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Elias H. Füllenbach

Die Heiligsprechung Edith Steins — Hemmnis im christlich-jüdischen Dialog?

„Kein menschliches Auge hat je gesehen, kein Ohr hat je gehört und in keines Menschengeist ist gedrungen, was dort in Auschwitz durch Menschenhand verübt wurde,“1 äußert der Franziskanerpater Herman Leo van Breda im Jahr 1967 über seinen ersten Besuch im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Noch im April 1942 hatte van Breda Edith Stein in Echt persönlich kennengelernt — wenige Monate bevor sie in Auschwitz umgebracht wurde.

Edith Stein in Breslau

Edith Stein in Breslau (ca. 1913)
Foto: Edith-Stein-Archiv, Karmel
„Maria vom Frieden“, Köln

Die Gespräche mit der Philosophin „sind in meinem Gedächtnis eingebrannt als eine der eindrucksvollsten Begegnungen, die ich in meinem Leben gehabt habe“.2 Viele, die dieser außergewöhnlichen Frau in ihren Lebensstationen als Jüdin, Philosophin, Konvertitin, Lehrerin und Ordensfrau noch persönlich begegnet sind, sprechen voller Bewunderung von ihr. Ihre Heiligsprechung am 11. Oktober 1998 hat viele Menschen stark bewegt. Zu ihren Lebzeiten gehörte sie hingegen zur gehaßten Gruppe der „Judenchristen“, jener doppelt ausgegrenzten Minderheit im NS-Staat, die nicht nur der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war, sondern meist auch von den Kirchen im Stich gelassen wurde und unter antijüdischen Ressentiments von christlicher Seite zu leiden hatte.3

Im folgenden geht es um die Fragen, die bereits im Zusammenhang mit ihrer Seligsprechung 1987 gestellt worden sind. Wie können wir an Leben und Tod dieser „Judenchristin“ erinnern? Wie verhindern wir eine christliche Vereinnahmung der Schoa? Dürfen wir diese Frau zu einem Stolperstein zwischen Juden und Christen machen? Sicher nicht! Um einiges an ihr und an der Heiligsprechung durch Papst Johannes Paul II. verständlich zu machen, werfen wir einen Blick auf ihr Leben und die Umstände ihres Todes.

Das Judentum im Leben und Werk Edith Steins

„Als zu Beginn des Jahres 1933 das ,Dritte Reich‘ errichtet wurde, war ich seit etwa einem Jahr Dozentin am ,Deutschen Institut für Wissenschaftliche Pädagogik‘ in Münster i. W“,

beginnt Edith Stein ihre autobiographische Schrift („Wie ich in den Kölner Karmel kam“), die sie 1938 ihrer Oberin als Weihnachtsgeschenk überreichte.4 Auf den ersten Seiten berichtet sie dann von einem Gespräch mit einem katholischen Lehrer, der an einer Arbeitsgemeinschaft des Instituts teilnahm. Er hatte ihr erzählt,

„was amerikanische Zeitungen von Greueltaten berichteten, die an Juden verübt worden seien ... Ich hatte ja schon vorher von scharfen Maßnahmen gegen die Juden gehört. Aber jetzt ging mir auf einmal ein Licht auf daß Gott wieder einmal schwer Seine Hand auf Sein Volk gelegt habe und daß das Schicksal dieses Volkes auch das meine war“5

Ihr wird plötzlich bewußt, daß sie sich ihrer jüdischen Herkunft nicht entziehen kann und daß auch ihre Taufe sie nicht schützen wird. In den Semesterferien wird ihr zwar noch „von allen Seiten versichert, daß ich für meine Stellung nichts zu fürchten habe“6

aber nur wenige Wochen später (im April 1933) wurde ihr vom Geschäftsführer des Instituts angedeutet, ihre Vorlesungen einzustellen. Wie realistisch sie die bedrohliche Lage der Juden in Deutschland seit der „Machtergreifung“ Hitlers erfaßt hat, macht ein von ihr im September 1933 geschriebener Text deutlich:

„Die letzten Monate haben die deutschen Juden aus der ruhigen Selbstverständlichkeit des Daseins herausgerissen. Sie sind gezwungen worden, über sich selbst, ihr Wesen und ihr Schicksal nachzudenken. Aber auch vielen andern, jenseits der Parteien Stehenden hat sich durch die Zeitereignisse die Judenfrage aufgedrängt ... ,Wenn ich nur wüßte, wie Hitler zu seinem furchtbaren Judenhaß gekommen ist‘, sagte eine meiner jüdischen Freundinnen in einem jener Gespräche, in denen man um Verständnis dessen, was da über einen hereinbrach, rang. Die programmatischen Schriften und Reden der neuen Machthaber gaben Antwort darauf.“7

Edith Stein wurde am 12. Oktober 1891, am Jom Kippur, in Breslau geboren. Zwei Jahre später starb ihr Vater — eine schwere Belastung für die Mutter, die den familiären Holzhandelsbetrieb allein weiterführen mußte. Das aufgeschlossene und recht begabte Mädchen hatte sich im Alter von 15 Jahren bereits „das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt“.8

Edith Steins Familie — Schalom Ben-Chorin nennt ihr Elternhaus „traditionell, ohne orthodox zu sein“9 —, die sich stark mit dem Deutschen Reich identifizierte, hatte sich auch auf Grund der zunehmenden Assimilation mehr und mehr von traditionellen jüdischen Vorstellungen gelöst. Edith Stein schreibt z. B. über ihre Mutter:

„Sie selbst ist immer eine deutsche Patriotin gewesen. Sie hat i. J. 1871 geheiratet, und das Hochzeitslied ist auf die Melodie: ,Es braust ein Ruf wie Donnerhall‘ gedichtet worden. Darum kann sie auch heute gar nicht darüber hinwegkommen, daß man ihr ihr Deutsch-tum abstreiten will.“10

Aus dieser deutsch-patriotischen Einstellung heraus meldet sich Edith Stein gleich nach dem Staatsexamen 1915 — sie hatte Philosophie, Psychologie, Geschichte und Germanistik in Breslau und Göttingen studiert — zum Sanitätsdienst beim Deutschen Roten Kreuz. Anfängliche Kriegsbegeisterung und Siegesgewißheit wandeln sich bei ihr jedoch bald in den Wunsch nach Frieden. Aussagen über ihre Beziehung zum Judentum gibt es aus dieser Zeit kaum. Nach ihrem Lazarettdienst arbeitet sie wieder an ihrer Dissertation bei Edmund Husserl, dessen Assistentin sie nach seinem Wechsel nach Freiburg wird. Sie setzt sich intensiv mit der Phänomenologie Husserls und der Göttinger Schule auseinander.11

