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Gertrud Luckner
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Zeit zur Umkehr — Die Evangelischen Kirchen in Österreich und die Juden

Die Generalsynode der Evangelischen Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses (A. u. H. B.) in Österreich hat am 29. Oktober 1998 in Wien folgende Erklärung zum christlich jüdischen Verhältnis veröffentlicht:

I

Am 9. November dieses Jahres jährt sich das Pogrom von 1938 gegen Juden zum 60. Mal. Dieses Ereignis veranlaßt uns evangelische Christen und Kirchen in Österreich, uns erneut mit der furchtbaren Geschichte der gezielten Vernichtung der Juden in Europa in diesem Jahrhundert auseinanderzusetzen. Der Anteil und die Mitschuld von Christen und Kirchen am Leiden und Elend von Juden ist nicht länger zu leugnen. Es ist zu erinnern an das Wort der Generalsynode aus dem Jahre 1965 und an die Grundsatzerklärung der Evangelischen Kirche H. B. aus dem Jahr 1996.

II

Mit Scham stellen wir fest, daß sich unsere Kirchen für das Schicksal der Juden und ungezählter anderer Verfolgter unempfindlich zeigten. Dies ist um so unverständlicher, als evangelische Christen in ihrer eigenen Geschichte, zumal in der Gegenreformation, selbst diskriminiert und verfolgt worden waren. Die Kirchen haben gegen sichtbares Unrecht nicht protestiert, sie haben geschwiegen und weggeschaut, sie sind „dem Rad nicht in die Speichen gefallen“ (Bonhoeffer). Deshalb sind nicht nur einzelne Christinnen und Christen, sondern auch unsere Kirchen am Holocaust/an der Schoa mitschuldig geworden. Wir gedenken in Trauer aller Verfolgten, die ihrer bürgerlichen Rechte und ihrer Menschenwürde beraubt, einer rücksichtslosen Nachstellung preisgegeben und in Konzentrationslagern ermordet wurden.

III

Die Generalsynode bittet die Israelitischen Kultusgemeinden und die Juden in Österreich, folgende Versicherung entgegenzunehmen:

— Die Evangelischen Kirchen wissen sich verpflichtet, die Erinnerung an die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes und an die Schoa stets wachzuhalten.

— Die Evangelischen Kirchen wissen sich verpflichtet, Lehre, Predigt, Unterricht, Liturgie und Praxis der Kirche auf Antisemitismen zu überprüfen und auch über ihre Medien Vorurteilen entgegenzutreten.

— Die Evangelischen Kirchen wissen sich verpflichtet, jeglichem gesellschaftlichen und persönlichen Antisemitismus zu wehren.

— Die Evangelischen Kirchen wollen in der Beziehung zu Juden und Kultus-gemeinden einen gemeinsamen Weg in eine neue Zukunft gehen.

Wir bemühen uns daher, das Verhältnis von evangelischen Christen und Juden entsprechend zu überdenken und zu gestalten.

IV

Die Entwicklung des Antisemitismus bis in die Schoa hinein stellt für uns als Evangelische Kirchen und evangelische Christen eine Herausforderung dar, die bis in die Wurzeln unseres Glaubens reicht. Der Christen Gott ist kein anderer als der Gott Israels, der Abraham in den Glauben gerufen und die versklavten Israeliten zu seinem Volk erwählt hat. Wir bekennen uns zur bleibenden Erwählung Israels als Gottes Volk. Diesen „Bund hat Gott nicht gekündigt“ (Martin Buber). Er besteht bis ans Ende der Zeit. Im Johannesevangelium lesen wir als Gottes Wort: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22). Gott selbst ist das Heil, das er seinem Volk gegeben hat und das er im Juden Jesus, den wir als den Christus bekennen, über alle ausbreitet. Denn Gott „will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“ (1 Tim 2,4). Die Auseinandersetzungen über die Bedeutung Jesu und des Evangeliums im Neuen Testament dürfen nicht antijüdisch mißbraucht werden. Die Tatsache, daß sie unter Juden ausgetragen worden sind, wurde durch die heidenchristliche Gemeinde verdrängt. Die Kirche fühlte sich allein zum Gottesvolk erwählt und behauptete die Verwerfung Israels. Seither durchziehen antijüdische Ausschreitungen die gesamte Kirchengeschichte. Uns evangelische Christen belasten in diesem Zusammenhang die Spätschriften Luthers und ihre Forderung nach Vertreibung und Verfolgung der Juden. Wir verwerfen den Inhalt dieser Schriften.

