser tief bewegenden Kunst. Offenbar ist erfreuliches Interesse — auch Oberklassen von Schulen waren dort.“

  1. Vgl. die wiedergefundene Rezension in: FrRu XXXV/XXXVI(1983)141-142.
  2. Am 19. Juni 1967, vgl. FrRu XIV(1967)189-190.
  3. Das ursprüngliche Gebäude war 1937 als Mädchengymnasium von der anglikanischen St. Luke‘s Church (Portsmouth) gegründet worden. Seit 1950 war es ein Erholungsheim für Soldaten.
    In FrRu XXVIII(1976)138-139 bemerkt Gertrud Luckner: „Auf den mir ausgesprochenen Dank möchte ich erwidern, daß ich zu danken habe, überhaupt und für die mir in diesen Ta-gen überreich zuteil gewordene Güte. Möge das Haus gut heranwachsen und eine gesegnete Stätte des Heilens werden.“
  4. Akte Nr. 0280 (Auskunft der Pressestelle der Botschaft des Staates Israel in Berlin).
  5. Die Urkunde trägt die Inschrift: „1000 Bäume in Israel im Migdal Ha‘Emek Wald bei Nazaret auf den Namen von Frau Dr. Gertrud Luckner, Freiburg/Br., der Helferin der verfolgten jüdischen Menschen und Freundin Israels, gepflanzt in Dankbarkeit von Freunden und Verehrern“, vgl. FrRu XIII(1960/61)128.

Dr. Yehiel Ilsar, Jerusalem, ist in Dortmund geboren (1912) und aufgewachsen. 1944-1948 war er Beamter der Jewish Agency and Sekretär von Golda Meir, seit 1948 Beamter des Außenministeriums des Staates Israel. Er leitete u. a. das Ressort für kirchliche Angelegenheiten des Außenministeriums und gründete und leitete die Abteilung für Geschichte. Als Konsul vertrat er den Staat Israel in Rom und Zürich und später als Botschafter auf den Philippinen, in Thailand, Laos, Ceylon, Panama und Haiti.


Jahrgang 7/2000 Seite 260



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