Im Herbst 1917 fällt an der Ostfront Adolf Reinach, Lehrer und Freund Edith Steins aus dem Kreis der Göttinger Phänomenologen. Die Begegnung mit seiner Witwe sollte Edith Steins Leben entscheidend verändern: Pater Johannes Hirschmann SJ, der in Echt noch wenige Tage vor ihrem Tod mit Edith Stein sprach, erinnert sich:

„Der entscheidendste Anlaß zu ihrer Konversion zum Christentum war, wie sie mir erzählte, die Art und Weise, wie die ihr befreundete Frau Reinach in der Kraft des Kreuzesgeheimnisses das Opfer brachte, das ihr durch den Tod ihres Mannes an der Front des Ersten Weltkrieges auferlegt war.“12

Am 1. Januar 1922 läßt sie sich nach langer und ehrlicher Glaubensprüfung in der Pfarrkirche St. Martin in Bergzabern taufen.13

Besonders für ihre Mutter ist die Nachricht von der Konversion ein Schock. Die ablehnende Haltung einiger Verwandter schmerzt Edith sehr. Sie hält aber weiterhin Kontakt. Im August 1932 schreibt sie an ihren in Kolumbien lebenden Neffen Werner Gordon anläßlich seiner Heirat mit der Kolumbianerin Tulia Duque:

„Aus Deinem Brief an mich glaube ich entnehmen zu können, daß Du zum Zweck der Heirat übergetreten bist ... Nun, wo Du dem Namen nach zur Kirche gehörst, müßtest Du doch schon rein aus Ehrlichkeit wünschen, auch innerlich dazuzugehören.“14

Seiner Konversion „aus äußeren Gründen“ steht sie kritisch gegenüber. Für Edith Stein war ihre Konversion eine bewußte und sehr persönliche Glaubensentscheidung gewesen. Deswegen hat sie nie jüdische Verwandte oder Freunde zu missionieren versucht.

Am 14. Oktober 1933 tritt Edith Stein in den Konvent der Karmelitinnen in Köln ein und erhält bei der Einkleidung den von ihr gewünschten Namen Teresia Benedicta a Cruce, mit dem sie künftig alle Briefe — auch an die Familie — unterschreiben wird. Einige ihrer Verwandten sehen darin eine Flucht vor den Zeitereignissen. Ihrer Nichte Susanne M. Batzdorff geb. Biberstein antwortet Edith:

„Du mußt verstehen, daß ich nicht in den Karmel gehe, um mich von den Meinen loszusagen. Ich werde auch als Nonne immer zur Familie gehören und in engem Kontakt mit euch allen bleiben. Und wenn jemand glaubt, daß ich mich dort in Sicherheit bringen will, so ist das ganz falsch. Vor dem, was hier geschieht, kann mich der Orden auch nicht bewahren.“15

Vor allem die Mutter leidet unter der Entscheidung ihrer Tochter. Dennoch reißt die Verbindung zwischen Tochter und Mutter nicht ab. Mit Erlaubnis der Oberin darf Edith Stein jede Woche einen Brief nach Hause schreiben. Das Verhältnis der beiden zueinander bleibt dennoch schwierig. Als ihre Mutter 1936 schwer krank wird, erklärt Edith Stein einer befreundeten Ursulinin:

„Sie schreiben, ... der Herr werde meiner Mutter ihre Messiashoffnung anrechnen. Wenn sie die nur hätte! Der Messiasglaube ist bei den heutigen Juden, auch bei den gläubigen, fast verschwunden. Und fast ebenso der Glaube an ein ewiges Leben. Darum habe ich meiner Mutter weder die Konversion noch den Eintritt in den Orden je verständlich machen können.“16

Ganz anders klingt da ein Brief, den sie nach dem Tod ihrer Mutter an Schwester Callista Kopf OP in Speyer schickte:

„Meine Mutter hat bis zuletzt an ihrem Glauben festgehalten. Aber weil ihr Glaube und das feste Vertrauen auf ihren Gott von der frühesten Kinderzeit bis in ihr 87. Jahr standgehalten hat ..., darum habe ich Zuversicht, daß sie einen sehr gnädigen Richter gefunden hat und jetzt meine treueste Helferin ist, damit auch ich ans Ziel komme.“17

Nach dem Tod der Mutter 1936 bricht die Familie durch die zunehmend antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten auseinander. Einige ihrer Geschwister werden einige Jahre später von den Nationalsozialisten umgebracht, die anderen Familienmitglieder überleben im Exil.

Edith Steins Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus

Noch im März 1939 hofft Edith Stein, „daß die Herrschaft des Antichrist [d. h. Hitlers] wenn möglich, ohne einen neuen Weltkrieg, zusammenbricht und eine neue Ordnung aufgerichtet werden kann“18 Bereits im Frühjahr 1933 hatte sie versucht, Papst Pius XI. zu einem offiziellen Wort gegen den Antisemitismus zu bewegen. In den Jahren 1937/38 wurde zwar eine Enzyklika über Rassismus und Antisemitismus vorbereitet, durch den Tod Pius XI. kam es jedoch nicht mehr zu ihrer Veröffentlichung.19 Entschieden hat sie sich auch schon vor 1933 gegen antisemitische Äußerungen gewandt. So richtete sie im März 1932 einen Brief an den Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch, Bischof Sigismund Waitz, der ihr sein zweibändiges Werk über den Apostel Paulus zugeschickt hatte:

„Etwas schmerzlich berührten mich hier wie schon im I. Band gelegentliche Bemerkungen über das Judentum. Wenn man im Judentum geboren und aufgewachsen ist, kennt man seine hohen menschlichen und sittlichen Erbwerte, die dem Außenstehenden meist verborgen bleiben, und empfindet die Urteile, die sich nur an die nach außen stark hervortretenden Verfallserscheinungen halten, als hart und ungerecht.“20

Edith Stein hatte selbst den Antisemitismus ihrer Zeit zu spüren bekommen. Ihre vier Versuche zur Habilitation zwischen 1918 und 1932 waren nicht nur vergeblich, weil sie eine Frau, sondern auch weil sie eine Jüdin war. So hatte sie schon 1919 in einem Brief an Roman Ingarden zur Möglichkeit, ihre Habilitation an der Universität in Hamburg einreichen zu können, geschrieben:

„Viel Hoffnung habe ich nicht, denn die Philosophie ist dort durch 2 jüdische Ordinarien vertreten (Stern und Cassirer) und bei dem ungeheuren Antisemitismus, der jetzt allgemein herrscht, möchte ich Stern nicht darum bitten, nun auch noch mich vorzuschlagen.“21

Ihre in den ersten Klosterjahren überarbeitete Habilitationsschrift von 1931 wird 1936 unter dem Titel „Endliches und ewiges Sein“ in Druck gegeben, doch kurze Zeit später von der Gestapo beschlagnahmt.

