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Gertrud Luckner
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Elizabeth Petuchowski

Gertrud Luckner: Widerstand und Hilfe

Auf Einladung des Institute of Judaeo-Christian Studies an der Seton Hall University hielt Dr. Elizabeth Petuchowski am 18.Okt. 1998 ein Referat über Gertrud Luckner. Vor genau zehn Jahren hatte ihr Gatte, Rabbiner Prof. Dr. Jakob J. Petuchowski s. A., am selben Institut das erste in einer Reihe von Referaten zu Ehren von Johannes M. Oesterreicher gehalten. E. Petuchowski beruft sich in ihrem Referat auf bereits publiziertes Material sowie auf Auskünfte und Abschnitte aus einem Interview, das sie im Sommer 1983 mit Gertrud Luckner in Freiburg geführt hat.
Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht unter dem Titel „Gertrud Luckner: Resistance und Assistance. A German Woman who Defied Nazis and Aided Jews“, in: Teschuva, Institute Papers, Ministers of Compassion During the Nazi Period. The Institute of Judaeo-Christian Studies, Seton Hall University, New Jersey (1999)5-21.

I. Die Leistungen von Gertrud Luckner

Vor zehn Jahren sprach mein Mann hier von Johannes Oesterreicher als einem Meisterarchitekten des modernen christlich-jüdischen Dialogs.1 Dasselbe gilt von Gertrud Luckner.2 Sie selbst hatte diese Meinung von sich — freilich nicht in einer selbstgefälligen, sich brüstenden Weise, sondern in ihrer bezeichnend liebenswürdigen Art, aufrichtig, als wolle sie sagen: „Sehen Sie, das ergibt sich ganz natürlich und einfach, wenn Menschen einander helfen.3

Die Persönlichkeit eines Menschen kurz darzustellen ist ein gewagtes Unternehmen angesichts der widerstreitenden Charakterzüge eines jeden von uns. Ich möchte daher nur ein Portrait skizzieren von einer Frau, die mich beeindruckte, weil sie den geistigen und physischen Mut zum heldenhaften Widerstand besaß.4 Wer mit Gertrud Luckners Namen vertraut ist, kennt sie als Begründerin und in der Folge als Herausgeberin und Mitherausgeberin des „Freiburger Rundbriefs“, einer Zeitschrift, die „der Förderung der Freundschaft zwischen dem Alten und dem Neuen Gottesvolk — im Geiste beider Testamente“ dienen soll.5 Es steht außer Zweifel, daß die Zeitschrift sich als Fundort von selten erreichbaren Informationen für die Forschung erweist, die sich mit der deutschen Geschichte und mit den christlich-jüdischen Beziehungen befaßt.6

Gertrud Luckner erhielt zahlreiche herausragende Ehrungen, darunter die Buber-Rosenzweig-Medaille (1980)7 und den Sir-Sigmund-Sternberg-Preis (1987).8

Gertrud Luckner mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern und Band, Okt. 1980. Foto: Manfred Richter, Freiburg (ADCV)

Die deutsche Bundesregierung verlieh ihr das Große Verdienstkreuz mit Stern und Band.9 Sie war Ehrenbürgerin der Stadt Freiburg/Br.10 und die erste deutsche Frau, die offiziell vom Staat Israel eingeladen wurde.11 Zu Ehren ihres 60. Geburtstags wurden in einem Wald bei Nazaret tausend Bäume gepflanzt.12 Ihre Gedenktafel findet sich in der Allee der Gerechten unter den Völkern (Jerusalem, 1966). In Nahariya trägt ein Altenwohnheim für christliche Frauen, die auf Grund der Nürnberger Gesetze verfolgt wurden, ihren Namen.13 In den U.S.A. verlieh ihr das Hebrew Union College - Jewish Institute of Religion die Ehrendoktorwürde (Juni 1977).14 Diese Höhepunkte an Ehrungen erscheinen jedoch wie hilflose Lichter, die einer unabhängig strahlend-hellen Lichtquelle hinzugefügt sind. Sie sollen auf eine Frau verweisen, die während der Nazizeit in Deutschland durch viele Jahre hindurch mit einer unübertroffenen Tapferkeit erfolgreich wirkte.

Es mangelt nicht an Büchern und Beiträgen, die die zwölf Jahre der Naziherrschaft und die Jahre, die dazu führten, beschreiben und interpretieren. Europäische Juden wurden bis zum Tod verfolgt, und jeder, der sich der Naziideologie widersetzte, riskierte sein Leben. Die Gefühle von Furcht und Schrecken, die Hitler in der deutschen Bevölkerung verbreiten konnte, sind überzeugend in schmerzlichen Sätzen festgehalten, die der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber in einem Hirtenbrief kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb: „Die uns gegenüberstehende Macht war so groß, daß wir, zumal Christen und Katholiken, an eine Revolution nicht denken konnten ..., weil jeder Widerstand an der rücksichtslosen, durch keine Gewissensbedenken gehinderten Gewalt zerbrach.“15

Dieses bewegende Eingeständnis eines Erzbischofs erklärt die Haltung der meisten Deutschen. Gertrud Luckner ihrerseits arbeitete viele Jahre hindurch allein — mit nur einem Fuß in der Tür des Caritasverbands, der unter der Oberaufsicht des Erzbischofs von Freiburg stand — und unterstützt von persönlichen Freunden.16 Sie war unbelastet von diplomatischen Erwägungen und möglichen Konsequenzen für die Kirche oder für die Caritas-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Ihr beträchtlich abweichendes Verhalten rührte aus einer Quelle, die sie niemals diskutierte. Welches Verständnis auch immer wir von jemandem haben, der sein oder die ihr Leben ohne Rücksicht auf persönliche Sicherheit der Hilfe anderer weiht, es wird kaum deckungsgleich sein mit dem Leben von Gertrud Luckner. Noch weniger paßt zu Gertrud Luckner der Mantel einer Heiligen, obwohl sie wegen ihrer guten Taten unsägliche Qualen erlitt: neun Wochen folterartige Verhöre durch die Gestapo und danach das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück in Mecklenburg.“17

Gertrud Luckners Erleben spielte sich in der praktischen Erfahrung ab. Sie enthielt sich abstrakter Gedanken, weshalb die Arbeit, die sie unter Lebensgefahr tat, überhaupt, oder speziell von ihr, getan werden mußte. Aktiv, weltoffen und sprachgewandt wie sie war, verschwieg sie dennoch so manches, so auch ihre Lebensgeschichte. Es gibt das geheimnisvoll Unbekannte in ihrer Biographie, und es liegt ein Schweigen über ihren innersten Beweggründen.

