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Komitee der Französischen Bischofskonferenz

„Das Alte Testament lesen“

Das Komitee der Französischen Bischofskonferenz für die Beziehungen zum Judentum stellte am 14. Mai 1997 ein pastoral veranlaßtes und theologisch geprägtes Dokument vor. Ein manchmal tiefes Unbehagen gegenüber bestimmten Passagen des Alten Testamentes und ihrer Lesung in der Liturgie belastet das Verhältnis vieler Christen zum Ersten Teil der Bibel. Um die Schwierigkeiten der Schriftlesung zu klären, strittige Deutungen zu vermeiden und die Anerkennung des Alten Testamentes als Juden und Christen verbindendes Wort Gottes in der Kirche zu fördern, ging das Dokument besonders auf die theologischen Fragen der Schrift und der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ein. Das Dokument, welches mit der Kommission der französischen Bischöfe für die Glaubenslehre beraten wurde, ist ein Text des Komitees, ohne daß es sich die Französische Bischofskonferenz formell zu eigen gemacht hat. Französischer Wortlaut in: La Documentation Catholique 94(1997)626-635. Wir bringen das Dokument in leicht gekürzter Form.

Der Impuls, den das Zweite Vatikanische Konzil der biblischen, der liturgischen und der katechetischen Bewegung gab, hat auch den Zugang zu den „Schriften“ eröffnet, deren Kenntnis und Bedeutung lange Zeit Spezialisten und Gelehrten vorbehalten war. Jeder Christ muß die Bibel lesen. Jeder Gläubige kann im Gottesdienst die Verkündigung des Wortes Gottes durch zwei oder drei Texte hören, die zunächst das Leben des jüdischen Volkes vergegenwärtigen, dann das Leben Jesu und schließlich das der ersten christlichen Gemeinden. Auf diese Weise wird die lebendige Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament hergestellt. Dieser Kontakt mit der Bibel ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Kenntnis der Wurzeln des christlichen Lebens und für ein vom Wort Gottes inspiriertes Leben. Denn die Bibel ist das heilige Buch des jüdischen Volkes, und die Lektüre bleibt nicht ohne Folgen für unsere Kenntnis des jüdischen Volkes und für den Dialog, den wir mit ihm führen.1 Die folgenden Überlegungen wenden sich speziell an die Priester, dann an die für Katechese Verantwortlichen und schließlich an jene, die durch Homilien, Bibelkreise usw. einen Auftrag wahrnehmen, ihre Brüder und Schwestern in die Kenntnis der Schrift einzuweihen.

I. Kommentar zur sonntäglichen Schriftlesung

Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist der liturgische Gebrauch der Bibel. Im Zyklus von drei Lesejahren gibt das Lektionar für jeden Sonntag drei Texte vor. Einer davon ist ein Evangeliumstext. Ziel dieser ausgewählten Texte ist es, uns die Kenntnis der Heiligen Schrift in ihrer Gänze zu erschließen. Es ist die Zeit (im Kirchenjahr), ein Festtag oder das Evangelium selbst, welche die Auswahl des ersten Textes gebieten, der meistens ein Auszug aus dem Alten Testament ist.

Die Lesungen stellen typische Gestalten und Ereignisse vor, z. B. Noach (Gen 9,8-15, erster Fastensonntag, Lesejahr B), Abraham (Gen 15,3-9, zweiter Fastensonntag, Lesejahr C), Mose (Ex 3,1-15, dritter Fastensonntag, Lesejahr C), David (2 Sam 12,7-13; elfter Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C), Elija (1 Kön 17,17-24, zehnter Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C), den Gottesknecht Jes 50,4-7, Palmsonntag, Lesejahr A, B, C); Ostern (Ex 12,1-14, Gründonnerstag). Prophetische Texte, in denen unser Glaube die Ankündigung Jesu Christi erkennt, werden in der Adventszeit (z. B. Jes 11,1-10, zweiter Adventssonntag, Lesejahr A; Jes 40,1-1, Lesejahr B; Mi 5,1-4, vierter Adventssonntag, Lesejahr C), am Weihnachtsfest (z. B. Jes 9,1-6; 52,7-10), in der Fastenzeit (z. B. Jes 43,16-21, fünfter Fastensonntag, Lesejahr C), und während der gewöhnlichen Zeit im Kirchenjahr (z. B. Ez 47,22-24, elfter Sonntag, Lesejahr B) verlesen. Diese Anordnung führt natürlicherweise in der Homilie oder in der Katechese dazu, den Zusammenhang der Texte hervortreten zu lassen. Eine getroffene Auswahl steuert für gewöhnlich die Erklärung und die Auslegung. Durch die Lesung aus dem Alten Testament wird das Verständnis des Evangeliumtextes vorbereitet, anschaulich gemacht und erhellt.

II. Die Einheit der Schrift

Gott ist einer; er spricht: sein Wort ist eines. Er offenbart sich vom Anfang bis zum Ende der Bibel.2 Kein einziger Vers der Bibel darf isoliert betrachtet werden, sondern muß immer im Bezug zur ganzen Schrift genommen werden. Kraft dieser Einheit bestehen bedeutsame Zusammenhänge zwischen den Ereignissen und den Personen der Geschichte Israels (die Berufung der Patriarchen, die Bindung Isaaks, der Durchzug durch das Rote Meer, der Zug durch die Wüste, das Manna) und der Geschichte von Jesus und seiner Kirche (Brotvermehrung, Ostern, Pfingsten, Taufe, Eucharistie ...). Diese Einheit begründet eine typologische Lesung der Bibel (vgl. Fußnote 8). Dieses eine Gotteswort entfaltet sich in der Zeit. Die Verlesung der Schrift läßt ihre ganze Bedeutung hervortreten und ihren immer neuen Reichtum aufscheinen. Es bedarf indessen der Dauer der Geschichte, damit der Glaube darin seine ganze Wirkungskraft (vgl. Mt 5,18) ausdrücken kann und zur vollständigen Wahrheit gelangt (Joh 16,13; vgl. Joh 2,22).