Im Zusammenhang mit der Volksabstimmung am 10. April 1938, in der die deutsche Bevölkerung aufgerufen wurde, nach dem „Anschluß“ Österreichs die Regierung Hitlers zu bestätigen, kommt es im Kölner Karmel zu einem Konflikt:

„Immer wieder beschwor sie die Schwestern, Hitler nicht zu wählen, ganz gleich, welche Folgen für den einzelnen oder die Gemeinschaft daraus entstünden. Er sei ein Feind Gottes und werde Deutschland mit sich ins Verderben reißen.“22

Energisch steht sie auch gegenüber ihren Mitschwestern für ihre Überzeugung ein. Bei der Stimmabgabe enthält sich Edith Stein als einzige der Stimme mit der Begründung, sie sei „nichtarisch“. Matthias Böckel stellt fest, „daß ab diesem Zeitpunkt der Leidensweg der Jüdin Edith Stein beginnt, muß sie doch jederzeit mit ihrer Verfolgung rechnen. Hinzu kommt die Angst, daß ihre Anwesenheit im Karmel die Mitschwestern gefährden könnte.“23 Spätestens nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 werden im Karmel Überlegungen nach einer Versetzung Edith Steins ins Ausland verfolgt. In der Silvesternacht 1938 wird sie schließlich in den Karmel im niederländischen Echt gebracht. Kurze Zeit darauf kommt auch ihre leibliche Schwester Rosa, die nach dem Tod der Mutter ebenfalls zum Katholizismus übergetreten ist, nach und arbeitet als Angestellte im Pfortenbetrieb des Klosters.

In Echt wendet sich Edith Stein, neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit über die „Kreuzeswissenschaft“ des Karmeliterheiligen Johannes vom Kreuz, auch wieder der „Judenfrage“ — diesmal aus theologischer Sicht — zu. 1940/41 übersetzt sie einen Artikel von Gustav E. Glosen SJ,24 damals Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Valkenburg, der 1939 in der Zeitschrift „Verbum Domini“25 erschienen war, unter dem Titel „Die sogenannte Judenfrage, erhellt durch Aussprüche aus der Heiligen Schrift“. In diesem Aufsatz wird „allein der religiöse, theologische und zwar biblische Standpunkt berücksichtigt“: „Was für ein Mensch ist der Jude? Was für ein Jude ist Christus?“ Bei der Beantwortung der ersten Frage kann sich der Autor nicht von seinen antijüdischen Vorstellungen lösen; für ihn sind die Juden für den Tod Jesu verantwortlich. Besonders betont er jedoch die Tatsache, daß Jesus, dessen Muttersprache „sicher semitisch“ war und dessen Vorstellungen „bestem israelitischen Prophetentum“ entsprachen, im strengsten Sinne ein Jude, „ein Kind dieses Volkes“, gewesen sei, „da er aus dem Stamm Juda hervorgegangen ist“.

Im dritten Teil „Wechselseitige Ergänzung und Erhellung der behandelten Fragen“ erklärt Pater Glosen: „Jedoch eine bis ins Letzte gehende, vollkommene Erwägung über das jüdische Volk ist nicht möglich ohne Berücksichtigung eben jener Tatsache, daß Jesus, der Heiland, auch ein Jude war und aus diesem Volk Mensch werden wollte. Entsprechend wird auch die Tatsache, daß unser Herr ein Jude gewesen ist, nur dann richtig eingeschätzt, wenn man zugleich beachtet, was für ein Volk das jüdische Volk gewesen ist.“ Das jüdische Volk werde deshalb immer „mit unserem Herrn blutsverwandt“ bleiben: „Darum werden die Freunde Jesu zwar all das von Herzen verwerfen, was verwerflich ist, werden aber stets eingedenk bleiben, daß es sich um die Glieder des Volkes handelt, aus dem Gott Mensch werden wollte, und die dem Blute nach unserm Herrn immer näherstehen werden als alle andern Völker.“ Außerdem bestehe „die Kirche des Neuen Bundes nicht ohne alle Beziehung zur Kirche des Alten Bundes. Jedoch das Band zwischen beiden ist Christus allein“. Durch „jene erstaunlichen Gegensätze zwischen höchsten Gnaden und menschlichem Jammer, teuflischen Abfall und Erwählung“ bringe das Volk Israel „in besonderer Klarheit die Eigentümlichkeit des ,erlösungsbedürftigen Menschen‘ zur Ausprägung“. Die Kirche sehe darin die „Frohbotschaft der Erlösung“ und auch eine Begründung ihres eigenen Glaubensbekenntnisses.

Edith Stein hätte sich wohl kaum die Arbeit der Übersetzung gemacht, wenn sie nicht — zumindest teilweise — mit den Ansichten des Autors einverstanden gewesen wäre. So greift sie in Gesprächen mit Johannes Hirschmann SJ die Formulierung der „Blutsverwandtschaft Jesu mit dem jüdischen Volk“ immer wieder auf:

„Sie ahnen nicht, was es für mich bedeutet, wenn ich ... im Blick auf den Tabernakel und auf das Bild Mariens mir sage: sie waren unseres Blutes.“26

Schon 1937 hatte sie in ihrer Publikation „Das Gebet der Kirche“ das Judesein Jesu betont:

„Daß Jesus die alten Segenssprüche betete, wie sie noch heute über Brot, Wein und Feldfrüchte gebetet werden, bezeugt uns die Erzählung von seinem letzten Zusammensein mit seinen Jüngern ... Und vielleicht gibt uns gerade dieses Zusammensein den tiefsten Einblick in das Beten Christi und den Schlüssel zum Verständnis des Gebetes der Kirche.“27

Es ist also davon auszugehen, daß sie den Artikel Closens besonders wegen seiner über die damals übliche Sicht des Judentums hinausgehenden positiven Aussagen geschätzt hat.