II. Eine biographische Skizze

Gertrud Luckner wurde im Jahr 1900 als Kind deutscher Eltern im englischen Liverpool geboren. Im Alter von sechs Jahren kam sie nach Deutschland. Ein Detail, auf das Gertrud Luckner selbst hinwies, war, daß sie in der Zeit des Ersten Weltkriegs (1914-18) keinen regulären Schulunterricht erhielt. Sie berichtete auch, daß sie sich schon während ihrer Schul- und Studienzeit im ostpreußischen Königsberg und auch später, als sie in einem Studienzentrum der Quäker in Birmingham Kurse besuchte, in der Sozialarbeit engagierte.18

Zu den bemerkenswerten Tatsachen, die Frau Luckner auch mir aus ihrer Jugendzeit mitteilte, gehört, daß sie sich schon immer für Selbsthilfe in der Sozialarbeit interessierte, unter anderem auch für eine improvisierte Selbsthilfe der Arbeitslosen in England.19 Sie war besonders angetan von der Einrichtung von Clubs für Arbeitslose in Südwales: Freiwillige, die sich zur gegenseitigen Hilfe zusammenschlossen. Während ihrer Ferien arbeitete Gertrud Luckner in den Slums von Birmingham in der Hospitalfürsorge. Bei dieser Arbeit erfuhr sie, wie sie erzählte, was Vorurteile sind.20 Rassismus und Antisemitismus waren ihr schon immer zutiefst widerlich gewesen.

Gertrud Luckner hat auch immer wieder auf den Auslöser ihrer Aktivitäten zugunsten der Juden hingewiesen. 1931, als sie von England zurückkehrte, war sie erschüttert über das Nazi-Vokabular der Studentinnen in Freiburg. Sie fühlte sich zu dieser Stadt hingezogen, weil sie an der Universität an ihrer Dissertation arbeiten wollte und weil sie den Kontakt mit dem Caritasverband suchte.21

Ein weiterer Grund war, daß auch unter dem Caritas-Personal einige die gleiche international ausgerichtete Einstellung hatten.22 Gertrud Luckner entwickelte eine Vorliebe für Freiburg wegen seiner weltoffenen und toleranten Bürgerschaft.23 Im Dezember 1938, zwei Wochen nach der „Kristallnacht“, wurde für Frl. Luckner (wie es damals hieß) eine halb-offizielle Stelle im Caritasverband eingerichtet.24 Nach Ausbruch des Krieges übernahm sie die Arbeit der „Kirchlichen Kriegshilfestelle“. Die Caritas unterstützte alle Hilfsbedürftigen ohne Ansehen ihrer Religionszugehörigkeit.

Gertrud Luckner trug immer ein Schreiben des Erzbischofs bei sich, das bestätigte: „Frl. Doktor Gertrud Luckner ist von uns mit der Durchführung notwendiger Aufgaben der außerordentlichen Seelsorge betraut.“25 Sie brachte es fertig, diesen Brief sogar im Konzentrationslager bei sich zu behalten, indem sie ihn in ihren Schuhen versteckte.

Damals, im Jahr 1931, fühlte sich Gertrud Luckner noch fremd in der Stadt Freiburg, doch die Anzeichen eines erstarkenden Nazismus überraschten sie nicht. Sie war schon während der zwanziger Jahre auf gefährliche Entwicklungen aufmerksam geworden. Einige dieser Anzeichen waren plump, laut und unverhohlen, sichtbar für jedermann. Gertrud Luckner schätzte ihre Bedeutung korrekt ein, darunter die antisemitischen Slogans der zwanziger Jahre und das Absingen des Horst-Wessel-Liedes.26 Noch im Rückblick darauf kam ihr das Grauen:

„Dieser Schritt! Wenn die durch die Straßen marschierten, das war doch furchtbar. Dieses Gebrüll von dem Führer! Diese angebliche Volksgemeinschaft. Der deutsche Blick! Das Mißtrauen. Der Blockwart! So ging es doch los!“

Einmal führte Gertrud Luckner englische Touristen auf den Freiburger Schloßberg, wo die Hitlerjugend, Jungen und Mädchen, in Formation marschierten. Sie sagte zu ihren Gästen: „Guckt euch das an! Das ist der nächste Krieg, so was weiß ich.“

Gertrud Luckner war Mitglied des 1919 gegründeten Friedensbunds deutscher Katholiken. Sie war sehr beeindruckt von Luigi Sturzo (1871-1959), einem katholischen Priester und Politiker,27 den sie 1927 „in einem überfüllten Auditorium der Universität von Birmingham“ gehört hatte.28 Sensibilisiert durch die Friedensbewegung deutete sie die Reaktionen der Öffentlichkeit auf Hitlers Propaganda vorab als Ausbruch eines Krieges. Ihre politische Sicht trug zu dieser außerordentlichen Früherkennung der politischen und internationalen Gefahr bei. Als ich nachfragte:

„War Ihr Ausgangspunkt also hauptsächlich politischer Natur?“, antwortete sie: „Ja, vorn Politischen, Internationalen, aber auch aus dem Religiösen ist es ausgegangen. Die Ökumene hat mich interessiert.29 Die Quäker kenne ich natürlich gut, die Quäker überall, in England und hier. Die sind international. Durch die hatte ich dann nachher auch Adressen ... Und mit den evangelischen Leuten lag ich auf einmal in einem Bett in Ravensbrück. Wir kennen uns ja alle irgendwie.“30

Es ist der praktische Nutzen, auf den sich Gertrud Luckner schon als Studentin und junge Frau stets konzentrierte. Für sie war Politik nicht Parteipolitik, internationale Kontakte bedeuteten nicht Außenpolitik, Religion war nicht auf eine Konfession begrenzt. Religion war Ökumene. Zu der Zeit, auf die sie (im Gespräch) zurückblickte, war Ökumene noch nicht ein Programm der Kirchenleitung. Für sie war Ökumene eine lebendige Art, auf andere zuzugehen, „von Mensch zu Mensch“, wie Luckners Lieblingsausdruck lautete, mit dem sie „Wunder“ wirkte.