Für seine Jünger hat Jesus die ihm vorausgegangene Geschichte nicht annulliert: er konnte nur im Licht der Tora, der Propheten und der übrigen Schriften aufgenommen und verstanden werden (vgl. Lk 24). Es waren die heiligen Schriften, die Tradition und das jüdische Leben, die es den Jüngern im Heiligen Geist ermöglichten, die Person Jesu zu entdecken, zu erkennen und zu verkündigen, Jesu Lehre zu empfangen und die Berufung Israels inmitten der Völker zu begreifen. So stehen in der Szene der Verklärung Mose und Elija symbolisch für die Tora und die Propheten, die so in ihrem einzigartigen und andauernden Wert anerkannt sind. Sie bestimmen für unser Verständnis diesen Jesus, den wir ohne sie nicht erkennen könnten.

Jeder Absatz der Schrift hat seine eigene Bedeutung, die man weder entfernen noch verwerfen kann. Jedes Ereignis besitzt seinen eigenen Reichtum und seinen bleibenden Wert: die Berufung Abrahams, der Exodus, der Sinaibund, die Geschehnisse des Lebens Jesu. Das neu Hinzugekommene verdrängt nicht, was schon angekommen ist, sondern erweist darin die Fähigkeit der Erneuerung und eröffnet die Zukunft. Kein Wort entwertet das vorangegangene. Ein jedes trägt zum Verstehen des Ganzen bei.

III. Für eine positive Lektüre des Alten Testaments

Eine bestimmte Ausdrucksweise wie ehemals, vor Zeiten, unter der Herrschaft des Gesetzes, von jetzt an, unter dem Antrieb des Heiligen Geistes führt unmerklich zur Verneinung der Einheit von Offenbarung und der Treue Gottes — als sei das Erste Testament höchstens eine notwendige Erziehungsmaßnahme gewesen. Als Provisorium hätte es mit dem Kommen Jesu zurückzutreten wie ein Schatten, der durch das Licht ersetzt wird, wie etwas Veraltetes durch Neues, und wie überhaupt das Alte dem Neuen Platz zu machen hat. Eine solche Art und Weise, die Ankunft des Herrn zu verkünden, entleert die Geschichte, die ihm voraufgegangen ist. Sie führt weiter dazu, zwei Vorstellungen von Gott in Gegensatz zueinander zu bringen: die des gerechten und die des barmherzigen Gottes, zwei Arten von Gottesverehrung zu behaupten: die rituelle im Gegensatz zur geistigen, zwei Arten von Lebensauffassungen: ein Leben unter der Herrschaft der Angst und ein Leben, in dem nur die Liebe waltet.3 Diese Denkweise führt infolgedessen zu einem Bruch in dem einen Heilsplan Gottes.

Kann man das wahre Antlitz Gottes und des Menschen erkennen, ohne den unwiderruflichen Wert jener Worte zu beachten, die da lauten: „Ich werde mit dir sein“ (Ex 3,12); „entziehe dich ihm nicht, denn er ist dein Verwandter“ Ges 58,7), „erschaffe mir, Gott, ein reines Herz ... und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir!“ (Ps 51,12-13), „laßt uns Menschen machen als unser Abbild“ (Gen 1,26)? Indem Jesus diese Unterweisung in Wort und in Taten mit der ihm eigenen Autorität aufgreift, heiligt er den Namen, den die Götzendienereien des Menschen, heute wie gestern, unablässig entweihen. Seit dem Alten Testament nehmen das Wirken Gottes und der Glaube des Menschen Gestalt an in einer Geschichte, die Erfolg und Mißerfolg, Hoffnungsträume und Verzweiflung, Zärtlichkeit und Gewalt mit sich brachte.4 Die Bibel bezeugt das andauernde Wirken Gottes, der sein Wort zu Gehör bringt in einer Welt des Aufruhrs und der gleichzeitigen Bemühung des Menschen, Gott zu begegnen. Das Wort Gottes schreibt sich in eine sehr menschliche Geschichte ein. Die Weisungen der Tora und die Verkündigung der Propheten im Angesicht von Unterdrückung, Lüge und Korruption bleiben die Grundlage für die moralische Anstrengung des Juden wie des Christen.

IV Die Erfüllung der Schrift gemäß dem Neuen Testament

4.1 Eine komplexe Frage

Den bleibenden Wert des Gottesworts im Alten Testament auf diese Weise stark zu betonen, führt zur Frage, wie die häufig im Neuen Testament anzutreffende Aussage „damit die Schrift erfüllt werde“ zu verstehen ist.5 Die Erfüllung der Schrift ist ein Schlüsselbegriff zum Verständnis der Heiligen Schrift und der Tragweite der Sendung . und des Lebens Jesu. Nehmen wir zunächst zur Kenntnis, daß im griechischen Wort pleroô, welches das Neue Testament oft verwendet, um auf die Erfüllung der Schrift zu verweisen, der Gedanke der „Erfüllung“ als vom „Ende der Geschichte“ nicht enthalten ist. Der Ausdruck „Erfüllung der Schrift“ steht für mehrere Bedeutungen.