„Sühne“ und „Stellvertretung“ bei Edith Stein

In ihrem 1939 in Echt verfaßten Testament schreibt sie:

„Ich bitte den Herrn, daß er mein Leben annehmen möchte zu seiner Ehre und Verherrlichung, zur Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes und damit der Herr von den Seinen aufgenommen werde und sein Reich komme in Herrlichkeit, für die Rettung Deutschlands und den Frieden der Welt.“28

Auffallend ist hier ihre Formulierung, daß sie „Sühne für den Unglauben des jüdischen Volkes“ leisten wolle. Daß Edith Stein diesen in der vorkonziliaren Kirche weit verbreiteten antijüdischen Topos aufgreift, macht deutlich, daß auch sie selbst sich nicht ganz von judenfeindlichen Vorstellungen ihrer Zeit freimachen kann. Den Sühne- und Opfergedanken bezieht Edith Stein auf ihr persönliches Schicksal und das Leiden der jüdischen Bevölkerung. Sühne und Stellvertretung sind für Edith Stein eng mit dem Leiden Jesu am Kreuz verbunden; Sühneleistung bedeutet für sie daher echte („Kreuzesnachfolge“, d. h. „Berufung zum Leiden mit Christus und dadurch zum Mitwirken an seinem Erlösungswerk“.29 Aus diesem Sühneverständnis heraus sieht sie ihre persönliche Aufgabe gerade darin, für den Frieden der Welt, für den „Unglauben des jüdischen Volkes“, für die Schuld der Nationalsozialisten zu sühnen. Aus heutiger christlicher Sicht ist dieser Sühnegedanke so nicht mehr haltbar, von jüdischer Seite war und ist er ohnehin völlig unverständlich. Interessant an Edith Steins Sühne- und Stellvertretungsvorstellungen bleiben in unserem Zusammenhang aber ihre immer wieder geäußerten Solidaritätsbekundungen zu „ihrem“ jüdischen Volk. So identifiziert sie sich beispielsweise sehr mit der biblischen Gestalt der Ester:

„Aber ich vertraue ... darauf, daß der Herr mein Leben für alle genommen hat. Ich muß immer wieder an die Königin Ester denken, die gerade darum aus ihrem Volke genommen wurde, um für das Volk vor dem König zu stehen.“30

Ebenso hat sie eine besondere Beziehung zum Propheten Elija. In ihrem Artikel über „Geschichte und Geist des Karmel“, der 1935 in der Augsburger Post-Zeitung erschien, heißt es:

„Wir, die wir im Karmel leben und unseren heiligen Vater Elija in unseren täglichen Gebeten anrufen, wissen, daß er für uns keine schattenhafte Gestalt aus grauer Vorzeit ist ... Nach dem Zeugnis der Geheimen Offenbarung wird er wiederkehren, wenn das Ende der Welt naht, um im Kampf gegen den Antichrist für seinen Herrn den Märtyrertod zu erleiden.“

Als „Antichrist“ bezeichnet sie in dieser Zeit gewöhnlich nur noch die Person Hitlers, den sie als neuen „Haman“, der dem Volk der Juden „in bitt‘rem Haß den Untergang geschworen“ hat, erkennt.31

In ihrer Ester-Typologie wie auch in ihrer Interpretation des Propheten Elija tritt besonders der Gedanke des Martyriums hervor. Das mutige Eintreten für das eigene Volk, den Glauben oder das Ordensideal kann, so Edith Stein, sogar das Opfer des eigenen Lebens erforderlich machen. Schon in einem Brief von 1930 stellt sie die „Dringlichkeit des eigenen holocaustum“32 heraus, und einem an Krebs erkrankten Professor in Münster schreibt sie: „Ich glaube, daß ein solches Leiden, wenn es mit bereitwilligem Herzen angenommen wird, vor Gott als wahres Martyrium gilt.“33

Diese theologischen Gedanken treten in ihrer Zeit in Echt mehr und mehr in den Vordergrund, zumal die Situation nach der deutschen Besetzung der Niederlande noch bedrohlicher wird. Nachdem die nationalsozialistischen Machthaber im Dezember 1941 alle in Holland lebenden Juden für staatenlos erklärt hatten, versuchen die beiden Schwestern, Echt zu verlassen und in die Schweiz zu gelangen. Da Edith Stein jedoch eine illegale Flucht sowie eine Trennung von ihrer Schwester Rosa ablehnt, werden langwierige und recht umständliche Ausreise- bzw. Einreiseverhandlungen begonnen, doch die eidgenössische Fremdenpolizei wie auch die Ordenskongregation des Vatikans verzögern die Ausreise.

Edith Stein in Köln

Edith Stein in Köln, Dezember 1938.
Foto: Edith-Stein-Archiv, Karmel „Maria
vom Frieden“, Köln

Als Reaktion auf die ersten Deportationen aus den Niederlanden hatten die holländischen Kirchengemeinschaften beim zuständigen Reichskommissar Seyß-Inquart gegen die antijüdischen Maßnahmen protestiert, und als dieser versprach, die getauften Juden zu verschonen, wenn die Kirchen sich nicht mehr einmischten, ließen die katholischen Bischöfe Hollands dennoch das Protestschreiben zusammen mit einem Hirtenwort gegen die Judenverfolgung am 26. Juli 1942 in allen katholischen Kirchen verlesen, während ein Großteil der protestantischen Kirchen vor einer Veröffentlichung des Protestes zurückschreckte. Aus einem Racheakt heraus werden am 2. August 1942 alle katholisch getauften Juden verhaftet — mit ihnen auch Edith und Rosa Stein. Sie werden über Amersfoort in das Sammellager Westerbork gebracht. Ein ähnliches Schicksal erleiden auch andere Katholiken jüdischer Herkunft, wie die Wirtschaftsjournalistin Ruth Kantorowicz, die Kinderärztin Lisamaria Meirowsky, der Franziskanerbruder Wolfgang Rosenbaum, die Dominikanerin Judith Mendes da Costa, die sieben Geschwister Löb (von ihnen waren sechs Mitglieder des weiblichen bzw. männlichen Trappistenordens) und viele andere.34 Von Westerbork wurde Edith Stein wenige Tage später nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie wahrscheinlich in der Nacht der Ankunft, vom 8. auf den 9. August 1942, zusammen mit ihrer Schwester Rosa und den anderen Deportierten vergast wurde.

