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Mark Zoni

Juden in Ungarn

In Ungarn hat es zu jeder Zeit Juden gegeben, aber erst mit der Erwerbung Ungarns durch die Habsburger stand ihnen der Weg dorthin offen. Laut Statistik lebten im Jahre 1735 etwa 11 600 Juden in Ungarn. 1787 waren es an die 81 000, im Jahre 1850 bereits über 340 000.1 In seiner Reichstagsrede am 30. Januar 1939 sagte Hitler: „In der Weltstatistik des Judentums nimmt Ungarn nach den Ergebnissen der Volkszählung von 1930 mit seinen 440 000 Juden, die 5,1% der Gesamtbevölkerung entsprechen, den vierten Platz ein. Die Verjudung der Städte erfolgte erst in den letzten 100 Jahren. Die liberalen Ideen der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zwangen jedoch die Städte, ihre Tore dem Judentum zu öffnen, das nun in Scharen dort seinen Einzug hielt. Die Folge dieser Entwicklung ist die starke Position, die das Judentum heute im Handel aller Städte inne hat. Aktuell beträgt in den Städten, Budapest ausgenommen, die Zahl der Handeltreibenden insgesamt 54 000, wovon ca. 20 000 Juden sind. Von entscheidender Bedeutung für das Judentum und für die Judenfrage ist die Hauptstadt Budapest, wo heute mehr als 50% des Judentums lebt ... Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in- und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“2 Damit hat Hitler vor der Welt die völlige Auslöschung des europäischen Judentums angekündigt. Die Vernichtungsaktionen in den okkupierten und den verbündeten Ländern waren inzwischen in vollem Gang. Bis 1945 starben ca. 565 000 ungarische Juden in deutschen Konzentrationslagern, im Arbeitsdienst oder als Opfer von Terrorkommandos. Etwa 260 000 überlebten.3 In der Folge des Aufstandes im November 1956 verließen wiederum an die 20 000 Juden das Land aus Angst vor Pogromen und neuen antisemitischen Übergriffen. Heute leben ca. 100 000 Juden in Ungarn. Die Verantwortung für die Judenverfolgung kann nicht auf die Kriegsverbrecher beschränkt werden. Ihre Last trägt die ganze Gesellschaft.

Ein schwedischer Held in Budapest

Der schlanke, etwa dreißigjährige Mann, der am 9. Juli 1944 in Budapest aus dem Berliner Zug sprang, wurde von Mitgliedern der schwedischen Delegation als Attaché Raoul Wallenberg begrüßt. Der junge Diplomat entstammte einer reichen Bankiersfamilie. Die Besorgnis der Ungarn um die von der Deportation bedrohten Juden war akut geworden. Im März 1944 hatte Hitler mit der Judenverfolgung in Ungarn begonnen und Tausende von Juden in die Vernichtungslager abtransportiert. Damit begann die zügig durchgeführte Liquidation des ungarischen Judentums. Auf Befehl von Adolf Eichmann traten Zehntausende den 240 Kilometer langen Fußmarsch in den Tod an. Wallenberg fuhr den Todgeweihten nach und konnte viertausend Personen befreien. Für die anderen Unglücklichen organisierte er mit dem Roten Kreuz Lebensmittel, warme Kleidung und Medikamente. Als die Deutschen beschlossen, sich des unbequemen Schweden zu entledigen, tauchte er unter und wirkte fortan im Geheimen. Zehntausenden von Juden rettete er das Leben. Nach 1945 verschwand er unter nach wie vor ungeklärten Umständen in der Sowjetunion