Es gibt den Begriff des Gehorsams, und von daher bedeutet Gehorsam Erfüllung der Tora als Lebensweg. Ein solches Beachten und Erfüllen der Gebote setzt eine geistige Vertiefung voraus, die das Judentum vor Jesus, während der Zeit Jesu und auch danach kannte und entwickelte. Alles spricht dafür, daß Jesus sorgfältig bemüht war, die Gebote einzuhalten. Kardinal Ratzinger bestätigte dies am 2. Febr. 1994 in Jerusalem, als er den Katechismus der Katholischen Kirche zitierte: „Jesus mußte das Gesetz erfüllen, wobei er es in seiner Vollständigkeit befolgte bis hin zu den kleinsten Geboten.“6 Der Begriff Erfüllung ist auch mit dem Wort Verheißung verbunden. Die Jünger haben das Geheimnis Christi verstanden und weitervermittelt. In Jesus erkannten sie die Erfüllung des Heilsplans und in der Gabe des Heiligen Geistes die Erfüllung der Verheißung vom Vater. In der Tora, den Propheten und den Psalmen haben sie nach dem Sinn des Lebens und Sterbens Jesu geforscht. Das Licht der Auferstehung und die Ankunft des Heiligen Geistes ließen sie in diesen Ereignissen die Erfüllung der Schriften erkennen. Diese Erfahrung ist dann zur sicheren Erkenntnis geworden, daß alles, was Jesus in ihrer Mitte gelebt hatte, durch die Propheten vorherverkündet war (Apg 3,18).

Indessen sprechen die Verfasser der Evangelien im voraus davon. Ihnen zufolge hat Jesus selbst erklärt, daß er gekommen sei, die Schriften zu erfüllen (Mt 5,17; 26,54 par, Lk 24,44). Indem er sich dergestalt ausdrückt, enthüllt Jesus die Übereinstimmung seiner Taten mit dem Plan Gottes: er demonstriert selbst, wie er auf Gottes Wort hört und ihm gehorcht. Aufgrund des Zeugnisses der Jünger ist uns aus dem Mund Jesu die Gültigkeit dieser Schriften bestätigt, die wir als Wort Gottes erhalten haben (Joh 10,35). Jesus öffnet uns das Verständnis für sie. Er interpretiert sie, er schafft sie nicht ab. Er verwirklicht sie.

4.2 Die Schwierigkeiten der Interpretation

Mit der Entwicklung der ersten christlichen Gemeinden tauchte eine neue Frage auf. Wir erkennen den Konflikt zwischen denen, die Juden geblieben sind, und denjenigen, die den (neuen) „Weg“ (Apg 9,2) beschritten haben. In diesem Kontext entstand eine Divergenz in der Interpretation der Schrift. Die Jünger Jesu — und an ihrer Seite die Kirche des Anfangs — und später die Kirchenväter machten sich stark für den Beweis, daß die Gesamtheit der Schriften in Christus und seiner Kirche konvergierte. Es handelt sich dabei um eine im eigentlichen Sinn christliche Interpretation (Röm 10,4). Die Juden, die dem „Weg“ der Jünger nicht gefolgt sind, haben sich dieser Interpretation widersetzt. Mit der Zeit und unter dem Einfluß der Ereignisse verhärtete sich diese Divergenz zur Polemik. Man hat sich nicht zufriedengegeben, bestimmte Verse der Schrift als apologetisches Argument zu benutzen, man hat zu oft den Ausdruck Erfüllung und den Ausdruck Vollendung zusammengeworfen. Gleicherweise hat man unterstellt, daß der Heilsplan Gottes vollendet worden sei in der Zeit Jesu und daß nichts mehr zu erwarten sei, da ja die Schriften in Jesus ihre Erfüllung gefunden hatten. Diese Vision von einer „realisierten Eschatologie“ hat oft die Lektüre des Alten Testaments festgelegt. Im Extremfall konnte die Interpretation des Begriffs von der Erfüllung der Schrift zu ihrer Ablehnung führen, wie bei gewissen gnostischen Irrlehrern und bei Markion. Aber das christliche Glaubensbewußtsein hat mit aller Kraft darauf reagiert. Die Kirchenväter haben eine Bibellektüre gelehrt, welche die „Übereinstimmungen“ zwischen den beiden Testamenten unterstreicht. Sie haben dies bekanntlich mit Hilfe der „Typologie“ getan (vgl. Fußnote 8). Aber diese Bibellektüre wurde gelegentlich in einem Sinn ausgenutzt, der die jüdische Tradition abwertete und, auf leicht ins Auge springende Gegensätze reduziert, das gemeinsame moralische und geistige Erbe verdunkelte. Ein sachgerechter Gebrauch der Typologie schenkt seine Aufmerksamkeit der Anerkennung des Alten Testaments als Wort Gottes.

Die jüdische Tradition hat sich in ihrer Gesamtheit geweigert, das Jesus-Ereignis im Licht der Schrift zu interpretieren. Auf Grund dieser Weigerung haben Christen oft vergessen, daß die Bibel das Wort Gottes für das jüdische Volk bleibt. Viele haben gedacht, daß die Judenheit nach der Zeit Jesu jegliche geschichtliche und religiöse Bedeutung verloren habe, so als hätte ihr Christus ein Ende gesetzt.