„Komm, wir gehen für unser Volk!“

Diesen Satz35 soll Edith Stein noch zu ihrer Schwester Rosa während der Verhaftung in Echt gesagt haben. Die Solidarität mit dem jüdischen Volk, möglicherweise auch ihr Sühneverständnis, scheinen in diesen Worten angesprochen zu werden. Gewöhnlich wird „unser Volk“ mit dem jüdischen Volk gleichgesetzt, doch Pater Johannes Hirschmann SJ, der mit Edith Stein noch wenige Tage vor der Verhaftung gesprochen hat, wies in seiner Ansprache beim Katholikentag 1980 in Berlin auf eine andere Interpretationsmöglichkeit hin: „Aber sie war nicht nur eine ihrem Volk in Liebe verbundene Jüdin; sie war gleichzeitig eine dem deutschen Volk in Liebe verbundene Deutsche. Und als solche hat sie sich gefragt — sie hat es mir oft gesagt —: „Wer sühnt für das, was am jüdischen Volk im Namen des deutschen Volkes geschieht?“36 Nach dieser Interpretation versuchte Edith Stein, sich gegen die Verbrechen „ihres“ deutschen Volkes aufzulehnen, indem sie das Schicksal des jüdischen Volkes, das auch „ihr“ Volk war, mitging. Auch Susanne M. Batzdorff äußert diese Vermutung und interpretiert die Aufforderung „Komm, wir gehen für unser Volk!“ folgendermaßen:

„Und da kam mir die Idee, daß sie möglicherweise damit das jüdische Volk überhaupt nicht gemeint hat, sondern das deutsche, das ja einstmals auch ,ihr Volk‘ gewesen war, das sie liebte und für das sie im Ersten Weltkrieg leidenschaftlich bereit war, Opfer zu bringen. In diesem schmerzlichen Augenblick mag sie diese letzte Fahrt in den Tod als Opfergang für das Volk gesehen haben, das sie und ihre Schwester nicht nur ihres Deutschtums beraubt hatte, sondern sie zum Tode verurteilt hatte, nur ihrer jüdischen Abstammung wegen.“37

Edith Stein steht — wie Gustav Glosen SJ in seinem Artikel zur „Judenfrage“ — in der Spannung, an den traditionellen antijüdischen Vorstellungen der Kirche festzuhalten, sich aber gleichzeitig auch von ihnen lösen zu wollen. Felix Schandl OCarm stellt daher in seiner Studie zu den jüdischen Bezügen und Strukturen in Edith Steins Werk fest:

„Edith Steins christliche Sicht des Judentums offenbart bemerkenswert positive, ja gelegentlich einzigartige und ihrer Zeit vorauseilende Ansätze einer Theologie des Judentums und des christlich-jüdischen Verhältnisses. Damit einher und oft in enger Verbindung gehen aber auch charakteristische Einseitigkeiten, Unausgewogenheiten, ja Pauschalurteile ihrer Sicht und Wahrnehmung des Judentums. Diese sind weder zu übersehen noch zu verschweigen.“38

Wenn im christlich-jüdischen Dialog das Leben Edith Steins thematisiert wird, muß daher deutlich auf ihre positive wie negative Sicht des Judentums hingewiesen werden.

Edith Steins Tod in Auschwitz — ein Martyrium?

Der Tag, an dem Edith Stein zusammen mit ihrer Schwester Rosa verhaftet wurde, war der 10. Sonntag nach Pfingsten, und im Communiovers der Meßfeier hieß es: „Acceptabis sacrificium justitiae, oblationes et holocausta [sic!], super altare tuum, Domine. = Empfangen wirst Du das Opfer der Gerechtigkeit, Gaben und Brandopfer auf Deinem Altare, o Herr!“39 Laut W. P. Eckert OP wurde Edith Stein

„... durch eine lange Schule vorbereitet auf den letzten Weg, den Weg des Totalopfers ... Für Edith Stein war Auschwitz wirklich das Holocaust, das Ganzopfer, in dem sich erfüllte, um was sie gebeten hatte: als Versöhnungsopfer für ihr Volk sterben zu dürfen.“40

Unklar bleibt, für welches Volk sie ein Opfer darbringen wollte, ob sie die Schuld der Deutschen oder den „Unglauben des jüdischen Volkes“ sühnen oder ein Zeichen der Solidarität dem jüdischen Volk gegenüber geben wollte; es ist auch nicht sicher, ob sie angesichts der Gaskammern an den Deutungsversuchen ihres eigenen Todes festgehalten hat.

Als offizieller Grund ihrer Seligsprechung wurde angegeben, daß sie als Zeugin für den christlichen Glauben „in odium fidei“ ermordet worden sei und daher als Märtyrerin verehrt werden dürfe. Christliche Märtyrerin sei sie deswegen, weil zum einen ihre Verhaftung als Racheakt auf den Protest der holländischen Bischöfe folgte und zum anderen weil sie selbst ihren Tod als „Kreuzesnachfolge“ und „Holocaustum“ christlich deutete. Doch die Nationalsozialisten hatten Edith Stein nicht persönlich im Auge. So stellt sich die Frage, warum nicht alle katholischen „Judenchristen“, die wie Edith Stein deportiert und vergast wurden, als Märtyrer anzusehen sind. Sind die anderen dann nicht auch Märtyrer? Die Karmelitinnen in Köln sprechen daher bis heute, wenn sie Edith Steins gedenken, auch von ihren Gefährtinnen und Gefährten.

Außerdem ist fraglich, ob im Protest der holländischen Bischöfe, der zwar zur Verhaftung Edith Steins führte, auch der Grund ihrer Ermordung liegt. Die Nationalsozialisten handelten aus rassistischen und nicht aus religiösen Gründen. Edith Steins Tod unterscheidet sich daher nicht von dem Tod all der anderen Opfer der Schoa. Sie wurde vergast, weil sie Jüdin war — nicht wegen, sondern trotz ihrer Taufe. Sie kann daher insofern eine jüdische Märtyrerin genannt werden, wenn man sie wie D. Krochmalnik in der jüdischen Tradition des Kiddusch HaSchem, der „Heiligung des Göttlichen Namens“, sieht.41 Ob allerdings diese jüdische Opfertheologie auch auf die Schoa bezogen bzw. ob Edith Stein als Konvertitin zum Christentum in diese jüdische Tradition hineingenommen werden kann, bleibt fraglich.

Daß es auch von christlicher Seite schwierig bleibt, in ihr eine christliche Märtyrerin zu sehen, zeigt sich im Selig- bzw. Heiligsprechungsprozeß selbst. Da war zunächst gar nicht die Rede von einem Märtyrertod Edith Steins, sondern es wurde gefragt, ob sie nach der üblichen Terminologie als „Bekennerin“ des christlichen Glaubens zu bezeichnen sei, d. h. ob sie ein dem Vorbild Jesu entsprechendes Leben geführt habe und dadurch auch für andere Christen Vorbild sein könnte.

Der Seligsprechungsprozeß Edith Steins weist nun die Besonderheit auf, daß nicht nur die heroischen Tugenden, sondern auch das Martyrium anerkannt wurden. Es drängt sich der oft zu hörende Verdacht auf, daß Edith Stein u. a. deswegen zur Märtyrerin erklärt wurde, weil damals noch kein Wunder vorlag. Unterstützt wird dieser Verdacht dadurch, daß nun die Heiligsprechung deswegen vorgenommen wird, weil es ein Wunder, nämlich eine Krankenheilung, gegeben hat.42 Dieses Wunder ist jedoch für die Heiligsprechung einer Märtyrerin gar nicht erforderlich. Unklar ist außerdem, daß die Verleihung des Märtyrerinnentitels vorgenommen wurde, obwohl keine dafür notwendige offizielle Todesbestätigung vorliegt. Das Verfahren erscheint deswegen insgesamt als recht widersprüchlich.

