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Dagmar Hoffmann-Axthelm

Die Judenchöre in Bachs Johannes-Passion

Der Thomaskantor als Gestalter lutherischer Judenpolemik1

An einem Frühlingstag des Jahres 1829 sah man in Berlin zwei junge Herren über den Opernplatz spazieren, den 19jährigen Felix Mendelssohn und seinen Freund, den Sänger und Schauspieler Eduard Devrient, der damals 27 Jahre alt war. Die beiden waren unterwegs, um Solisten für die nachmals epochale Wiederaufführung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach in der Berliner Singakademie zu engagieren. Devrient schildert diese Szene so:

„Wir beschlossen, vereint die Runde zu machen, und Felix war kindisch genug zu verlangen, daß wir dazu ganz gleich gekleidet sein sollten. Blauer Rock, weiße Weste, schwarzes Halstuch, schwarze Pantalons, und dazu hellgelbe Handschuhe von Wildleder ... In dieser Passionsuniform gingen wir denn ... sehr vergnügt unseres Weges. Wir besprachen den wunderlichen Zufall, daß gerade hundert Jahre seit der letzten Leipziger Aufführung vergangen sein mußten, ,und‘ rief Felix übermüthig, mitten auf dem Opernplatz stehenbleibend, ,daß es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen!‘“

Devrient macht noch einen Zusatz, der sich auf Mendelssohns Herkunft bezieht: „Felix vermied sonst entschieden, seiner Abstammung zu gedenken, hier riß ihn das Frappante der Bemerkung und die fröhliche Stimmung hin.“2 Devrient führt nicht aus, warum diese Bemerkung „frappant“ ist; er meint aber offenkundig die Spannung zwischen der jüdischen Herkunft der Familie Mendelssohn und der in besonderem Maße christlich-lutherischen Religiosität von Bachs Werk. Der Verarbeitung dieser Spannung zwischen Judentum und Luthertum insbesondere in Bachs Johannes-Passion gelten die folgenden Ausführungen.

Die Symmetrie der Judenchöre in der Johannes-Passion

Die religiösen Spannungen manifestieren sich in der Johannes-Passion vor allem in den Juden-Chören und in deren besonderer, symmetrischer Anordnung um einen Choral herum. Diese Anordnung ist komplex, und sie läßt sich nicht eindimensional, nicht nur auf der Ebene der musikalischen Analyse, verstehen und abhandeln. Für ein tieferes Verständnis sind drei qualitativ unterschiedliche Ebenen zu berücksichtigen: zuerst die religiös-weltanschauliche Ebene, d. h. die konflikthafte Abgrenzung des lutherischen Glaubens gegen das Judentum. Dann die emotionale Ebene: Die Johannes-Passion ist ein Werk von sowohl tief ergreifender, wie auch aggressiv mitreißender Emotionalität, wobei das erste durch die Schilderung des Leidens Christi, das zweite durch die Darstellung der Juden als Christusmörder bewirkt wird. Die dritte Ebene betrifft die musikalische Gestaltung und damit die kompositorischen Mittel, mit denen Bach den religiösen Konflikt zum Ausdruck bringt. Bach schrieb die Johannes-Passion 1724. Damals wurde aus dem mit vornehmlich weltlichen Aufgaben betrauten Köthener Hofmusiker der eher religiös orientierte Thomas-Kantor. Bach benutzte für seine Passion den Text aus dem 19. Kapitel des Johannes-Evangeliums in der Luther-Übersetzung. Dieser Text ist durchsetzt mit außerbiblischen Chorälen und Arien, die beide dem gleichen Ziel dienen: die Zuhörer einzubeziehen und ihnen stellvertretend eine Stimme des Mitgefühls, der Reflexion und der Andacht zu geben. Im Vergleich zur Matthäus-Passion ist die Johannes-Passion ungleich dramatischer, und diese Dramatik verdankt sie den im Johannes-Evangelium pointiert aggressiv formulierten Judenworten. Die Wiederholungen der Chöre sind dergestalt angelegt, daß Bach auf unterschiedliche Texte eine mehr oder weniger gleiche Musik komponiert hat, so daß sich drei musikalisch im großen Ganzen gleiche, textlich demgegenüber verschiedene Chorpaare ergeben. So bildet der Chor „Sei gegrüßet, lieber Juden König ein Paar mit dem Chor „Schreibe nicht der Juden König“, „Kreuzige, kreuzige“ schließt sich mit „Weg, weg mit diesem, kreuzige“ zusammen, und die Fuge „Wir haben ein Gesetz“ entspricht dem gleichfalls als Fuge gesetzten Chor „Lässest du diesen los“.