Wenn Jesus sagt: „Alles ist vollbracht“ (Joh 19,30), spricht er das im Alten Testament offenbarte Vorhaben Gottes an, und wir erkennen seinen einzigartigen Platz in der Erfüllung der Verheißungen und als Geschenk des Heils. Jesus erscheint uns als der Sohn, den der Vater „zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat“ (Hebr 1,2) und als das „Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende“ (Offb 21,6). Aber dieses Glaubensbekenntnis ist Ausdruck einer Hoffnung, die sich nur in der Endzeit voll realisieren wird. Der Heilsplan Gottes mit der Menschheit ist weder vollständig enthüllt noch vollständig abgeschlossen. Gegenwärtig befinden wir uns noch in der Zeit der Erfüllung. Es gibt ein „Schon da“, das im Christusereignis definitiv erfüllt ist; aber es bleibt ein „Noch nicht“, auf das es in der Zeit der Kirche, die auch die Zeit der Menschheitsgeschichte ist, zu warten gilt. Das „Noch nicht“ betrifft die messianischen Zeiten. Mit anderen Worten: Das Gottesreich hat sich genaht, es ist angebrochen, die Kirche ist unterwegs zu ihm, es kommt an in der Zeit der Kirche, aber die Kirche ist nicht das Reich Gottes auf Erden.7 Das Reich Gottes ist nicht identisch mit der Kirche. Die Kirche ruft die Menschen zur Umkehr. Sie antizipiert das Gottesreich in den Sakramenten. Sie betet, daß das Gottesreich komme. Aber das Gottesreich kommt durch Gott, es ist ein Gnadengeschenk. Es kann nicht von Menschen errichtet werden (vgl. Lk 12,32; 22,29).

Die Lesung des Alten Testaments, selbst wenn sie im Licht des Christusglaubens erfolgt, erinnert noch immer an die Hoffnung der Anfänge, sie bewahrt einen sich entfaltenden Aspekt, sie erschöpft nicht den Sinn der Schrift, denn der Heilsplan Gottes, der jede Erwartung übersteigt, ist noch nicht abgeschlossen.8 Wir sind noch immer auf der Suche seines Sinns, und das werden wir bleiben, solange die Geschichte nicht abgeschlossen ist und solange sich die Parusie nicht ereignet hat.

4.3 Gültigkeit des Alten Testaments

Welchen Wert hat der Rückgriff auf das Alte Testament in der Zeit, die auf die Ankunft Jesu folgt? Zunächst erinnert er uns daran, daß der Zugang zu den Worten Jesu durch das Hören auf das Gotteswort in seiner Gesamtheit und durch eine persönliche Erfahrung des Christusgeheimnisses geschieht. Diese Wegführung im Begreifen seines Geheimnisses ist uns durch Jesus selbst nach seiner Auferstehung im Bericht der Emmausjünger angezeigt (Lk 24,13-49).9 Er sagt uns auch, daß das Hören auf das Alte Testament nicht nur der Bericht einer Geschichte ist, die Jesus voraufging, wie Israel der Kirche voraufgegangen ist. Es handelt sich darum, die Aktualität des Gotteswortes zu erkennen. Aus eben diesem Grund erklärt die Kirche, daß sie die Tora und die Propheten empfangen hat (Mt 5,17; 7,12; 22,40; Lk 16,16-17; Apg 13,15; 24,14; 28,23; Röm 3,21). Jesus selbst weist den Gesetzeslehrer darauf hin: „Handle danach und du wirst leben“ (Lk 10,25-28; vgl. Mt 22,34-40; Mk 12,28-31).

Die Lesung des Alten Testaments lädt uns schließlich ein, offen zu bleiben für die Unabgeschlossenheit des göttlichen Heilsplans innerhalb der Menschheitsgeschichte, denn das Wachstum des Leibes Christi ist noch nicht abgeschlossen (Kol 2,19). Indem wir uns einer erneuerten Lektüre des Alten Testaments öffnen, achten wir auf die Worte Jesu in ihrer eschatologischen Dimension, und auf das Neue Testament in seinem Geheimnis. Paulus hat diese Worte der Verwunderung ausgesprochen: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege ...“ (Röm 11,33-34). Wir haben nicht das Recht, die Frage nach dem Schicksal des jüdischen Volkes abzuschließen. Der hl. Paulus läßt diese Frage offen, wenn er über Israels Geheimnis meditiert.

Diese Besinnung auf die bleibende Bedeutung des Alten Testaments öffnet uns auch für die jüdische Lektüre der Schrift. Diese Lektüre ist belangvoll für die Bedeutung und die Fragen über den Sinn der Geschichte. In ihren jüngsten Verlautbarungen lädt die Kirche die Christen ein, „die grundlegenden Komponenten der religiösen Tradition des Judentums“ besser kennenzulernen und zu erfahren, „welche Grundzüge für die gelebte religiöse Wirklichkeit der Juden nach ihrem eigenen Verständnis wesentlich sind“.10

V. Der Neue und ewige Bund

„Bund“ ist eine zentrale Kategorie der gesamten Heiligen Schrift. Diese Feststellung ist so wahr, daß seit den Anfängen der Kirche die christliche Lesung der Schrift mit der Erkenntnis von Jesus als dem Messias verbunden ist. Das bedeutet, daß das Neue Testament sich im Sinn des jüdischen Verständnisses von Bund, so wie es uns durch das Alte Testament überliefert ist, begriffen hat. Dies kann nicht ohne Konsequenz sein für unser Verständnis des heutigen jüdischen Volkes und seiner Art und Weise, wie es vom Gotteswort lebt. Um aufrichtig zu sein: Würden wir, die wir gänzlich aufgrund des Christus-Ereignisses einer offenen Schriftlektüre treu bleiben, einer derartigen Bedeutung des Alten Testaments zustimmen, wenn das jüdische Volk aufgehört hätte zu existieren?

5.1 Der Bund: Ausdruck von göttlicher Initiative und Treue

Indem Gott den Mensch zum Leben, zur hegenden Herrschaft über die Erde aufruft und ihn zu seinem Partner macht: „Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich“ (Gen 1,26), gibt er den Sinn der Schöpfung an und enthüllt er das Ziel der menschlichen Geschichte.

Durch die Bundestheologie drückt die Bibel die göttliche Initiative und Treue aus (vgl. Dtn 7,7-9). Gott wendet sich nicht von seinem Heilsplan des Anfangs ab, selbst wenn die menschliche Bosheit ihn erschüttern wollte (Gen 6,5; 8,21; 9,12-17; Jes 54,10; Jer 31,3). Aber der Bund legt gleichermaßen das freie Engagement des menschlichen Partners zugrunde, der sich eingeladen weiß, die Bundesweisungen, die Gesetze und Sitten zu beachten (Dtn 7,11ff; Jos 24).