Gertrud Luckners religiöser Glaube muß so tief in ihr verwurzelt gewesen sein, daß dies keiner besonderen Erwähnung bedurfte in Anbetracht dessen, wieviel Praktisches sonst ihr Augenmerk beschäftigte. Oft wurde sie gefragt, warum sie dies alles tat, was sie getan hat, und dabei ihr Leben aufs Spiel setzte. Und nahezu erstaunt antwortete sie jedesmal: „Das war doch klar“ oder „Das war mir doch selbstverständlich.“ Als ich sie fragte, ob es ihre religiöse Überzeugung gewesen sei, sich derart einzusetzen, stimmte sie mit einem Wort zu: „Wahrscheinlich.“ Als ich weiter fragte, ob vielleicht ihre eigene Identifizierung mit dem Leid ihr die Kraft gegeben hätte, verneinte sie: „Nein. Identifizierung wird dem auch nicht gerecht. Es ist eher ...“, sie rang nach Worten, fand sie aber nicht und sprach weiter:

„Wenn ich mich an diesen Tag erinnere, an dieses Verhör im Zug und (an) diese Tür der Zelle, die hinter mir zuschlug, da wußte ich genau, daß die nichts Gutes mit mir vorhaben ... Ich versuchte, mir klar zu werden — das war eine Sekunde, wie steht die Situation? Ich dachte, ja also. Du hast sie immer zu trösten. Und das einzige, was du tun kannst, ist, den Weg mit ihnen zu gehen. Das ist selbstverständlich gedacht. Das Ganze war ja so schlimm gewesen — die Deportation von Stadt zu Stadt —, daß es gar nicht mehr so wichtig war, was mit mir war.“

„Würden Sie das als Fatalismus beschreiben?“, fragte ich. „Nein“, sagte sie ohne Zögern und setzte langsam hinzu:

„Ich war vollkommen einverstanden mit dem Geschick, was mich da getroffen hat. Fand das ganz in Ordnung und fand, daß das einzige, was noch zu tun war, eben diesen Weg zu gehen, da ich nicht mehr helfen konnte. Das war mir ja klar. Das hat mir auch immer geholfen.“

Die Schlichtheit dieser Feststellung finde ich überwältigend, besonders wenn man bedenkt, was sie erwartungsgemäß hätte sagen können. Ihr Bewußtsein, daß sie im Recht war und daß die Macht, der sie widerstand, im Unrecht war, stattete sie mit dem nötigen Selbstvertrauen aus. Aber gleichzeitig fand sich bei ihr eine Bescheidenheit, die uns allen Respekt abverlangt.

III. Ihre Methoden

Die erstaunlichsten Aktivitäten, die sie unternahm, erschienen nach ihren Worten einfach. Mit dem gleichen originellen Einfallsreichtum kam sie mit dem Irritierenden zu Rande, das ihr bei ihrer Ankunft 1931 in Freiburg auffiel. Sie wandte geradewegs an, was sie über Selbsthilfe in England und Südwales gelernt hatte. Sie machte es sich zur Aufgabe, bei mehreren Schulen in Freiburg anzumelden: „Wir wollen einen kleinen Diskussionszirkel auf englisch machen“, um den praktischen Umgang mit der Sprache zu üben, sozusagen. Sie versorgte Gymnasiasten mit pro- und contra-Nazi-Literatur, und damit brachte sie Diskussionen auf den Weg, nach der Art, wie im Britischen Parlament debattiert wurde. Auf diese Weise regte sie Studenten an, kritisch über politische Zusammenhänge nachzudenken. Alle ihre späteren Berichte über ihre kompromißlosen Aktivitäten vor und während des Krieges nahmen ihren Ausgangspunkt bei „diesem kleinen Diskussionszirkel“, den sie initiiert hatte und von dem sie geradezu liebevoll sprach. Man traf sich hauptsächlich in Privathäusern in Freiburg,31 aber auch gelegentlich im benachbarten Basel. Gertrud Luckner hielt auch den Kontakt mit ihren englischen Freunden aufrecht, unter ihnen ein Arzt und seine Frau aus Leeds, die in der Jugendherbergsbewegung aktiv waren. Sie erzählte, daß Gruppen aus England sie beauftragten, in Jugendherbergen im Schwarzwald für Unterbringung zu sorgen. Und sie nützte diese Besuche, um ihre Gäste mit Leuten aus dem Caritasverband bekannt zu machen, noch ehe sie selbst Angestellte des Caritasverbandes war. Durch diese privaten Kontakte war es ihr später möglich, Einreisegenehmigungen für deutsche jüdische Familien zu besorgen.

In dem übertrieben patriotisch nationalistischen Deutschland der dreißiger Jahre spürte sie die Notwendigkeit für internationale Orientierung und internationale Beziehungen. Für Gertrud Luckner bedeutete dies zwischenmenschliche Beziehungen, ein Thema, das sie unermüdlich betonte. Immer wieder lächelte sie, als sie sagte:

„Und das war hinterher das hoch Interessante: die Gestapo hat das nie verstanden. Die suchten immer eine Institution, die bei mir dahinterstand. Die gab es nicht. Von dieser Hilfe von Mensch zu Mensch heraus habe ich auch die Hilfe von Stadt zu Stadt gemacht. Das war meine Idee. Das ist es. So hat es sich entwickelt.“

Als ich sie fragte: „Würden Sie sagen, daß man als einzelner sich widersetzen kann, wenn man es will?“, antwortete sie:

„Ja. Und noch mehr, was man wissen sollte. Es waren ja auch früher Verfolgungen gewesen. Das bleibt ja leider nicht aus. Es wird leider in Zukunft Verfolgungen geben. Die Hilfe von Mensch zu Mensch ist es, was die Diktatur nicht versteht. Merkwürdigerweise, ... Menschen als Gruppen konnten nichts machen. Dann wären wir alle weg gewesen. Man mußte natürlich versuchen, so lange wie möglich: man mußte es nicht an die große Glocke hängen. Offen protestieren? So etwas ging ja nicht gut. Wir haben‘s trotzdem gemacht. Und Freiburg kam dieser ganzen Sache sehr entgegen, diese Stadt.“

Viele der gelegentlich couragierten Hilfeleistungen von Gertrud Luckner nahmen ihren Ausgang von als nebensächlich betrachteten Vorgängen, was das tägliche Leben der Menschen angeht. Zum Beispiel: Eine Zeitlang waren die Juden, ehe sie in Lager abtransportiert wurden, in größeren Städten tagsüber zur Arbeit in Fabriken gezwungen und durften nur am Abend zurück in ihre Wohnung. Paradoxerweise oder auch böswilligerweise wurde ihnen der Einkauf nur zwischen 16 und 18 Uhr erlaubt. Folglich konnten sie keine Lebensmittel kaufen. Gertrud Luckner organisierte befreundete Frauen, die den Einkauf für diese unglücklichen Leute besorgten. Ähnlich beruhte ihre unermüdliche Reisetätigkeit auf einer privaten Anregung einer persönlichen Freundin, wie Gertrud Luckner selbst berichtete:

