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C. C. Aronsfeld

Der Selbsthaß des Robert Jaffé

In dem oft zitierten Buch vom „Jüdischen Selbsthaß“ (Berlin 1930) hat Theodor Leasing sechs Lebensgeschichten erzählt. Die bekanntesten davon sind die von Maximilian Harden (1861-1927) und Otto Weininger (1880-1903), und mindestens drei haben mit Selbstmord geendet. Leasing schreibt darüber:

„Es ist eine herzzerreißende Welt, in die wir treten! Nicht von großen Schicksalen ist auf diesen Seiten die Rede, nicht von glücklichen Menschen, die in die Geschichte eingehen und in vielen Herzen Widerhall finden. Nur von fruchtloser Arbeit und hoffnungsloser Qual bald vergessener Einzelner, die gleichsam auf Telegraphendrähten lebten, zwischen den Völkern schwebten und nur Luftwurzeln schlagen konnten in den Geist ... Es waren bewegte, offenstehende Seelen, Menschen des Übergangs und Untergangs.“

Der Name Robert Jaffé (1870-1911) ist heute vergessen. Kaum ein Lexikon nennt ihn, kein Freund ist ihm geblieben, und keiner sagt ihm Kaddisch. Im Sommer 1911 schnitt er sich in Berlin Grunewald die Pulsadern auf, und schon damals hat kaum einer des Toten gedacht. Das Israelitische Familienblatt vom 6. Juli 1911 war wohl die einzige jüdische Zeitung, die von dem traurigen Ereignis Notiz nahm; es widmete der „Geschichte eines Renegaten“ folgenden Nachruf:

„Mit Jaffé, der aus Gnesen stammte und ein Alter von 41 Jahren erreichte, ist eine recht wunderliche Gestalt dahingegangen. Der Selbstmord deutet seine ganze geistige Struktur an, denn er war auch seelisch ein Selbstmörder, schon seit Jahren ... Er war Jude, und in den ersten Jahren des Zionismus war er sogar eifriger Mitarbeiter an Theodor Herzls Zeitung ,Die Welt‘. Er schrieb dann einen Roman, Ahasver, der ... ein gewisses Talent bekundet. Als Essayist und Feuilletonist war er sehr begabt ... Dann trat er plötzlich zum Christentum über und wurde ein wütender Antisemit. Er schrieb jede Woche haßerfüllte Artikel gegen alles Jüdische und gebärdete sich als Urteutone ... Ja, er scheute sich nicht, Genosse des bekannten Ritualmordapostels Theodor Fritsch zu werden.“

Der Roman Ahasver (Berlin 1900) ist heute verweht wie das Gedächtnis seines Verfassers. Er handelt von der Situation des deutschen Juden um die Jahrhundertwende. Jaffé selbst hat das Thema so umrissen:

„Ein junger Jude, der den ganzen Ahasverschmerz seines Volkes fühlt, wird, indem er sich von ihm zu befreien sucht, bei diesem Streben nach Assimilation, zu immer schmerzhafteren Erlebnissen geführt und erkennt am Ende, daß dem Schicksal seines Volkes kein Einzelner sich entziehen könne; in der tiefen, schwarzen Nacht dieser pessimistischen Erkenntnis ist abseits der Stern des Zionismus milde blinkend, halb verschleiert erst aufgegangen.“

Das Buch fand einigen Beifall. Max Nordau (1849-1923) betrachtete den Verfasser als einen der „vortrefflichen und verheißungsvollen Anfänge, auf deren Entwicklung unter dem Einfluß des neuen zionistischen Lebens wir hoffen dürfen“. Der bekannte Literaturhistoriker Samuel Lublinski (1868-1910) bezeichnete das Buch als das „würdigste und bedeutendste Surrogat“ für „den jüdischen Roman schlechthin“, für „jenes ersehnte dichterische Kunstwerk, welches für das Seelenleben der deutschen Juden am Ende des 19. Jahrhunderts den vollwertig typischen Ausdruck bietet“. Dessen Substanz, schreibt Lublinski, sind die „Leiden der deutschen Juden von heute“, die „durchaus in der unselig zwiespältigen Stellung zu ihren deutschen Mitbürgern wurzeln“. Der „jüdische Schmerz von heute“, meint Lublinski, „ist ein Produkt der seelischen Einsamkeit“.

Jaffé selbst schrieb von der „Wurzellosigkeit des jüdischen Volkes, wie es unter den anderen Völkern lebt“, einer Existenz, die ihm „großartige Tragik“ zu haben schien, und indem der Zionismus „schlicht und grade proclamiert, daß die Juden nichts weiter sein wollen als eben Juden“, sei er „so sehr der schlichten, graden Allnatur gemäß, daß es eigentlich kaum einen Dichter oder Künstler oder Denker geben durfte, dem seine Ziele nicht höchst wünschenswert erschienen“. Tatsächlich aber bemerkt Jaffé unter den meisten jüdischen Künstlern seiner Zeit etwas ganz anderes: sie verleugneten ihre Abstammung, führten eine „Verkleidungskomödie“ auf, in der sie „eine besondere christliche oder fremdnationale Gesinnung auffällig zur Schau stellten“, ohne zu erkennen, daß sie damit „als zweideutig empfunden und nicht ganz ernst genommen“ werden. Jaffé fühlt sich demgegenüber eher „Rembrandts Juden“ verwandt — „echten Juden, die Charakter hatten“ —, im Gegensatz zu jenen heutigen, die Deutsche, Engländer, Franzosen sein wollen „und dadurch nur charakterlos werden“. „Nichts aber ist schlimmer als Charakterlosigkeit. Sie ist das Verbrechen aller Verbrechen, sie ist die Sünde gegen den heiligen Geist — des Individualismus — die nicht vergeben wird.“ Dieser Mann, der den Prinzipien des Zionismus verhaftet war, der die Wurzel und Heimatlosigkeit der unerlösten jüdischen Existenz erkannte und nichts so sehr verabscheute wie die Unwahrhaftigkeit und Unehrlichkeit der Galut — dieser Mann unternahm es plötzlich, sein Judentum zu verleugnen. Er ließ sich taufen, und — wie das in jener Zeit häufig geschah — schloß er sich nicht den guten Christen an, sondern den Antisemiten.