5.2 Der Bund mit Israel

Israel ist inmitten der Völker das Bundesvolk, weil es auf das göttliche Wort gehört und es angenommen hat: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen“ (Ex 24,7). Diese Annahme konstituiert es von da an als ein (von anderen) unterschiedenes Volk. Es wurde erwählt wegen dieses Hörens und dieses Gehorchens. Die Sendung Israels ist es, den Heilsplan Gottes zu bezeugen, der sich auf alle Völker erstreckt: „Durch deine Nachkommenschaft sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“(Gen 12,3).11 Durch die Erwählung und durch den Bund existiert Israel als (Gottes) Volk (Dm 4,20; 4,37-38).

5.3 Ein Bund oder mehrere Bünde?

Die Liturgie der katholischen Kirche verwendet das Wort Bund in der Einzahl und in der Mehrzahl: „Sieh gnädig, o Herr, auf das Opfer deiner Kirche und erkenne in ihm das Opfer deines Sohnes, der uns wiederhergestellt hat in deinem Bund“ (Eucharistisches Hochgebet Nr. 3); „Du hast vermehrt die Bünde mit ihnen“ (Eucharistisches Hochgebet Nr. 4). Wie kann man diesen Gebrauch des Terminus Bund verstehen? Es gibt in der Bibel nur eine Auffassung vom ewigen Bund (Gen 9,16; Ez 16,60). Aber die Bibel spricht auch von Bünden (Röm 9,4; Eph 2,12): den Bund mit Noach (Gen 9,12), den Bund mit Abraham (Gen 17,2), den Sinaibund (Ex 24,8). In der Eucharistiefeier begehen wir das Gedächtnis „des neuen und ewigen Bundes“. Papst Johannes Paul II. hat am 17. November 1980 bei der Begegnung mit Vertretern der Juden in Mainz erklärt: „Die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten (vgl. Röm 11,29) Alten Bundes und dem des Neuen Bundes ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil unserer Bibel.“ Der Papst fügte noch hinzu: „Eine zweite Dimension unseres Dialogs — die eigentliche und zentrale — ist die Begegnung zwischen den heutigen christlichen Kirchen und dem heutigen Volk des mit Mose geschlossenen Bundes.“12 Wie ist dieser Unterschied im Zugang zu verstehen?

5.4. Die prophetische Verkündigung

Wenn die Schrift von mehreren Bünden spricht, macht sie die Notwendigkeit evident, Vertiefungen und Erneuerungen im Laufe der Zeit vorzunehmen. Sie bestätigt damit nicht die Vorstellung der Ersetzung eines Bundes durch einen anderen, sie unterstreicht im Gegenteil die Treue und die Fortdauer der einmal begonnenen Initiative Gottes.

Der einmal mit dem Volk geschlossene Bund konnte durch die Verfehlungen der Menschen gebrochen sein. Dies ist das Thema der Verkündigung der Propheten (Hos 2,4; Jer 11,10; Ez 16,59; 17,19). Aber nach den Zeiten des ,Bruchs‘ war der neu von den Propheten angesagte Bund gegenüber dem vorhergegangenen nicht von unterschiedlicher Art; es handelt sich immer um den gleichen Bund. Das Neue besteht nicht darin, daß es eine Korrektur oder eine unerläßliche Verwerfung der ursprünglichen Initiative wäre, sondern in der Wiederaufnahme und im Verfolgen des gleichen göttlichen Heilsplans, wie es übrigens das Ziel von Kapitel 31 bei Jeremia ist: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt“ (Jer 31,3), wie der Herr so oft in seinem Erbarmen seinem Volk gegenüber das Versprechen gab (Jer 3,22; Hos 14,5).

5.5 Der Neue Bund in Jesus Christus

An diesen Hinweis der Fortdauer des Bundes schließt sich die Bedeutung an, die durch den Bericht der Evangelien von der Geburt Jesu im Schoß des jüdischen Volkes gegeben ist. Jesus wurde beschnitten, als Erstgeborener ausgelöst, er hat mit seinen Jüngern den Tempel und die Synagogen besucht, er nahm mit ihnen an den jüdischen Festen teil. Sein Wort ist durchtränkt von Sätzen der Propheten und von Bezügen zur Tora. Schlußendlich war er Jude bis in seinen Tod.13 Der hl. Paulus bekräftigt dieses Eingebundensein Jesu in den Bund. Jesus „stellte sich unter das Gesetz“ (Gal 4,4). Er schrieb sein Leben, seine Taten, seine Worte und seine Sendung in das Innere des Gesetzes ein, das dem Volk Israel gegeben worden war. Entsprechend dem Leben nach dem Gesetz hat er seine Unterweisungen an die Fortdauer des Gesetzes und seine Geltung gebunden. Tatsächlich hat er in seiner öffentlichen Lehre sich auf das Gesetz bezogen, das er beobachtet und erfüllt hat, aber gleichzeitig hat er gewisse Interpretationen bestritten im Namen eben dieses Gesetzes und der Propheten.14 Zum Zeitpunkt seines Prozesses und seines Todes hat der Bezug auf die Tora und auf den Bund eine entscheidende und kritische Bedeutung bekommen.