Der Verfasser stimmt daher der Meinung Daniel Krochmalniks, Dozent an der Jüdischen Hochschule in Heidelberg, zu, daß Edith Stein zwar sicherlich eine Märtyrerin war. „Ob sie eine christliche oder eine jüdische Märtyrerin war, ist objektiv wie subjektiv unentscheidbar und macht ihren Fall für beide Glaubensgemeinschaften so problematisch.“43 Papst Johannes Paul II. versuchte gerade diese Problematik auszudrücken, als er während der Seligsprechungsfeier im Köln-Müngersdorfer Stadion betonte: „Im Vernichtungslager ist sie als Tochter Israels ,zur Verherrlichung des heiligsten Namens (Gottes)‘ und zugleich als Schwester Teresia Benedicta vom Kreuz — als vom Kreuz Gesegnete — gestorben.“44

Daß Edith Stein bei der Seligsprechung in Köln dennoch der Titel einer christlichen Märtyrerin verliehen wurde, liegt u. a. an ihren eigenen Aussagen. Als Konvertitin und Ordensfrau hat Edith Stein ihren Tod christlich gedeutet, auch wenn sie sich auf jüdische Vorbilder wie die Königin Ester beruft. Gerhard L. Müller sieht gerade darin, daß Edith Stein „ihrem gewaltsamen Tod ... im voraus die von ihr selbst bestimmte Prägung verliehen“45 habe, ihr christliches Martyrium: „Nicht die Intention der Mörder von Auschwitz vermag den Tod Edith Steins zu einem Martyrium zu machen, sondern allein ihre eigene freie, liebende Selbstverfügung in das Meer der verzeihenden und bereichernden Liebe Gottes hinein.“46 Doch dürfen wir den Sinn, den sie in ihrem Tod sah, einfach übernehmen? Wie ist aber eine Selig- bzw. Heiligsprechung Edith Steins überhaupt möglich, die letztlich ihrem Tod einen Sinn zu geben versucht?

Formen der Erinnerung

Im Gedenken an Edith Stein liegt immer die Gefahr der christlichen Vereinnahmung der Schoa, deswegen sind auch alle Formen der Verehrung Edith Steins daraufhin zu überprüfen. Die Problematik zeigt sich schon in der Überlegung, wie wir von Edith Stein reden sollen. Ambrosius Her OP ist der Meinung, daß Edith Stein allein schon aus Respekt vor ihrer Persönlichkeit nur mit ihrem Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce zu benennen ist; da sie den Namen Benedicta bei ihrer Taufe selbst gewählt und ihn bis zu ihrem Tod getragen hat.47 Papst Johannes Paul II. verwendete bei seiner Ansprache zur Seligsprechung beide Namen, um sie „als große Tochter des jüdischen Volkes und gläubige Christin inmitten von Millionen unschuldig gemarterter Mitmenschen“ herauszustellen.48

Allein schon in der Sprache zeigt sich also, wie schwierig es ist, an diese Persönlichkeit zu erinnern, die — so Papst Johannes Paul II. — „eine dramatische Synthese unseres Jahrhunderts in ihrem reichen Leben vereint.“49 Günther Anders sieht diese Synthese darin, daß Edith Stein sich „gerade in demjenigen Augenblick restlos zu assimilieren hoffte, in dem das Zeitalter der Assimilation sein Ende gefunden hatte“.50 Felix M. Schandl OCarm hat diese Synthese den „dialektische[n] Charakter eines Gedenkens an Edith Stein“51 genannt

„So treffen wir in Edith Stein auf ein Opfer von Auschwitz, das bei aller genannten Besonderheit hinsichtlich der intellektuellen und kulturellen Dimension seiner Existenz bis in eben diesen Tod hinein teilhatte an antijudaistischen theologischen Positionen und Formulierungen ... Die Opfer von Auschwitz und christlicher Antijudaismus als einer Wurzel von Auschwitz kommen in Edith Stein zur tödlichen Synthese.“

Ein christliches Gedenken an Edith Stein muß diesen Zusammenhang immer wieder ansprechen. Nur in einer Haltung der Trauer und Scham kann die Heiligsprechung nicht zur Entehrung der Ermordeten und zur Provokation für die jüdischen Überlebenden von Auschwitz werden. Erst in dieser Haltung kann dann auch die Befürchtung von Günther Anders und anderen Kritikern der Seligsprechung ernstgenommen werden, daß Edith Stein der katholischen Kirche als „Alibi“ dienen könnte, um von der eigenen Schuld abzulenken.52

Die Heiligsprechung Edith Steins wird auch für Christen zur Provokation: Sie erinnert uns an die Versäumnisse der Amtskirche zur Zeit des „Dritten Reiches“, an die Schuld vieler Christen, den Nationalsozialismus unterstützt oder vor den Greueltaten geschwiegen zu haben. Sie erinnert an den über Jahrhunderte gepflegten Antijudaismus der Kirche, von dem sich auch Edith Stein nicht gänzlich lösen konnte.

Wie schwierig es jedoch ist, dem „dialektischen Charakter eines Gedenkens an Edith Stein“ gerecht zu werden, macht ein an sich sehr liebevoll gestaltetes Bilderbuch für Kinder deutlich, das der Künstler Lukas Ruegenberg OSB mit der Karmelitin Carla Jungels geschaffen hat.53 Beim Thema Auschwitz deuten sie in Bild und Text den Tod Edith Steins ausschließlich christlich und verwischen damit die Tatsache, daß sie wegen ihrer jüdischen Herkunft umgebracht wurde. Die anderen Ermordeten werden sogar in diese christliche Deutung mit hineingenommen und dadurch indirekt ihres meist jüdischen Glaubens beraubt. Die drängende Frage, wo Gott angesichts der Qualen in Auschwitz war — und für Christen muß sie auch lauten, wo Jesus in Auschwitz war —, wird hingegen ignoriert.