Auch der bekannte Historiker Philipp Jaffé (1819-1870) hat Selbstmord begangen. Obwohl seine Motive unbekannt geblieben sind, meint das Jüdische Lexikon, „der Verdacht, daß J. diesen Schritt getan hat, weil er trotz seiner 1868 erfolgten Taufe das von ihm erhoffte akademische Ziel nicht erreicht hatte, ist nicht von der Hand zu weisen“. Bei Robert Jaffé ist leider zu vermuten, daß er sich das eigene Urteil sprach, als er die „Charakterlosigkeit“ brandmarkte. Man kann nur prima facie annehmen, daß er in der geistigen Situation seiner Zeit die Orientierung verlor und von einem Extrem ins andere fiel. Die Juden, schrieb er 1899, vertrauten den „Abstraktionen des Liberalismus und der Demokratie“, ohne deren „Phrasenhaftigkeit“ zu erkennen. Denn die Liberalen mit ihrem „unverhältnismäßig überwiegenden jüdischen Element“ schienen ihm schon längst von einem „heimlichen“ Antisemitismus derart verseucht, daß sie „die Juden möglichst von repräsentativen Stellungen in der Partei fern zu halten“ suchten. Wenn das schon bei den Liberalen so war, wer konnte sich wundern, daß trotz des Niedergangs der offenen Judenhetzer à la Adolf Stoecker (1835-1909) „die Konservativen durchgängig nur verschämteren aber nicht schwächeren Haß gegen die Juden hegen“; es müßte deshalb, so Jaffé 1898, „erwartet werden, daß die Verbreitung der ... antisemitischen Gesinnung in Deutschland immer größer werde“.

In Ahasver sieht man schon das Wetterleuchten der kommenden Dinge, die Zeichen des Antisemitismus, der später nur bis in die letzte logische Konsequenz getrieben wurde. Der jugendliche Romanheld fühlt sich „nur als Deutscher“, mit einer „unbeschreiblich liebevollen Sehnsucht nach deutschem Wesen“, nach „Einheit mit dem ganzen deutschen Volk“. Doch sein Onkel erkennt kurz und bündig: „Sie werden dich gar nicht haben wollen.“ Zwanzig Jahre später hat es der deutsch-jüdische Schriftsteller Jakob Wassermann (1873-1933) in seinem (noch und wieder) lesenswerten Buch „Mein Weg als Deutscher und Jude“ wiederholt, und nach weiteren zwanzig Jahren konnte alle Welt den furchtbaren Irrtum erkennen. Was also blieb? „Wozu zählt man?“, fragt Ahasver. „In der Geschichte des heimatlosen gottverfluchten Volkes bleiben? Nein! Nein! Nein! Das kann man sich doch nicht immer vor das Bewußtsein halten, da man doch sonst wahnsinnig werden müßte.“ Diese Verzweiflung aber gebar den Haß, den er „gleichsam gegen sich selbst gefühlt“. Das war, er wußte es, „sein allerschlimmster Fluch“.

Schon früh (1898) hatte Jaffé, ohne das eigene Schicksal zu ahnen, vor jenen „zahlreichen jüdischen Antisemiten“ gewarnt, die „glauben, sich von dem allgemeinen Leidensschicksal ihres Volkes abtrennen zu können“, denn nichts wäre für einen „selbstbewußten Juden“ so „bitter, wehmütig, lächerlich“ wie eben dies. Als er sich dann zu ihnen gesellte, ja sie noch übertraf, erinnerte er sich nicht mehr an jenes „Verbrechen aller Verbrechen“, das er selbst einst verdammt hatte, die Charakterlosigkeit, und so blieb ihm nichts übrig, als die Verdammnis an sich selbst zu vollziehen, indem er sich physisch vernichtete, wie er es schon geistig getan hatte.


C. C. Aronsfeld ist ein englisch-jüdischer Journalist deutscher Abstammung. Schon vor seiner Auswanderung 1933 hat er sich dem Studium der nationalsozialistischen Judenhetze gewidmet. In seinem Buch „The Text of the Holocaust“ (1985) hat er die von Anfang an geplante „Endlösung der Judenfrage“ dokumentiert. Er war lange Jahre mit dem von Dr. Alfred Wiener in Amsterdam begründeten jüdischen Institut für Zeitgeschichte („Wiener Library“) verbunden. Später schloß er sich dem Jüdischen Weltkongreß an, wo er sich mit dem internationalen Antisemitismus und Faschismus befaßte. Vor zwei Jahren veröffentlichte er in London seine Erinnerungen unter dem Titel „Wanderer from my Birth“.


Jahrgang 7/2000 Seite 34



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