In den letzten Stunden seines Lebens wurde Jesus im Namen des Gesetzes verurteilt (Joh 19,7). Dieser Widerspruch wird besonders im Evangelium des Johannes ins Relief gerückt, aber er erscheint auch bei den synoptischen Evangelien (vgl. Mt 26,65; Mk 14,63; Lk 22,71). Die gleichen synoptischen Evangelien bestätigen außerdem klar, daß Jesus am Abend vor seinem Sterben mit seinen Jüngern das Pascha seines Volkes feiern wollte (Lk 22,15). Jesus fügt sich so in das Gebot ein, das mehrmals in der Schrift gegeben wurde. Die Feier dieses Festes ist nicht nur eine Erinnerung, eine Hervorholung oder ein ritueller Rahmen für die Einsetzung der Eucharistie. Durch dieses Gedächtnis der jüdischen Tradition bestätigt Jesus die Gültigkeit des Sinaibundes im Einklang mit der Schrift: „Nicht mit unseren Vätern hat der Herr diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier stehen, mit uns allen, mit den Lebenden“ (Dtn 5,3). Dieser Vers stellt das Herzstück der jüdischen Pesachliturgie dar. Indem Jesus erklärt: „Ich habe mich sehr danach gesehnt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen“ (Lk 22,15), stellt er sein Leben und Sterben in den Heilsplan Gottes, wie es im liturgischen Gebet der Osternacht zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise zeigt sich Jesus bis zu seinem letzten Atemzug der Tora (dem Gesetz) treu.15

Jesus hatte schon vorher diesen Weg gewählt, als er nach der Taufe (vom Teufel) versucht wurde. In Gethsemani hat er ausdrücklich sein Verharren im Willen des Vaters wieder versichert. Es handelt sich nicht um eine Ersetzung (Substitution), wie man es mit Bezug auf eine Auslegung des Hebräerbriefs16 behauptet hat, sondern um ein neues Ereignis, die Danksagung des Sohnes, der sein Leben hingibt — eingebunden ins Herz des Bundes. In diesem Sinn bedeuten die Zwölf die Anwesenheit des Israels der Väter, zu der Stunde, da sich die Sündenvergebung vollzieht und sich das ewige Hochzeitsmahl ankündigt. Diese Beziehung zum Bund im Augenblick, als Jesus die Eucharistie einsetzt, hat eine hochwichtige Bedeutung für das Verständnis der Beziehung zwischen Altem und Neuen Bund.

Die Eucharistie wiederholt die Lebenszusage, wie sie in der Tora zum Ausdruck kommt,17 und die prophetische Ankündigung einer neuen Zeit für Israel und die Völker.18 Die vier Berichte, die sich auf das Mahl Jesu beziehen,19 bestehen auf dem Neuen des Bundes, wie bei Paulus und Lukas, oder auf der Kontinuität, wie bei Matthäus und Markus. Sie bestätigen den endgültigen Charakter einer Handlung, die eine neue Ära einleitet und einen Ausblick auf das noch kommende Gottesreich (Lk 22,16) beinhaltet. Es scheint, daß man sich von dieser Zweiteilung folgendermaßen eine Vorstellung machen kann: Den ersten judenchristlichen Gemeinden ist die Erinnerung wichtig, daß Jesus sein Blut vergoß „für viele“; den ersten heidenchristlichen Gemeinden ist geradewegs angezeigt, daß sie mit dem „für euch“ (1 Kor 11,24) jetzt zum Bund zugelassen sind. In beiden Traditionen findet sich das Beharren auf etwas Neuem.

Aber warum mußte das Ereignis des Neuen das Leiden und den Tod Jesu einschließen? Dieser Widerspruch zwischen der Verheißung des Lebens und dem Tod am Kreuz, den Paulus als „Skandal“ für die Juden bezeichnet (1 Kor 1,23), hat die Jünger — ohne Zweifel genau wie Jesus selbst — zu einer „relecture“ der Schrifttexte gezwungen, insbesondere der Gestalt des leidenden Gottesknechts bei Jesaja, „durch dessen Wunden“ wir geheilt sind (Jes 53,5). „Gehorsam bis zum Tod“ (Phil 2,8) nimmt Jesus bis zuletzt die Rolle des „Gottesknechts“ auf sich und „macht er die vielen gerecht“ (Jes 53,11).

5.6 Die Beziehung zwischen Altem und Neuen Bund

Auf solche Weise ist eine neue Beziehung zwischen Israel und den Völkern entstanden. Paulus schreibt an die Epheser (2,13-14): „Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, durch Jesus Christus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen. Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden Teile (Juden und Heiden).“ Eine solche Auffassung der Beziehung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund zwingt in keiner Weise, das, was neu ist, durch die Abschaffung des Alten zu begründen.

Der Bund ist alt, insofern er sich auf die Verheißung Gottes gründet. Das jüdische Volk bleibt immer dessen Zeuge.20 Das (Letzte) Mahl Jesu vollzieht sich nicht lediglich im Rahmen des jüdischen Pesach, es ist auf das Pesachgeschehen bezogen. Der alte Bund ist indessen ein neuer im eigentlichen und spezifischen Sinn in betreff der Völker: sie sind schon eingeschlossen in die Segensverheißung an Abraham (Gen 12,3), haben aber jetzt direkten Zugang zum Bund erhalten (Eph 2,18; vgl. Eph 4,5-6). Vom christlichen Glauben her gesehen, ist der Bund auch für das Volk Israel neu, das von Anfang an zur endzeitlichen Erneuerung aufgerufen ist.

Es wäre ein Irrtum, den Charakter des neuen und ewigen Bundes, der durch die Tat Jesu manifest wurde, derart zu begreifen, als würde alles, was vorher war, damit seinen Sinn verlieren. Das Alte Testament bleibt „Wort Gottes“, sowohl für das jüdische Volk als auch für die christliche Kirche.