Unser Gedenken an Edith Stein kann „gelungene“ wie „mißlungene“ Formen des Erinnerns annehmen. Edith Steins Schicksal kann uns daran erinnern, daß es sich bei den vielen, oft in Vergessenheit geratenen Ermordeten um Menschen mit ihren je eigenen Lebens- und Leidensgeschichten handelt. Sie kann uns helfen, daß diese Millionen „für uns nicht eine bloße Zahl sind, sondern daß sie ein Gesicht haben“.54

Andererseits kann die Verehrung Edith Steins einer „Individualisierung des Massenmords“55, d. h. einer Verdrängung und Verharmlosung der Schoa, gleichkommen, wie z. B. bei Pilgerfahrten nach Westerbork und Auschwitz, um die angebliche „Grabstätte“ der ermordeten Ordensfrau zu besuchen. Der Blick auf einen einzelnen Menschen, der auch noch als Identifikationsperson und folglich als Entlastungszeuge der eigenen Verantwortung dienen kann, verwischt das Ausmaß der Verbrechen und führt zu einer christlichen Vereinnahmung der Opfer, ähnlich dem „Anne-Frank-Kult“ der fünfziger Jahre.

„Wir können den Todestag Edith Steins nicht einfach begehen als einen Gedenktag“.56 hat Willehad Paul Eckert OP daher bereits vor mehr als zwanzig Jahren gefordert. Wir können Edith Stein nicht einfach so „feiern“, wie wir es bei anderen Heiligen der Kirche gewohnt sind. Jeder Triumphalismus ist angesichts der „Nacht“ von Auschwitz57 unangebracht. Wenn die katholische Kirche eine in Auschwitz Ermordete dieses Jahr heiligsprach, dann hält sie — ob ihr das bewußt ist oder nicht — die Erinnerung an diese „Nacht“, in der Gott und die Menschen schwiegen, wach; das heißt aber in der Konsequenz, daß die Kirche sich der Welt nach Auschwitz stellen muß. Theologie „nach“ Auschwitz kann dann nicht mehr einer Theologie „vor“ Auschwitz entsprechen.

Die traditionellen religiösen Erinnerungs- und Trauerrituale reichen angesichts des Grauens der Gaskammern nicht aus. In der Heiligsprechung Edith Steins liegt aber möglicherweise die Chance, dem Suchen nach neuen religiösen Formen der Trauer einen Platz in der christlichen Theologie einzuräumen. Hilfestellung können uns dabei künstlerische Arbeiten geben, die sich mit der Schoa auseinandergesetzt haben, wie z. B. die Arbeiten des Kölner Künstlers Rolf Koller oder das Edith-Stein-Denkmal von Bert Gerresheim. Vielleicht liegt gerade auch in der negativen Theologie, die im Karmeliterorden eine lange Tradition hat, eine bisher unbeachtet gebliebene Hilfestellung für eine christliche „Theologie nach Auschwitz“. Die „dunkle Nacht des Glaubens“, der Gottesferne, wie sie Johannes vom Kreuz erfahren und mit der sich Edith Stein noch kurz vor ihrem Tod intensiv auseinandergesetzt hat, birgt möglicherweise einen Schlüssel, der der Theologie neue Wege eröffnet. Der Todestag Edith Steins, der durch die Heiligsprechung für die katholische Kirche weltweit als Gedenktag verbindlich wird, kann uns eine Mahnung sein, daß die Erfahrung der Schoa auch aus dem kirchlich-theologischen Denken nicht mehr wegzuwischen ist, daß Auschwitz für uns „eine der grausamsten Herausforderungen“ bleiben muß. Es liegt an der Kirche und ihren einzelnen Mitgliedern, ob sie diese Gelegenheit zur Selbsterkenntnis nutzen. Wenn die Christen zu einer ehrlichen Auseinandersetzung mit ihrer schuldbeladenen Geschichte bereit sind, dann kann es ihnen auch gelingen, das Werk Edith Steins als Versöhnungswerk fortzusetzen. Christlich-jüdischer Dialog bedeutet dann, sich der Herausforderung von Auschwitz immer wieder neu zu stellen, denn das

„Suchen nach Antworten wirkt nicht trennend, vertieft nicht die Gegensätze, sondern ist ein gemeinschaftsstiftendes Unterfangen. Es entsteht eine überkonfessionelle Gemeinsamkeit derer, die auf der Grundlage ihrer je verschiedenen Überzeugungen, der unterschiedlichen Erfahrungen und der daraus resultierenden Fragen miteinander und voneinander lernend nach Antworten suchen.“58