Der biologische und politische Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts konnte sich des christlichen Antijudaismus als religiös-ideologischer Bestätigung bedienen. Dagegen gab es in unseren Kirchen kaum Widerstand. Es haben sich vielmehr auch evangelische Christen und Pfarrer an der antisemitischen Propaganda beteiligt. Nahmen sich die Kirchen verfolgter Juden an, dann vorwiegend der getauften. Diese unsere belastete Vergangenheit verlangt nach einer Umkehr, die die Auslegung der Heiligen Schrift, die Theologie, die Lehre und die Praxis der Kirche umfaßt.

V

Wenn wir Christen die Bibel beider Testamente als Einheit lesen, ist die jüdische Auslegung der Hebräischen Bibel, unseres Alten Testaments, mitzuhören, wohl wissend, daß für Juden das Neue Testament keine Heilige Schrift ist. Unterschiede des Schriftverständnisses können in gegenseitiger Achtung ausgehalten werden. „Die biblischen Hoffnungssymbole sind ein Anstoß zum gemeinsamen Bemühen um die Gestaltung einer Welt in Gerechtigkeit und Frieden“ (Ökumenische Versammlung Erfurt 1996). Es ist zu bedenken, daß das Neue Testament — das Jesus Christus als den Erlöser der Welt verkündet — vor allem von Juden geschrieben worden ist. Unser Herr Jesus Christus war nach Herkunft, Bildung und seinem Glauben an Gott Jude und ist als Jude zu verstehen. (A. d. R.: vgl. FrRu 3 [1996] 296-274.)

Laut Beschluß der Ökumenischen Versammlung in Erfurt 1996 muß die christliche Verkündigung lernen, „das Judentum als eine dem Christentum bereits vorauslaufende und mit ihm gleichzeitig existierende lebendige und vielfältige Größe zu erkennen. Das verbietet jede triumphalistische Überheblichkeit.“ In der „Erklärung zur Begegnung zwischen lutherischen Christen und Juden“ aus dem Jahre 1990 wird die Einsicht gefordert, daß Gott selbst seine Menschen sendet. Diese „missio dei“ lehrt die eigenen Möglichkeiten und Aufgaben zu verstehen. „Gott ermächtigt zum gegenseitigen Bezeugen des Glaubens im Vertrauen auf das freie Wirken des Geistes Gottes; denn er entscheidet über die Wirkung des Glaubenszeugnisses und über das ewige Heil aller Menschen. Er befreit von dem Zwang, alles selbst bewirken zu müssen. Aus dieser Einsicht heraus sind Christen verpflichtet, ihr Zeugnis und ihren Dienst in Achtung vor der Überzeugung und dem Glauben der jüdischen Gesprächspartner wahrzunehmen.“

Da der Bund Gottes mit seinem Volk Israel aus lauter Gnade bis ans Ende der Zeit besteht, ist Mission unter den Juden theologisch nicht gerechtfertigt und als kirchliches Programm abzulehnen. Der Dialog der Christen mit dem Judentum, in dem sie wurzeln, ist grundsätzlich zu unterscheiden von einem Dialog der Christen mit anderen Religionen.

VI

Vor 50 Jahren wurde der Staat Israel gegründet. Wir wünschen ihm Gerechtigkeit und Frieden. Wir hoffen und beten, daß dieser Staat mit seinen Nachbarn — insbesondere mit dem palästinensischen Volk — in gegenseitiger Achtung des Heimatrechtes einen sicheren Frieden findet, so daß Juden, Christen und Muslime friedlich zusammenleben können. Wir schließen uns bewußt der Empfehlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich an, den 17. Januar, den Tag vor dem Beginn der Weltgebetswoche für die Einheit der Christen, als Tag der Verbundenheit mit dem Judentum zu begehen und dabei das jüdische Volk in die Fürbitte einzuschließen.


Jahrgang 6/1999 Seite127



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