Schluß

Wir nehmen die Bibel als den Grund und die Inspiration unseres heutigen Lebens an. „Durch die Betrachtung des unermeßlichen Reichtums der hl. Schrift schließen wir uns dem Volk an, dem die Zusage des Heils von Anfang an offenbart wurde, nämlich dem jüdischen Volk.“21 Den bleibenden Wert des Alten Testaments zu erkennen, bedeutet die Chance, den Dialog zwischen Juden und Christen zu eröffnen.

  1. Jesus und seine Jünger bezogen sich auf das Alte Testament (dessen Entstehung noch nicht endgültig abgeschlossen war): sie lasen es im Licht einer lebendigen Tradition. In der apostolischen Zeit kamen fortlaufend jene Schriften hinzu, die wir das Neue Testament nennen.
  2. Vgl. Dogmatische Konstitution „Dei Verbum“ 1
  3. Eine sorgfältige Revision der unterschiedlichen liturgischen Lektionare und der Anmerkungen zu den Bibelübersetzungen, die zuweilen im Gegensatz zu dieser Verlautbarung die Theorie der „Substitution“ (Ersetzung des Alten durch das Neue Testament) einräumen, er-scheint uns notwendig.
  4. Das Problem der Gewalt in der Bibel kann nicht mit dem Hinweis auf den archaischen Charakter der Religion gelöst werden oder durch die Feststellung der fortschreitenden Überwindung der Gewalt im A. T. durch das Gesetz der Liebe, wie sie uns im A. T. wie im N. T. vor Augen tritt. Auch im N. T. gibt es Gewaltakte (z. B. Apg 5,1-11) und Aussprüche, deren Auslegung schwierig ist (z. B. Mt 23,13-36). Selbst der Rekurs auf die historische Bibel-Kritik, wenngleich dieser Rekurs unerläßlich ist, reicht nicht, um dem gerecht zu werden, was der Text aussagt (vgl. Thomas Römer, Dieu obscur [Der dunkle Gott], Labor et fides 1996). Ebenso unbefriedigend ist das Weglassen gewisser Textstellen in der Verlesung. Dieses Zugeständnis mag die pädagogische Fragestellung beantworten, aber es geht nicht auf den Sachverhalt ein, daß die Religion bis in unsere Zeit eine Dimension der Gewalt mit sich führt. Gibt es demnach eine legitime Gewalt? Das Talionsgesetz, d. h. das „Gesetz der Vergeltung“, ist im Gegensatz zur geläufigen Auffassung nicht ein Gesetz der Gewalt, sondern eine Begrenzung (Beschränkung) des Kreislaufs von Gewalt und unbegrenzter Rache (vgl. Ex 21,18-36). Jesus indessen fordert im Evangelium einen noch radikaleren Bruch mit der Gewalt (Mt 5,38-42). In unserer moralischen Gewissensbildung, individuelle wie kollektive, müssen wir uns des Vorhandenseins von Gewalt bewußt sein. Gleichzeitig muß gezeigt werden, daß die Bibel selbst das Prinzip der Unterdrückung und der Ausmerzung von Gewalt vertritt. So ist die Landnahme vorgestellt als militärische Aktion, die von der göttlichen Autorität legitimiert ist. In der Tat hängt der Besitz des Landes von der Treue Israels zum Bund ab (Dtn 4,25-28; 28,47-57). Der Text präsentiert mit Nachdruck die Gewalt Israels gegen die Völker Kanaans als reine Selbstverteidigung (Jos 11,18-20). Als solche ist die Gewalt abgewertet: weil an Davids Händen Blut klebt, kann er den Tempel nicht bauen und muß diese Aufgabe seinem Sohn Salomo überlassen (1 Chr 22,7-10). Schließlich ist der Besitz des Landes nur den Demütigen und Friedensstiftern zugesichert (Ps 37,11; Mt 5,4).
  5. Mt 1,22; 2,15; 2,17; 2,23; 4,14; 8,17; 13,14; 13,35; 21,4; 26,56 par; 27,9; Joh 13,18; 15,25; 17,12; 18,9;19,28;19,36.
  6. Kardinal Joseph Ratzinger, „Israel, die Kirche und die Welt. Ihre Sendungen und ihre Beziehungen nach dem Katechismus der Katholischen Kirche“, französisch in: La Documentation Catholique, Nr. 2091 vom 3. April 1994, 326.
  7. „Israel und die Kirche sind nicht zwei Institutionen, die einander ergänzen. Das permanente Gegenüber Israels und der Kirche ist das Zeichen für den noch unvollendeten Plan Gottes. Das jüdische und das christliche Volk befinden sich so in einem Zustand gegenseitigen Sichin-Frage-Stellens oder, wie der Apostel Paulus sagt, in gegenseitiger ,Eifersucht‘ im Hinblick auf die Einheit“ (Röm 11,14; vgl. Dtn 32,21). Französische Bischofskonferenz, „Die Haltung der Christen gegenüber dem Judentum. Pastorale Handreichungen“ vom 16. April 1973, § VIIb, zitiert nach: R. Rendtorff/H. H. Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn/München 1988, 155. Vgl. auch Johannes Paul II., Ansprache an die Delegierten nationaler Bischofskonferenzen für die Beziehungen mit dem Judentum am 6. März 1982: „Auf verschiedenen, aber letzten Endes dem gleichen Ziel zustrebenden Wegen werden wir – mit Hilfe des Herrn, der niemals aufgehört hat, sein Volk zu lieben (Röm 11,1) – zu dieser wahren Brüderlichkeit in der Versöhnung, der Achtung und vollen Verwirklichung des Planes Gottes in der Geschichte gelangen.“ Ebd. 79.