„Der Ausgangspunkt war für mich natürlich immer Freiburg ... In Freiburg gab es hinter dem Stadtgarten Villen. Die sind alle weg. Der Stadtgarten ist heute anders. Da war die große Villa einer jüdischen Familie, wo nachher von dort aus alle weggekommen sind. Mit dieser Familie kam ich sehr bald nach meiner Ankunft in Freiburg in Kontakt. Die Frau war Arztwitwe und wohnte mit ihrer 85 Jahre alten Mutter hier. In der Schweiz hatte sie Verwandte. Und weil die alte Mutter von Verwandten nicht abhängig sein wollte, sind sie nicht rausgegangen (emigriert) ... Die hat mich eigentlich auf die Reise geschickt. Als der Krieg ausbrach, dachten die Freiburger — das war sehr komisch —, die Franzosen würden einrücken. Die Stadt Freiburg hat freiwillig evakuiert. Fast alle sind nach München gefahren. Und auch der Deutsche Caritasverband hat sein Material irgendwo in ein Kloster da unten gebracht. Auch wir sind nach München gefahren. Auch die Juden konnten noch nach München fahren. Wie dann die ersten zehn Tage vorbei waren und die Franzosen nicht einrückten, sind alle fröhlich zurückgekommen. Auch die Juden sind zurückgekommen. Und da sagte mir diese Frau: ,Hören Sie mal, Sie helfen uns immer. Viel schlimmer ist es in München. Der Gauleiter, der quält sie. Fahren Sie doch bitte mal nach München und gehen Sie zu Frau Else Rosenfeld, die an der Sozialfürsorge der jüdischen Gemeinde ist, das ist die Straße soundso.‘ Damit bin ich nach München gegangen, und damit hat (mein Reisen) angefangen.“

Bei ihren Reisen quer durch Deutschland und das angeschlossene Österreich beschaffte sich Gertrud Luckner Informationen über die Pläne der Nazis. Nach Kriegsausbruch konnte sie auf Grund ihrer Verbindung zur Caritas Fahrkarten der Reichsbahn bekommen, die den Zivilisten bereits vorenthalten waren. Sie reiste Tag und Nacht. Sie warnte alle, die in Gefahr waren, Juden und Nichtjuden.32 Sie tröstete. Sie brachte verängstigten Familien Nachrichten. Eines ergab das andere. Gertrud Luckner erzählt:

„In München habe ich 1941, im Januar, gehört, daß Juden aus Wien da sind (die Juden aus Wien waren nach München geflohen). Da habe ich unseren Direktor angerufen, den Generalsekretär, und gesagt: ,Meine Tante in Wien ist krank.‘ ,Ach‘, sagte er, ,lassen Sie sich im Caritasverband in München mit Geld versorgen und fahren Sie auf jeden Fall Ihre Tante besuchen‘.“ (G. Luckner und der Generalsekretär verstanden einander in dieser Code-Sprache.)

„Da hat die Evakuierung der 60 000 Juden aus Wien begonnen. Und der Kardinal Innitzer33 hatte einen Hof und hatte eine Baracke und einen Pater. Und dem habe ich gesagt: ,Herr Pater, jetzt müssen Sie sehen. Sie werden keine Pakete mehr schicken können, aber wir werden von Baden aus die Pakete schicken können, denn unsere Juden sind weg, die werden keine Pakete mehr annehmen. Schicken Sie uns die Pakete, und die Pakete werden Adressen kriegen in Polen, aus den Dörfern. Und Sie werden sehen müssen, daß Sie Leute haben, die keinen Schwarzhandel damit treiben ... ‘ So habe ich die Pakete für die Wiener Juden in Freiburg aufgegeben und dahin (nach Polen) geschickt.“

Der Vorschlag einer Freundin erweiterte also beträchtlich den Aktionsradius, in welchem Gertrud Luckner half oder Hilfe vermittelte. Der Gedanke an die zwei jüdischen Frauen weckte bei Gertrud Luckner weitere Erinnerungen:

„Ja, Freiburg. Da kam Gurs.34 Die erste Deportation. Die nach Südfrankreich Oktober 1940. Da sind die beiden Damen aus der Villa losgezogen, mich zu besuchen. Die beiden Damen waren nicht zu Hause (als die Gestapo kam, sie abzuholen). Das ist auch ein Zeichen für Freiburg: die Gestapo ist nicht wiedergekommen ... Und ich habe drei Wochen jede Nacht bei ihnen geschlafen, weil sie Angst hatten — allein in der Villa. Bin abends rein und bin morgens raus.

Dann kamen andere Transporte. Auch nicht weggekommen ... Ich habe für alle was besorgen können. Und zwar: Ja, da saß ein Mann, der strafversetzte Bürgermeister und stellvertretender Polizeipräsident.35 Freiburg! Schön. Der sagte mir: ,Man muß wissen, ist es ein Alterstransport oder ein Arbeitertransport.‘ Wenn es ein Alterstransport war, konnte man noch versuchen, die Leute in Krankenhäuser zu geben. Ich bekam Atteste von den besten Ärzten der Stadt — ich habe das verstreut gemacht, sonst wär‘s aufgefallen. Wenn es ein Arbeitertransport war, mußte man einen Industriellen haben, der sagte: ,Ich kann keine Juden entlassen, ich brauch‘ noch mehr. Ich habe Rüstungsindustrieaufträge gekriegt.“36 Natürlich war das überall verschieden. Es hat auch mal nicht mehr geholfen. Aber wenn man es wußte, hat es geholfen.“

In der Aufzählung von Ereignissen war Gertrud Luckner nahezu unbemerkt von ihrer Geschichte mit den zwei Frauen übergegangen zu einer allgemeinen Aussage über zusätzliche Hilfsmöglichkeiten für bedrohte Juden in anderen deutschen Städten.

Die folgende lebhafte Darstellung, die solche Möglichkeiten der Hilfe beschreibt, geht zurück zu den Anfängen mit Diskussionsgruppen. Gertrud Luckner berichtet, daß ein Freiburger Arzt, Mitglied der Katholischen Friedensbewegung, einmal wöchentlich einer solchen Gruppe sein Wartezimmer unentgeltlich zur Verfügung stellte. Sie fügt hastig hinzu: „Der ist leider bei Stalingrad geblieben. Umgekommen als Arzt. Verfroren.“ Dann fährt sie fort: „Ich hatte da bei ihm mal‘ne Mansarde, da konnten wir arbeiten.“

Das Mansardenzimmer, in dem sie wohnte,37 war gleichzeitig der Treffpunkt der Gruppe. Das Entscheidende ist, daß Gertrud Luckner realistische Möglichkeiten fand inmitten von Bedingungen, wo Menschen ihren Nachbarn nicht trauen konnten, und wo ein sicherer Platz für geheime Tätigkeiten von überlebenswichtiger Bedeutung war.