  1. Herman Leo van Breda OFM, Gedächtnisrede zu Ehren Edith Steins (Echt, 1967), in: Erinnere dich – vergiß es nicht. Edith Stein – christlich-jüdische Perspektiven, hrsg. von Waltraud Herbstrith, Annweiler 1990, S. 292.
  2. Herman Leo van Breda OFM, a. a. O., S. 285.
  3. Vgl. Wolfgang Benz, Judenchristen. Zur doppelten Ausgrenzung einer Minderheit im NS-Staat, in: Edith-Stein-Jahrbuch, Bd. 3, Würzburg 1997, S. 307-318.
  4. Teresia Renata Posselt OCD, Edith Stein. Lebensbild einer Philosophin und Karmelitin, 3. Aufl. Nürnberg 1949, S. 65.
  5. Ebd., S. 66.
  6. Edith Steins Werke (ESW), hrsg. von Lucy Gelber und Romaeus Leuven OCD, seit 1987 auch Michael Linssen, Druten/Freiburg i. Br. 1977 ff., hier Bd. VIII, S. 135.
  7. Edith Stein, Aus meinem Leben, Freiburg i. Br. 1987, S.1 f.
  8. Ebd., S. 121.
  9. Schalom Ben-Chorin, Edith Stein. Zur Seligsprechung am 1. Mai 1987, in: Israel-Nachrichten vom 8.5.1987, S. 5.
  10. Edith Stein, Aus meinem Leben, Freiburg i. Br. 1987, S. 22.
  11. Der Verfasser bedauert, an dieser Stelle nicht weiter auf ihr umfangreiches und bisher nur wenig beachtetes philosophisches Werk eingehen zu können.
  12. Edith-Stein-Archiv Köln, Brief von Johannes Hirschmann SJ vom 13.5.1950.
  13. Warum sie als Tauftag das nach damaligem Liturgischen Kalender auf den 1. Januar fallende Fest der Beschneidung Jesu [sic] wählte, ist unbekannt.
  14. Zitiert nach einer Abschrift im Edith-Stein-Archiv Köln. Brief an Werner Gordon vom 28.8.1932.
  15. Susanne M. Batzdorff, Eine jüdische Nichte berichtet. Erinnerungen an Edith Stein, in: Aufbau vom B. Mai 1987.
  16. ESW IX, S. 60 f.
  17. ESW IX, S. 68.
  18. ESW IX, S. 133.
  19. Vgl. dazu Clemens Thoma, Versteckte und verpaßte Botschaft für die Juden, in FrRu 4[1997]Heft 4, 241-249.
  20. Zitiert nach einer Abschrift im Edith-Stein-Archiv Köln. In ihrem Brief an Bischof Sigismund Waitz vom 6.8.1932 bezieht sich Edith Stein auf folgendes Buch: Sigismund Waitz, Paulus – seine ersten Sendschreiben. Zeitgemäße Erwägungen über christliches Leben und Seelsorge. Innsbruck 1932.
  21. ESW XIV, S. 122.
  22. Teresia Renata Posselt OCD, a. a. 0., S. 123.
  23. Matthias Böckel, a. a. 0., S. 95.
  24. Diese Übersetzung ist bisher leider kaum zur Kenntnis genommen worden. Matthias Böckel weist in seinem Buch „Edith Stein und das Judentum“, 2. Aufl. Ramstein 1991, S. 103 ff. auf den Aufsatz Closens hin, benutzt ihn jedoch nur zur Verdeutlichung des damaligen Antijudaismus. Eine genauere und sehr viel positivere Interpretation des Aufsatzes findet sich in: Felix M. Schandl OCarm, „Ich sah aus meinem Volk die Kirche wachsen!“ Jüdische Bezüge und Strukturen in Leben und Werk Edith Steins (1891-1942), Sinzig 1990, S. 101 ff. Er datiert die Übersetzung Edith Steins allerdings schon auf das Jahr 1939. Die folgenden Zitate sind der Übersetzung Edith Steins entnommen, die als Manuskript im Edith-Stein-Archiv Köln vorliegt.
  25. Gustav E. Glosen SJ, „Quaestio Iudaeorum“, quam aiunt, effatis Sacrae Scripturae illustra-tur, in: Verbum Domini, 19. Jg. (1939), S. 129-137.
  26. Johannes Hirschmann SJ, Schwester Teresia Benedicta vom heiligen Kreuz, in: Edith Stein. Ein neues Lebensbild in Zeugnissen und Selbstzeugnissen, hrsg. von Waltraud Herbstrith, 2. Aufl. Freiburg i. Br. 1985, 5.153.
  27. ESW XI, S. 10 f.
  28. Edith-Stein-Archiv Köln, Edith Steins Testament vom 9. Juni 1939. Zitiert nach Andrés Bejas, Edith Stein – von der Phänomenologie zur Mystik. Eine Biographie der Gnade, Frankfurt a. M. 1987, 5.146.
  29. ESW VIII, S. 125.
  30. ESW IX, S. 121.
  31. ESW XI, 5.170.
  32. ESW VIII, S. 60.
  33. ESW IX, S. 138.
  34. Vgl. dazu Ignatius Bromberg OP, Bericht aus dem Jahre 1950 über den Aufenthalt in den Lagern Amersfoort und Westerbork in der Zeit vom 2.-7. August 1942, in: Passion im Au-gust (2.-9. August 1942). Edith Stein und Gefährtinnen. Weg in Tod und Auferstehung, hrsg. von Elisabeth Prégardier u. Anne Mohr, Annweiler 1995, S. 47.
  35. Waltraud Herbstrith OCD, Das wahre Gesicht ... a. a. 0., S. 167.
  36. Johannes Hirschmann SJ, a. a. 0., 5.153.
  37. Susanne M. Batzdorff, Edith Stein aus der Sicht der Verwandten, in: Matthias Böckel, a. a. O., S. 138.
  38. Felix M. Schandl OCarm, „... den Heimatlosen Herberg‘ zu erflehn ...“ Spurensuche nach Edith Stein und ihrer solidarischen Spiritualität angesichts gegenwärtiger Szenarien, in: Geist und Leben, 65. Jg. (1992), S. 337.
  39. Römisches Gradualbuch. Auszug aus der vatikanischen Ausgabe des Graduale Romanum mit deutscher Übersetzung der Rubriken und Texte, Düsseldorf 1909, S. 293. Nach Psalm 50 (51),21.
  40. Willehad Paul Eckert OP, Die Aufgabe der Versöhnung ist noch nicht getan, in: Waltraud Herbstrith, Edith Stein – Zeichen der Versöhnung, München 1979, S. 20.
  41. Vgl. Daniel Krochmalnik, Judentum und Martyrium. Das Zeugnis Edith Steins in jüdischer Prospektive, in: Edith-Stein-Jahrbuch, Bd. 3, a. a. O., S. 50-63.
  42. Vgl. das Decretum super miraculo der Römischen Kongregation für die Heiligsprechungen vom 8. April 1997.
  43. Daniel Krochmalnik, a. a. 0., S. 50.
  44. Papst Johannes Paul II., Homilie bei der Seligsprechung von Edith Stein im Stadion Köln-Müngersdorf am 1. Mai 1987, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Bd. 77, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1987, S. 28.
  45. Gerhard Ludwig Müller, Das Kreuz in Auschwitz. Gedanken zum Martyrium von Edith Stein, in: Christliche Innerlichkeit, 22. Jg. (1987), Sondernummer Edith Stein (Heft 3-5), S. 173.
  46. Ebd., S. 176.
  47. Vgl. einen Brief von Ambrosius Eßer OP vom 3.11.1986 im Edith-Stein-Archiv Köln.
  48. Papst Johannes Paul II., a. a. 0., S. 31.
  49. Ebd., S. 32.
  50. Günther Anders, Besuch im Hades. Auschwitz und Breslau 1966, 2. Aufl. München 1985, S. 25.
  51. Felix M. Schandl OCarm, „Ich sah aus meinem Volk die Kirche wachsen!“ ... a. a. 0., S. 160.
  52. Vgl. Günther Anders, a. a. O., S. 26 ff.
  53. Edith Stein. Ein Bilderbuch von Lukas Ruegenberg, erzählt von Carla Jungels, Kevelaer 1997, o. S.
  54. Willehad Paul Eckert OP, a. a. 0., S. 20.
  55. Vgl. Alexander Przyrembel, Die Tagebücher Victor Klemperers und ihre Wirkung in der deutschen Öffentlichkeit, in: Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, S. 316.
  56. Willehad Paul Eckert OP, a. a. 0., S. 20.
  57. Vgl. Elie Wiesel, Die Nacht, Gütersloh 1980.
  58. Nachgedanken, in: Auschwitz als Herausforderung für Juden und Christen, hrsg. von Günther Bernd Ginzel, 2. Auflage Gerlingen 1993, S. 670.

Frater Elias H. Füllenbach OP, Köln, ist Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Düsseldorf. Er studiert an der Universität Bonn und am Martin Buber Institut Köln.


Jahrgang 6/1999 Seite 3



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