Diese Wiederholungen der Juden-Turbae sind im Gesamtwerk sehr auffallend und haben dementsprechend von jeher Verwunderung und Erklärungsversuche hervorgerufen. Philipp Spitta, der große Bach-Biograph des letzten Jahrhunderts, wies bereits 1865 auf die Unterlegung unterschiedlicher Texte unter musikalisch gleiche Chorsätze hin. Man könne nicht behaupten, schreibt Spitta, daß die Musik zu den verschiedenen Texten immer gleich gut passe, denn Textinhalte unterschiedlicher Empfindungsbereiche würden die gleiche musikalische Gestaltung erfahren. Hier denkt er etwa an den Hohn im Chor „Sei gegrüßet, lieber Juden König“ und an die Besorgnis, die der tragende Affekt des Parallelchores „Schreibe nicht, der Juden König“ ist.3

Albert Schweitzer vermutete als Motiv für die Wiederholungs-Struktur der Juden-Turbae — und das ist bis heute unbestritten — den Wunsch nach gesteigertem musikalischem Ausdruck. Er ließ aber auch anklingen, Bachs Verfahren könnte durch Zeitnot motiviert gewesen sein, verursacht durch seinen Umzug von Köthen nach Leipzig.4 Dagegen spricht, daß Bach die Johannes-Passion mehrfach umgearbeitet, aber nie etwas an den Wiederholungen geändert hat. Er muß sie also so gewollt haben — mitsamt den genannten Einbußen.

Und in der Tat wird sich zeigen, daß gerade diese scheinbaren Einbußen bewußter und gewollter Bestandteil der kompositorischen Absicht sind. Die einleuchtendste und bis heute weithin akzeptierte Theorie zum Wiederholungscharakter der Juden-Turbae stammt von dem Theologen und Bach-Forscher Friedrich Smend. Smend wies darauf hin, daß die Juden-Chöre symmetrisch um den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, ist uns die Freiheit kommen“ angeordnet sind: Dieser Choral wird unmittelbar eingerahmt durch die beiden Fugen „Wir haben ein Gesetz“ und „Lässest du diesen los“. Vor bzw. nach den beiden Fugen sind die beiden „Kreuzige“ Chöre sowie das Chorpaar „Sei gegrüßet, lieber Judenkönig“ und „Schreibe nicht der Juden König“ angeordnet.

Friedrich Smend gab dieser auf Symmetrie angelegten Architektur keine musikalische, sondern eine theologische Deutung: Der Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ drücke das christliche Mysterium aus und stehe damit als das Herzstück des Passionsgeschehens da. Die Botschaft dieses Herzstückes sei es, daß Christus sich hat kreuzigen lassen, damit die Gläubigen frei werden von der Sünde und würdig für die Gnade Gottes. Der Choral drücke, so Smend wörtlich, „das tiefe und strahlende Glück aus, nämlich das Glück, sich durch Jesu Bande von den eigenen Banden befreit zu wissen“. Die symmetrisch um den Choral herum angeordneten Judenchöre verliehen der Passion „künstlerische Geschlossenheit“.5

Bach als lutherischer Prediger

Für Smend sind die Juden-Turbae eher strukturierende Elemente, die wie musikalische Fingerzeige auf die zentrale Aussage des Werkes hindeuten. Auf ihren affektiven Inhalt, auf die Drohungen, die Verwünschungen, die Todesforderung und die aggressive Komposition gehen weder Smend noch die meisten Autoren, die nach ihm über diese Chöre geschrieben haben, ein. Erst in jüngster Zeit gerät dieser schwierige Aspekt ins Blickfeld.

Im übrigen geht es auch mir nicht darum, Bach eine wie auch immer geartete persönlich motivierte judenfeindliche Einstellung zu unterstellen. Wir wissen nichts von einer solchen Haltung. Wahrscheinlich hatte Bach keine Kontakte zu Menschen jüdischen Glaubens, denn um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert war es Juden nur während der Messezeit gestattet, die Stadt Leipzig zu betreten und dort Geschäfte zu machen. Der erste jüdische Haushalt durfte sich 1710 in der Stadt etablieren, und bis zur Jahrhundertmitte lebten ganze sieben jüdische Familien in Leipzig. Gleichwohl muß gesehen werden, daß Bach sich als christlicher Kantor der judenfeindlichen Tendenz in der Johannes-Passion voll bewußt war, daß diese Haltung ein Bestandteil der zeitgenössischen Theologie war und daß er diesen religiös motivierten Aspekt des Zeitgeistes auf seine Weise musikalisch formuliert und in sein Werk einkomponiert hat.