Das Budapester Rabbinerseminar

Der sich zuspitzende Antisemitismus war an der Rabbinerschule besonders deutlich zu spüren. Schon in den zwanziger Jahren war unter dem Horthy-Regime4 erstmals in Europa ein Numerus clausus für jüdische Studenten eingeführt worden. Mit der „Operation Margaret“ und der Besetzung Ungarns am 19. März 1944 wurde das Seminar konfisziert. Heute stehen die alte Rabbinerschule in der Józzef-Körut-Straße 27, dem einstmals jüdischen Viertel in Budapest, und ihr Rektor, Oberrabbiner József Schweitzer,5 vor vielfältigen Aufgaben. Auf dem Lehrplan des Seminars stehen jüdische Geschichte, biblische Geschichte, Bibelexegese, Talmud und Schulchan Aruch (Religionskodex mit Ritual- und Zivilgesetzen). Es werden wieder Rabbiner und Kantoren aus Ungarn und aus den osteuropäischen Ländern ausgebildet. Vor der Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem (1918) war das Budapester Rabbiner-Seminar die bedeutendste jüdische Hochschule Europas. Sogar Studenten aus Israel studieren dort jüdisches Recht, und Lehramtskandidaten jüdischer Abkunft erhalten eine Ausbildung als jüdische Religionslehrer.

Die Synagogen und die Gemeinden

Drei Viertel der ungarischen Juden leben in Budapest. Darüber hinaus bestehen jüdische Gemeinden in größeren Städten wie Pécs, Szeged, Gyor, Miskolc und Debrecen. Es gibt mehr als 25 Synagogen mit einer entsprechenden Zahl von amtierenden Rabbinern, eine Rabbinerversammlung sowie ein orthodoxes und ein konservatives Rabbinatsgericht (Beth-Din). Über das Leben der ungarischen Juden berichtet die Zeitung „Üj Elet“ (Neues Leben) und seit kurzem ein eigener jüdischer Verlag.

Die Große Synagoge von Budapest — sie faßt 3000 Personen — wurde 1854-1859 vom Wiener Ludwig Förster im romantischen Stil errichtet. Damals diente sie einer lebendigen jüdischen Glaubensgemeinschaft. Die Mauern sind aus roten und weißen Ziegeln, die Verzierung aus Keramik. Farbige Fenster verstärken im Inneren die Raumwirkung. Neben dem Hauptgebäude befindet sich ein von Arkaden umgebenes Mausoleum, erbaut 1929-1931. Es ist die Gedenkstätte für die im Ersten Weltkrieg gefallenen zehntausend ungarischen Juden. Hier sind auch die Toten des Gettos, das nach der deutschen Okkupation 1944 eingerichtet wurde, beigesetzt. In einem weiteren Gebäude ist seit 1932 das Landesmuseum für jüdischen Glauben und jüdische Geschichte untergebracht. Nun gilt es, einerseits die dem Glauben der Väter entfremdeten Juden in Ungarn wieder in die Tradition einzuführen und anderseits, der Judenheit des ehemaligen Ostblocks eine Ausbildungsstätte für künftige Rabbiner zu sichern. Aber die Jahrzehnte der Nachkriegszeit haben die ungarischen Synagogen vernichtet. Die noch funktionierenden oder bereits verlassenen Gebetshäuser verkünden mit ihrer Trostlosigkeit das Erlöschen einer Kultur.

  1. EJ VIII,1089-1090.
  2. Dokument 2663-PS. Hitlers Reichstagsrede vom 30. Januar 1939. Beweisstück US-268, Staatsarchiv Nürnberg. Aus: Völkischer Beobachter, Münchener Ausgabe, 1. Februar 1939, 32. Jg., S. 6. Rede Hitlers vor dem Reichstag am 30. Januar 1939. Staatsarchiv Nürnberg.
  3. EJ VIII,1105.
  4. Nikolaus Horthy von Nagybánya (1868-1957), ungarischer Reichsverweser von 1920-1944.
  5. A. d. R.: vgl. Bericht des Oberrabbiners in d. Heft, 150 f. unter ,Berichte‘.

Prof. Zonis, geb. 1921 in Rumänien, studierte Sprachen und Geschichte an der Universität Odessa und Internationale Beziehungen in Frankreich. Nach seiner Emigration 1972 lehrte er in Frankreich, Spanien und Italien. Seit 1983 lehrt er an der VHS Frankfurt.


Jahrgang 6/1999 Seite 124



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