  8. In den „Hinweisen für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ (Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum) vom 24. Juni 1985 heißt es: „Die typologische Lektüre zeigt erst recht die unergründlichen Schätze des Alten Testaments, seinen unerschöpflichen Inhalt und das Geheimnis, dessen es voll ist. Diese Leseweise darf nicht vergessen lassen, daß das Alte Testament seinen Eigenwert als Offenbarung behält, die das Neue Testament oft nur wieder aufnimmt (vgl. Mk 12,29-31). Die Typologie bedeutet ferner die Projektion auf die Vollen-dung des göttlichen Plans, wenn ,Gott alles in allem ist‘ (1 Kor 15,28).“ Ebd. 96 f.
  9. Die Liturgie der Osternacht beginnt mit der Lesung des Schöpfungsberichts und schließt mit der Feier der Auferstehung Christi, „des Erstgeborenen der Toten“ (Kol 1,18). Die Liturgie reiht die Auferstehung Christi ein in das Schöpfungsvorhaben des Vaters.
  10. Vgl. Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der Konzilserklärung „Nostra aetate“, Artikel 4, Einführung, in: R. Rendtorff/H. H. Henrix, a. a. O., 48 f.
  11. Zitiert nach: ebd. 49.
  12. Zitiert nach: ebd. 75 f. Diese Formulierung wurde wiederholt in den „Hinweisen für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ vom 24. Juni 1985, Kap. 1,3: „Der Papst hat diese bleibende Wirklichkeit des jüdischen Volkes hervorgehoben in seiner Ansprache an die Vertreter der jüdischen Gemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland am 17. November 1980 in Mainz und mit ei-ner bemerkenswerten theologischen Formulierung dargestellt: ,das Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes ...“ (zitiert nach: ebd. 94).
  13. „Jesus war Jude und ist es immer geblieben“ (Hinweise für eine richtige Darstellung, Kap. 3, 12, zitiert nach: ebd. 98).
  14. Jesu Gesetzestreue ist im doppelten Liebesgebot zusammengefaßt: der Liebe zu Gott und zum Nächsten. Dennoch befindet er sich am Anfang einer neuen Sicht des Gesetzes. Es sind nicht allein die pharisäischen Gesetzesbeobachtungen, die ins Visier genommen sind, sondern es ist eine andere Art von Gesetzesgehorsam, die von Jesus angezielt ist. Es ist zweifelsohne von dieser (j esuanischen) Unterweisung her zu verstehen, daß die erste christliche Gemeinde, nicht ohne schmerzliche Debatten (Apg 7;10;11;15) und mit Rücksicht auf den gewaltigen Zustrom von Heiden in die Kirche, zunehmend eine entschiedene Distanz zu den Ritualgesetzen einnahm.
  15. Vgl. Anmerkung 6.
  16. Hebr 8,7.13 hat oft zur These der Hinfälligkeit des Ersten Bundes geführt. Der Brief an die Hebräer — er hat seinen Titel nicht vor der Mitte des 2. Jahrhunderts bekommen — ist eine Darlegung über das Priestertum Christi. Die Adressaten sind, wie sein unbekannter Verfasser, Judenchristen. Datiert ist der Brief nach dem Jahr 70, als die Zerstörung des Tempels zu einer Neuordung des jüdisches Kultes führte. Kapitel 11 enthält ein bemerkenswertes Lob auf den jüdischen Glauben durch die Jahrhunderte hindurch. Den Judenchristen, die nach der Gültigkeit des Ritualgesetzes fragen, setzt der Brief auseinander, daß die neue Heilsökonomie, die Christus ins Leben rief, in Kontinuität mit der alten steht. Durch seine Himmelfahrt ist Jesus ins himmlische Heiligtum eingetreten, das der Archetyp des Tempels in Jerusalem war, und für immer bleibt. Die Tieropfer sowie die Funktion des Hohenpriesters sind auch nicht mehr erforderlich, seit das Opfer Christi am Kreuz dargebracht worden war und seit Christus der alleinige Priester ist. Die Vollendung des Opfers Christi liegt in dessen Gehorsam: „Ja, ich komme, um deinen Willen zu tun“ (Hebr 10,9). Der Brief an die Hebräer sucht den Vollsinn der Schrift („sensus plenior“), um die neue Heilsordnung zu er-klären, die durch die Auferstehung Jesu inauguriert wurde. Aber der Brief enthält sich jeglichen Urteils über die Bedeutung des jüdischen Kultus, wie er sich in der Synagogenliturgie vollzieht.
  17. Vgl. Dtn 30,15-20 und Ex 12,12-13.
  18. Vgl. Jes 42,6: „Ich habe dich geschaffen und dazu bestimmt, der Bund für mein Volk und das Licht für die Völker zu sein“; Jes 49,6: „Es ist zu wenig, daß du mein Knecht bist, nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht für die Völker, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht.“
  19. 1 Kor 11,23-25; Mt 26,26-29; Mk 14,22-25; Lk 22,19 f.
  20. Johannes Paul II. hat gegenüber der jüdischen Gemeinde von Straßburg am 9. Oktober 1988 erklärt, „Ja, durch meine Worte anerkennt die katholische Kirche, in Treue zu den Erklärungen des II. Vatikanischen Konzils, den Wert des religiösen Zeugnisses Ihres von Gott auserwählten Volkes, wie der hl. Paulus schreibt: ,Von ihrer Erwählung her gesehen sind sie von Gott geliebt, und das um der Väter willen.‘ Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung“ (Röm 11,28-29), zitiert nach: Der Apostolische Stuhl 1988. Ansprachen, Predigten und Botschaften des Papstes. Erklärungen der Kongregationen. Vollständige Dokumentation, Bachem Verlag, Vatikan/Köln o. J., 835.
  21. Johannes Paul II., Ansprache zum 25. Jahrestag von „Dei Verbum“ am 14. Dez. 1990, DC Nr. 2021, 3. Febr. 1991, 115.

Übersetzt aus dem Französischen von Alwin Renker


Jahrgang 6/1999 Seite 99



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