Bach war in seiner Identität als Thomas-Kantor nicht eigentlich Komponist im heutigen Sinne. Als primär lutherischer Kantor verstand er sich zuallererst als Vermittler einer theologischen Botschaft, als ein Prediger, dessen Medium nicht die Sprache, sondern die Musik war. Das musikalische Handwerk, die musikalische Intuition, das eigene Ingenium unterlagen diesem einen Ziel: daß die Predigt so wirksam, so wahrhaftig, so präzis den lutherischen Vorstellungen folgend wie irgend möglich ausfiele. „Wo dies nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music, sondern ein teuflisches Geplärr und Geleier“ — womit er beispielsweise die italienischen Opern am nachbarlichen Hof zu Dresden meinte.6

Bach verstand sich also als ein Prediger, dessen musikalische Botschaft dem gesprochenen Wort des Pfarrers in der Kirche ebenbürtig war. Dieser Anspruch geht zurück auf Martin Luther. Die Kirchenmusik spielt in der lutherischen Konfession eine wichtigere Rolle als im Katholizismus, und dies gilt vor allem für die Passionszeit. Denn seit dem Konzil von Trient war im Rahmen der Gegenreformation in der katholischen Kirche mehrstimmige Musik in der Karwoche verboten. Deswegen gibt es auch kaum große katholische Passionen. Ausnahmen bestätigen im übrigen auch hier die Regel, so etwa die Johannes-Passion von Alessandro Scarlatti.

Die Botschaft von Bachs Passions-Predigt: Die „Verstocktheit der Juden“

Luthers Gleichstellung von gepredigtem und gesungenem Gotteslob wirkte sich in der beschriebenen Art auf das Selbstverständnis der komponierenden und ausübenden Kantoren aus. Der komponierende Kantor Bach war ein musikalischer Prediger, und als solcher war er in besonderem Maße am Karfreitag gefordert, wenn er mit dem Passionsgeschehen gleichsam die zentrale Botschaft des Luthertums verkündete.

Im Zentrum der lutherischen Theologie, dem Passionsgeschehen, zeigt Gott durch Christi Sterben und Auferstehung, daß derjenige von der Schuld erlöst wird, der Christus als Gottes Gnadengeschenk erkennt und annimmt. Allerdings geht es in Luthers Theologie denjenigen sehr schlecht, die diesen Gnadenbeweis nicht akzeptieren: den Juden. Die Juden vergehen sich nach Luthers Theologie gleich doppelt an Gott: Zum einen bezichtigen sie ihn, der ja im Alten Testament das Kommen des Messias prophezeit hatte, der Lüge, wenn sie abstreiten, daß Christus der Messias ist. Und zum anderen tragen sie nach dem Zeugnis des Neuen Testaments die Schuld an der Kreuzigung Christi.

Luther hat seine antijudaische Haltung in zwei späten Judenschriften Von Schem Hamphoras und Von den Juden und ihrenLügen aufs bestürzendste zum Ausdruck gebracht. Diese beiden Schriften sind von offenkundig blindem Haß geprägte Pamphlete, in denen Luther eine schwer erträgliche Flut analer und fäkaler Sprachsudeleien über seine Leser ergießt, und in denen er jedem Christenmenschen, der sich in irgend einer Form mit Juden einläßt, mit Fegefeuer und ewiger Verdammnis droht.

Bach kannte und las Luthers Werke. In seinem Bücherschrank fanden sich die gesammelten Werke des Reformators in doppelter Ausführung. Daneben verdient das 2000 Seiten dicke Buch eines Johannes Müller Aufmerksamkeit, das gleichfalls in Bachs Besitz war und dessen Titel — auszugsweise — so lautet: „Judaismus oder Jüdenthum. Das ist: Ausführlicher Bericht von des Jüdischen Volcks Unglauben, Blindheit und Verstockung.“ Müller folgt in dieser Streitschrift den Spuren Luthers, indem er versucht, die Juden von ihrer „Verstocktheit“ zu heilen und sie zum protestantischen Glauben zu bekehren. Falls die Juden sich aber diesem Wunsch widersetzen sollten, falls sie sich gar gegen Müllers Ausführungen wenden würden, droht der Autor ihnen mit lutherischer Grobheit und Unflätigkeit ein weiteres Buch an, das folgenden Titel tragen soll: „Stinkender Unflat und Speichel, welchen die Juden dem gecreuzigten Christus von Nazareth ins Auge speyen, darin alle ihre Lästerungen wider Christum und sein Evangelium mit ihren eigenen Worten aus ihren Schriften möchten entdecket werden.“

Bach war — so muß aufgrund seiner Kenntnis von Müllers Buch angenommen werden — mit der Thematik der perfidi iudaei, der „verstockten Juden“, aus lutherischer Sicht vertraut. Betrachtet man die Johannes-Passion aus diesem Blickwinkel, so zeigt sich, daß Bach, der musikalische Prediger, die perfidia iudaica und ihren Gegenpol — die fides christiana — zum Zentrum seiner Karfreitagspredigt machte. Denn die symmetrisch um den Choral „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn“ angeordneten Juden-Chöre stellen eine musikalisch-rhetorische Figur dar. Es sind dies musikalische Konfigurationen, die die Komponisten im 17. und 18. Jahrhundert dazu verwandten, durch Musik einen außermusikalischen Sinn zu formulieren. Die rhetorische Figur, die Bach hier wählt, heißt Perfidia, und sie dient dazu, die Emotion hartnäckiger Verstocktheit musikalisch sinnfällig zu machen — und zwar durch „hartnäckige“ Wiederholungen.