Gertrud Luckner rundet das Bild ab:

„Da war ein jüdisches Geschwisterpaar dabei, mit denen stehe ich heute noch in Verbindung. Das waren hier Geschäftsleute von dem Kaufhaus ... Die schrieben mir dann noch, wie ihnen das Englisch geholfen hätte.“

So drückte sie sich aus. Es waren keine theoretischen Überlegungen, keine politischen oder religiösen Gedanken.

„Ich habe eigentlich immer allein gearbeitet“, bilanziert sie regelmäßig. „Man war im Grunde auf sich selbst gestellt. Aber es hat eine Menge Menschen gegeben, die halfen. Ohne die hätte ich es ja auch nicht gekonnt. Es gab gutwillige Leute, die doch eine ganze Menge taten. Menschen, die auch mal hinfuhren und den Leuten was brachten, was man selber nicht mehr konnte.

Ich habe eben vor 1932 mit diesem kleinen Club angefangen, um Wege zu suchen, um Leute also aufzuklären ... und sie wissen zu lassen, daß es da Wege gab ... Und da hat man einfach weitergemacht, und ich bin einfach auf die Insel geraten. Das hat sich von allein so ergeben. Das habe ich aber nicht gewußt. Wenn man so etwas anfängt, kommt man da rein, ohne daß man es überhaupt merkt. Ich bin auf die Insel geraten und bin da eigentlich immer noch“,

sagte Gertrud Luckner noch 1983 zu mir.

1933, nach Hitlers Machtantritt, kamen Juden, die Gertrud Luckner nicht einmal kannte — Freunde des jüdischen Geschwisterpaares, das zum Club gehörte —, zu ihr in das Mansardenzimmer und fragten: „Was sollen wir machen?“ Sie sagte ihnen: „Raus aus diesem Land.“ Und als sie fragten: wie?“, sagte sie: „Ach Gott, ich fahr mal nach Basel und schreib mal Briefe.“ Als ihre Post wegen ihrer Zugehörigkeit zur Friedensbewegung überwacht wurde,38 schrieb sie im Wohnzimmer ihrer schweizerischen Freunde in Basel Briefe an englische und amerikanische Freunde, und die Empfänger schickten eine harmlose Postkarte, um anzuzeigen, daß der Brief angekommen war. Viele deutsche Bürgerinnen und Bürger hatten keine Ahnung von dem, was mit ihren jüdischen Nachbarn geschah, daß sie nach und nach ihrer Rechte beraubt wurden, ihren Lebensunterhalt, ihre Häuser und allen Besitz verloren, bis sie schließlich in Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht wurden. Die meisten nichtjüdischen Deutschen sagten später, sie hätten von diesen Vorgängen nichts gewußt.39 Gertrud Luckner wußte davon.

IV Ihr wacher Verstand

Eine der Eigenschaften von Gertrud Luckner, die selten herausgestellt wird, muß hier genannt werden. Sicherlich ist es angebracht, ihre Tapferkeit und ihre Bescheidenheit hervorzuheben, ihre Intelligenz hingegen wird selten besonders gewürdigt; sie verdient aber eine Beachtung, die ihr bisher nicht geschenkt wurde. Frau Luckners Einblick in die Konsequenzen bestimmter Ideologien war vielleicht ungewöhnlich; ihre Vertrautheit mit den Tagesereignissen und deren Bedeutung hätte einem scharfsinnigen Journalisten alle Ehre gemacht. Die Art, wie sie sofort reagierte, war vielleicht einzigartig und in höchstem Grad ethisch. Ohne oberflächlich über etwas hinwegzugehen, machte sie ihre Arbeit; sie war vollständig informiert über jenes Deutschland, in dem sie lebte:

„Was man flüsterte, wußte ich ... Ich wollte ja wissen. Die andern wollten ja alle nicht wissen.“

Bis zum Ausbruch des Krieges am 1. September 1939 las sie im Lesesaal der Universität Freiburg The Times. Dann war es nicht mehr möglich. Für die Erstellung ihrer Dissertation „Die Selbsthilfe der Arbeitslosen in England und Wales auf Grund der englischen Wirtschafts- und Ideengeschichte“ waren englische Zeitungen die Hauptquelle. So ging sie jeden Mittwoch und Samstag in den Leseraum der Universität und holte sich die ausländischen Zeitungen als ,Abfallpapier‘.

„Wenn man etwas für England die Meinung färbte, dann wußte man, was los war. Ich brauchte keinen Völkischen Beobachter! Bis zum Ausbruch des Krieges habe ich mir mit ,Grüß Gott‘ in der Universitätsbibliothek die Times geholt, nachdem sie gelesen war ... Vielleicht hätten sie es jemandem mit ,Heil Hitler‘ nicht gegeben. Das müßte ich beinahe annehmen.“40

Gertrud Luckners genaue und spezifische Kenntnis darüber, welche Hilfe benötigt wurde und welche Hilfe möglich war, machte ihr Handeln so erfolgreich. Veränderungen bemerkte sie sofort. Sie wußte, unterschiedlich von Ort zu Ort, wann Lebensmittelpakete oder Kleiderpakete zu schicken waren oder ob Geld geschickt werden konnte.41

Einmal verpackten sie und ihre Freunde Schuhpaare getrennt, um die Wahrscheinlichkeit des Diebstahls zu verringern. Gertrud Luckner nahm es auf sich, Mittel aus dem Hilfsfonds des Erzbischofs für jüdische Gemeinden und einzelne Familien persönlich zu überbringen.

Obwohl sie ihre Bemühungen auf scheinbare Kleinigkeiten konzentrierte, begriff sie doch gleichzeitig sehr genau die Vorgänge auf der ganzen Szene. Gertrud Luckner wußte, daß die Anordnungen für die Abtransporte stets von außerhalb Freiburgs kamen. Sie war zu jeder Zeit und an jedem Ort genau darüber unterrichtet, wer diese Anordnungen traf. Noch in der Nachkriegszeit suchte sie in den Unterlagen der Nürnberger Prozesse nach weiteren Informationen.42

Einmal fragte ich sie: „Ich könnte mir vorstellen, daß einen Abtransport zu verhindern von größerer Tragweite war, als — zum Beispiel — ein Paket zu schicken.“ „Nein“, entgegnete sie scharf. „Das, was der Augenblick gerade erforderte! Was ich im Augenblick gerade gehört hatte, versuchte ich doch. Ich wußte ja nicht, daß es glücken würde, aber manches ist geglückt.“

Wieviel gerade möglich war entsprechend dieser Auffassung von Gertrud Luckner, zeigt folgender erstaunlicher Vorgang, den sie mit eigenen Worten schilderte:

„Zu den jüdischen Feiertagen war ich auch gerade in Köln. Der letzte Rest. Die lagen, ehe sie wegkamen, in den Kasematten in Müngersdorf. Die waren Jahrzehnte nicht benutzt. Ich sagte zu denen: ,Kommen Sie raus, wir machen einen Spaziergang.‘“

Das setzte voraus, daß sie eine Besuchserlaubnis für die Kasematten erbeten und bekommen hatte, um bei ihren jüdischen Schützlingen zu sein. Daß dies eine gewagte Sache war, hielt sie nicht einmal für erwähnenswert.

„,Das können wir nicht‘, sagten sie. ,Warum nicht?‘, sagte ich zu ihnen: ,Passen Sie auf, kommen Sie mit. Wir laufen herum.‘ Wir gingen den Ring herum, die Hauptstraße hinunter, haben weite Wege gemacht. Uns ist nichts passiert.“

Gegen alle Regeln eines Interviews unterbrach ich sie hier: „Das ist es eben. Vernünftige Leute haben Angst, Sie nicht. Dafür suche ich eine Erklärung!“ Sie entgegnete:

„Nein! Ich wollte die Leute aus ihrer Isolierung rausholen. Die hatten keine Luft. Die sitzen da furchtbar drin, können nicht raus und rein; das ist doch furchtbar gewesen. Und es ist mir nichts passiert. Das hat die Gestapo denn doch nicht gewußt. Die haben ja genug gewußt ... Man mußte es doch versuchen.“

Gertrud Luckners letztes Schicksal, „mit den Opfern zu gehen“, hatte sie bereits wörtlich genommen, als die Juden im September 1941 den gelben Stern tragen mußten. (Sie kannte diese Daten auswendig.) Ein Gesetz war in Kraft getreten, wonach getaufte Juden den Davidstern tragen mußten.

„Wie der Stern kam, 15. September 1941, kam ich am Freitag nach München. Bin also zu dem Pfarrer gekommen und hab‘ gesagt: ,Herr Pfarrer, was machen Sie?‘ ,Ach‘, hat er gesagt, ,ich dispensiere sie vom Kommen‘ (vom Kirchenbesuch). Ich sagte: ,Herr Pfarrer, Sie nehmen ihnen den letzten Trost. Da muß einer mit und einer ohne Stern gehen. Wir werden sie abholen. Geben Sie mir Adressen. ‚Ich fragte sie (als ich dort ankam): ,Was werden Sie morgen machen?‘ ,Ach‘, sagten die, ,wir wollen dem Pfarrer doch keine Unannehmlichkeiten machen durch unsere Anwesenheit.‘ (Gertrud Luckner machte ihre höfliche Sprache nach). ,Aber wo‘, sagte ich, ,wir gehen zusammen. Ich hole Sie morgen ab.‘

Ich bin den ganzen Sonntag — evangelische Andacht, evangelisch-katholischer Gottesdienst — nur mit Sternen gegangen. Getaufte Juden. Katholische, evangelische Leute, die den Stern tragen mußten ... Ich kannte die Leute gar nicht. Und andere gingen auf diese Leute im Kircheneingang zu und begrüßten sie. Nichts ist mir passiert ... In Köln, da hat der evangelische Pfarrer das, Gott sei Dank, von der Kanzel gesagt: ,Die Brüder und Schwestern, die heute in dieser Situation traurig sein müssen, wir sind mit ihnen zusammen.‘“

„Wenn ich in Berlin war, habe ich ,Sterne‘ immer angesprochen. Hab‘ sie immer nach dem Weg gefragt. Ich wollte doch nicht, daß sie isoliert sind.“

Die Untaten mit Worten zu geißeln war nicht die Art von Gertrud Luckner. So zum Beispiel in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als in ganz Deutschland die Synagogen brannten, jüdische Wohnungen und jüdische Geschäfte zerstört wurden und jüdische Männer in Konzentrationslager gebracht wurden. Dazu ist schon viel in gerechtfertigtem Zorn gesagt worden. 1983 sagte Gertrud Luckner folgendes über die „Kristallnacht“:

„Die Eltern von dem jüdischen Geschwisterpaar habe ich noch besucht nach dem Synagogenbrand. Sie waren noch hier. Da bin ich rumgeradelt. In diesen Tagen bin ich nicht vom Rad runter, habe alle Juden besucht. Es war trostlos. Eines Tages haben sie mir die Luft aus den Reifen gelassen. Das ist das Schlimmste, was sie mir damals getan haben ... Ich war den ganzen Tag unterwegs und bin dann abends noch spät raus auf meinem Rad und besuchte den N. N. Der saß in seiner Villa da oben. Ich weiß noch. Die andern waren alle schon weg. Er war noch allein. Der wollte nie weg. Alter Professor, war in Freiburg jahrelang. Ich seh‘ ihn noch sitzen. Da kam er ganz verschüchtert und sagte: ,Ich kann nicht mehr.‘ Da haben wir ihn nachher noch ‘rausgekriegt.“

Sie nahm sich nicht die Zeit zu klagen, sondern stieg auf ihr Rad und tat, was sie konnte.

„Da kam eine Zeit, daß nicht viel mehr getan werden konnte. Was konnte man schon tun? Einfach nur hingehen und sagen: ,Wie geht es Ihnen? Wir können heute nicht helfen, aber wir denken an Euch.‘“

KZ Ravensbrück. Häftlinge bei der Arbeit. 4/1068 K, Vl 128 A 246/59 DDR (ADCV)

Abschließend soll noch erwähnt werden, wie Gertrud Luckner nach Ravensbrück kam. Sie hatte regelmäßig Kontakte mit Rabbiner Leo Baeck in Berlin. Er versorgte sie mit den Namen von Leuten in allen Teilen Deutschlands, mit deren Hilfe man rechnen konnte, und mit Namen von Juden in deutschen Städten, die Hilfe brauchten. Treffen mit Leo Baeck wurden mit Hilfe eines Geheimcodes arrangiert. Gertrud Luckner war auf ihren Reisen immer äußerst vorsichtig. Sie kannte überall Notausgänge. Wenn die Gestapo über die Vordertreppe kam, entwich sie über die Hintertreppe. „Ich war ja nicht so dumm“, meinte sie.

Als Leo Baeck schon im Konzentrationslager Theresienstadt war, war Gertrud Luckner wieder einmal auf dem Weg nach Berlin. Diesmal, am 24. März 1943, holte die Gestapo sie aus dem Zugabteil. Neun Wochen hindurch wurde sie verhört. Später sagte sie, daß sie nichts preisgab, niemals. Und sie hatte die Kaltblütigkeit, zu denen, die sie in ihre Gewalt gebracht hatten, zu sagen: „Wenn ihr mich in ein Konzentrationslager steckt, schickt mich nach Theresienstadt, wo Leo Baeck ist.“ Die Gestapo hatte aber andere Pläne mit ihr. In Ravensbrück traf sie Frauen aus dem Widerstand, deren Namen ihr wohlvertraut waren. Im KZ mußte sie Säcke mit Beton schleppen — unvorstellbar für eine so zierliche Person. Sie wurde krank und war nur noch Haut und Knochen, aber irgendwie überlebte sie und fand zurück nach Freiburg, hauptsächlich zu Fuß, quer durch den Trümmerhaufen, zu dem Deutschland geworden war!43

Gertrud Luckner starb kurz vor ihrem 95. Geburtstag in Freiburg. Ihr außergewöhnliches Leben hatte für viele Menschen den entscheidenden Unterschied ausgemacht.

  1. Jakob J. Petuchowski, Eröffnungs-Statement in einem unveröffentlichten Zusatz zum Beitrag Die Torah, die Rabbinen und die Frühe Kirche, Anglican Theological Review 74(1992)216-224. Ähnlich lautete die Bezeichnung Oesterreichers in der Würdigung durch den Erzbischof von New York, Kardinal O‘Connor. Vgl. In Memoriam. Monsignor John M. Oesterreicher, Institut für Jüdisch-Christliche Studien, Seton Hall University 1993. Als Ansporn und treibende Kraft bei der Entstehung und Verabschiedung des Dekrets über die Juden auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Nostra aetate Nr. 4) ist Msgr. Oesterreicher zweifelsohne in die Annalen der christlich-jüdischen Verständigungsbemühungen eingegangen. Vgl. Clemens Thoma, Neuer Anstoß zum christlich-jüdischen Dialog. Johannes Oesterreicher: Die Wiederentdeckung des Judentums durch die Kirche. Ein Buchbericht, FrRu XXIII(1971)49-50. Ders.: In memoriam Johannes M. Oesterreicher (1904-1993), FrRu 1(1993/94)68-70.
  2. Vgl. Clemens Thoma, In memoriam Dr. Gertrud Luckner, FrRu 1(1996)1. Ein Beispiel, das für viele steht.
  3. „Es war die Zeit der Ökumene, in der sich alle Gutwilligen, ohne Unterschied religiöser und sonstiger Anschauungen, zur Hilfe für Verfolgte zusammenfanden.“ Dies ist eine der publizierten Äußerungen von Gertrud Luckner, die sie zur Sache machte. Else Rosenfeld/Gertrud Luckner (Hg.), Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem Distrikt Lublin, 1940-1943, Biederstein-Verlag, München 1968,9 (vgl. FrRu XX[1968]139).
  4. Professor Lawrence Frizzell hat mir freundlicherweise einen Brief von Msgr. Oesterreicher an Dr. Luckner zur Verfügung gestellt, datiert auf den 15. August 1946: „Darf ich Ihnen sagen, wie glücklich ich bin, daß Sie das Konzentrationslager überlebt haben! Wie dankbar müssen Sie sein, daß der Herrgott Sie für würdig befunden hat, sozusagen seine Wundmale zu tragen!“ Zum 70. Geburtstag von Gertrud Luckner widmete Msgr. Oesterreicher ihr seine Ansprache Salut an Israel, FrRu XXII(1970)7-11.
  5. Über die Geschichte des Freiburger Rundbriefs vgl. Clemens Thoma, Dr. Gertrud Luckner und der bisherige Rundbrief, FrRu 1(1993/4)1-8. Ders.: Freiburger Rundbrief – Dokument christlich-jüdischer Begegnung nach 1945. Festvortrag, in: FrRu XXXVII/XXXVIII-(1985/86)37-41.
  6. Allein das Erscheinungsdatum von einigen Ausgaben dieser Zeitschrift zeigt die Überlegungen, mit denen Gertrud Luckner bei der Herstellung der Hefte zu Werke ging. Als Belegbeispiel vergleiche man den Jahrgangsband XI(1958/59), wo „9. November 1958“ auf der Titelseite fett gedruckt ist. Das Erscheinungsdatum erinnerte an den 20. Jahrestag der „Kristallnacht“. Man beachte ebenso die Titelseite des Jahrgangbands XIII(1960/61): „Wir datieren dieses Heft von dem Sonntag, an welchem das auf Seite 3 wiedergegebene Gebet in den katholischen Kirchen Deutschlands gebetet wurde.“ Es ist das Gebet für die ermordeten Juden und ihre Verfolger.
  7. Vgl. FrRu XXXII(1980)29-32.
  8. Auszeichnung für Gertrud Luckner, FrRu 1(1993/4)14-20.
  9. Badische Zeitung, Sept. 1995, Friedensstifterin zwischen Christen und Juden. Vgl. auch FrRu XXXVII/XXXVIII(1985/86)41, Spalte1.
  10. Badische Zeitung, Sept. 1985.
  11. Nathan Peter Levinson, Laudatio, FrRu 1(1993/94)17-20, hier 17.
  12. Thomas Schnabel, Gertrud Luckner. Mitarbeiterin der Caritas in Freiburg. Der Widerstand im deutschen Südwesten 1933-1945, in: Michael Bosch/Wolfgang Nies (Hg.), Baden-Württemberg, Landeszentrale für politische Bildung, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1984,117-128, bes. 117.
  13. Vgl. FrRu XXVII(1975)147-149. Neuere Nachrichten in: FrRu 3(1996)67-68.
  14. New York Times vom 6. Juni 1977, A 35.
  15. Erwin Keller, Conrad Gröber, 1872-1948. Erzbischof in schwerer Zeit, Herder, Freiburg/Br. 1982, 282. Vgl. auch Bruno Schwalbach, Erzbischof Conrad Gröber und die deutsche Katastrophe. Sein Ringen um eine menschliche Neuordnung, Badenia-Verlag, Karlsruhe 1994; Simon Hirt, Erzbischof Conrad Gröber, in: Festschrift zur Feier des 350jährigen Bestehens des Heinrich-Suso-Gymnasiums in Konstanz. Direktion des Heinrich-Suso-Gymnasiums in Konstanz, Konstanz/Bodensee 1954, 77-88.
  16. Vgl. Lexikon für Theologie und Kirche (LTHK), Herder, Freiburg/Br. 1958/1965 unter „Caritasverbände“ und unter „Werthmann, L.“
  17. Vgl. dagegen z. B. Edith Stein. Fredda Mary Oben, Edith Stein: Scholar, Feminist, Saint, New York, Alban House, 1988, 34.66-67.
  18. Vgl. Robert Davis, Woodbrooke 1903-53. London, The Bannisdale Press, 1953. Ich danke dem Woodbrooke Studienzentrum für die Zusendung von Informationsmaterial über das Zentrum.
  19. Im Jahre 1949 gab Gertrud Luckner im BBC ein Interview zum Thema „Organisierte Unterdrückung und improvisierte Hilfe“.
  20. Gertrud Luckner war mit der Fabian Society vertraut. Sie hatte die Berichte der Oxford-Bewegung gelesen. Ihre Sympathie galt stets den Linken mehr als den Rechten (Interview).
  21. Siehe z. B. Rolf Böhme, Grußworte, FrRu XXXVII/XXXVIII(1985/86)41, Spalte 1.
  22. Die Caritas hatte sich 1924 auf internationaler Ebene etabliert. Siehe LThK unter „Caritas internationalis“.
  23. Ein wunderbares Zeugnis der Solidarität von Freiburger Bürgern ist festgehalten in Karl Baders Beitrag unter Gruß- und Gedenkworte für Gertrud Luckner, FrRu XII(1959/60)29-33.
  24. Vgl. Schnabel (Anm. 12), 120.
  25. Erzbischof Dr. Oskar Saier in seinem Grußwort anläßlich des 85. Geburtstags von Gertrud Luckner, FR XXXVII/XXXVIII(1985/86)35, Spalte 2.
  26. Siehe William L. Shire; The Rise and Fall of the Third Reich. A History of Nazi Germany. A Crest Reprint, Greenwich, Conn., Fawcett Publications, 1959, 201. Bemerkenswert ist die Tatsache, daß Ploetz, Deutsche Geschichte. Epochen und Daten, 5. Auflage, Bertelsmann Verlag, Gütersloh 1991, ein Standardwerk für Geschichtsdaten, den Namen Horst Wessel nicht erwähnt.
  27. G. Luckner spricht darüber auch im Interview mit Susan Talve (25. Oktober 1978, Cincinnati, Ohio); Tonband C-78 im Amerikanisch-Jüdischen Archiv, Cincinnati, Ohio. Ich danke dem Archiv für die Freundlichkeit, mich das Band abhören und daraus zitieren zu lassen (Juni/Juli 1998). Auf die Frage von Talve an Luckner nach einem „existierenden Netzwerk“, gab diese zur Antwort: „Es bestand noch nicht, es war noch im Aufbau. Ich mußte erst noch herausfinden, wie man ein Netzwerk aufbaut.“ (Frau Luckner sprach hier mit besonderer Betonung.) Sie beschreibt sich selbst als „alte Pazifistin mit einer großen Zahl internationaler Beziehungen nach England und den U.S.A. aufgrund der Friedensbewegung und dem „Friedensbund deutscher Katholiken“. Diese Differenzierung machte Frau Luckner bei dem in englischer Sprache geführten Interview in deutsch.
  28. Interview. Seit den zwanziger Jahren war Gertrud Luckner auch beeinflußt von Franziskus Maria Stratmann, dem Verfasser der Bücher Weltkirche und Weltfriede (1924), In der Verbannung. Tagebuchblätter 1940-47 (1962) und Krieg und Christentum heute. Die Übersetzung dieses Buches besorgte John Doeble, Westminster, Maryland, Newman Press 1959. Vgl. LTHK (Anm. 16) 4, Spalte 371 unter Die kirchliche Friedensbewegung. Außerdem: Karl Holl, Pazifismus in Deutschland, Neue Historische Bibliothek, herausgegeben von Hans-Ulrich Wehler, Edition Suhrkamp, Neue Folge Bd. 533, Frankfurt 1988.
  29. Religion/Ökumene waren für Gertrud Luckner ein – aber nicht der einzige – Beweggrund gemeinsamen Handelns.
  30. Über Quäker, die Juden Hilfe leisteten, vgl. z. B. Else R. Behrend-Rosenfeld, Ich stand nicht allein. Erlebnisse einer Jüdin in Deutschland 1933-1944, Europäische Verlagsanstalt, Köln 1979, 79.203.
  31. Ein Ort der Zusammenkunft war das Wartezimmer eines Arztes in Freiburg; siehe Schnabel (Anm. 12), 118. Doch das war nicht der einzige Treffplatz, wie aus dem Interview, das ich mit Frau Gertrud Luckner führte, ersichtlich ist.
  32. Vgl. Ernst Ludwig Ehrlich, Katholische Kirche und Judentum zur Zeit des Nationalsozialismus — eine geschichtliche Erfahrung und eine Herausforderung an uns, in: FrRu XXXV/XXXVI(1983/84)39-43, hier 40, Spalte 1.
  33. Theodor Innitzer (1875-1955). Siehe Encyclopædia Britannica (15. Aufl. 1974), „Innitzer, Theodor“.
  34. Vgl. Encyclopædia Judaica (Jerusalem, Keter, 1971), Bd. 16, „Gurs“.
  35. „Strafversetzt” heißt, er wurde wegen eines Vergehens auf eine andere Dienststelle versetzt.
  36. Für umfassendere Informationen vgl.: Thomas Kenneally, Schindler‘s List, New York, Penguin,1982.
  37. Nach dem Krieg hatte Gertrud Luckner ein kleines Wohnzimmer, das gleichzeitig als Redaktionszimmer für den Freiburger Rundbrief diente. Um auf einem Stuhl sitzen zu können, mußte man über Berge von gedrucktem Material steigen: Archiv und Arbeitsraum in einem.
  38. Interview. Vgl. Schnabel (Anm. 12), 119.
  39. Vgl. Schwalbach (Anm. 15), 256-257.
  40. Ein Beispiel für das Lob, das Gertrud Luckner dem unabhängigen Denken von Leuten in Freiburg spendete.
  41. Wie gut und verläßlich Gertrud Luckner informiert war, ist z. B. in Lebenszeichen aus Piaski, S. 7, Nr.1 (Anm. 3), am genauen Datum ersichtlich, wann die Pakete an ihrem Bestimmungsort eintrafen.
  42. Vgl. Lebenszeichen (Anm. 3), 31-32.
  43. Vgl. FrRu 1(1993/94)17.

Aus dem Amerikanischen von Dr. Alwin Renker
Dr. Elisabeth Petuchowski, BA (London), PhD (Cincinnati), unterrichtete deutsche Sprache und Literatur in Cincinnati und ist Verfasserin von mehreren germanistischen Studien. Sie hatte Posten inne an Zeitungen in London und Cincinnati.


Jahrgang 7/2000 Seite 242



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