So beschreibt der französische Musikgelehrte Sébastien de Brossard eine fuga perfidiata und erklärt, in dieser Satzart müsse man sich um jeden Preis darauf versteifen, stur dieselben Tonfolgen zu schreiben: „... Ainsi ... fuga perfidiata, ce sont des fugues où l‘on s‘obstine à suivre toujours le même dessein ...“.7 Johann Gottfried Walther, der Freund und Cousin Bachs, sagt in seinem Musikalischen Lexikon von 1732, die Perfidia sei „eine Affectation, immer einerley zu machen und immer seinem Vorhaben nachzugeben, einerley Gang, einerley Melodie, einerley Tact, einerley Noten usf zu behalten“.8 Und Johann Mattheson, einer der großen Musiktheoretiker jener Zeit, vermerkt, man müsse der „Hartnäckigkeit eine eigene Stelle unter den Klangreden“ — also in der musikalischen Rhetorik — einräumen. Die Hartnäckigkeit könne man „schön vorstellen“, indem „nehmlich in der einen oder anderen Stimme solch eigensinnige Klanggänge angebracht werden, die man sich fest vornimmt nicht zu ändern, es koste auch was es wolle. Bey den Welschen ist eine Art des Kontrapunkts bekannt, welchen sie perfidia nennen, und der gewissermaßen hierher gehöret“.9 Mit anderen Worten: Je offensichtlicher und auffälliger der Modus ist, in dem eine Wiederholung durchgeführt wird, desto ohrenfälliger ist der Affekt der Hartnäckigkeit. Und diesen Affekt des sturen Beharrens nennen die Theoretiker perfidia.

Die Perfidia als musikalischer Affekt der Hartnäckigkeit wird von Bach mit dem alten Topos der perfidia iudaica, der ungläubigen Verstocktheit der Juden, verbunden. Bach opferte in der Johannes-Passion dem Symmetrie-Prinzip die sonst für ihn selbstverständlichen Feinheiten von Metrik und Textausdruck; er füllte die Juden-Chöre mit bedeutenden musikalischen Inhalten bis zum Zerspringen; und er steigerte noch die Wirkung dieser Sätze durch ihre Verdoppelung und machte sie damit zu einem das gesamte Werk prägenden Element. Vor dem Hintergrund des Gesagten wird hierfür der Grund deutlich: Durch alle diese Elemente wird das hartnäckige Festhalten der Juden an ihrem Glauben mit dem Mittel der musikalischen Rhetorik dargestellt. Bach predigt mit gewaltiger Wirkungskraft die lutherische Sicht von Unglauben, Blindheit und Verstockung der Juden als Kehrseite von Christi Leiden und Gottes Gnade.

Mit Müllers Judenpolemik hatte Bach in seiner Bibliothek ein Buch, das sich polemisch mit der Verstocktheit der Juden befaßte. Er kannte also nicht nur die lutherische Judenpolemik, sondern auch den Topos von der perfidia iudaica. Als rhetorischer Könner und lutherischer Prediger verband er diesen Topos mit der musikalischen Figur der perfidia, wie diese bei Mattheson, Johann Walther und Brossard bezeugt ist. Er setzte diese Figur — durch die musikalische Wiederholung der Judenchöre — als übergreifendes und strukturierendes Prinzip ein und formulierte damit die beiden Pole der Passionsbotschaft mit aller Deutlichkeit: auf der einen Seite — durch den Choral — Christi Leiden und Gottes Gnade, auf der anderen Seite — durch die Juden-Chöre — Unglaube, Blindheit und Verstocktheit der Juden.

Wenn es noch eines weiteren Hinweises bedürfte, daß dies die Botschaft der Symmetrie der Chöre ist, so ist dieser Hinweis dadurch gegeben, daß Bach in der Matthäus-Passion an der entsprechenden Stelle gleich verfährt: Dort wird die zentrale Passionsaussage, nach der Christi Leiden die Freiheit der Gläubigen bewirkt, durch den Choral „Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe“ und durch die Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ ausgedrückt. Und auch hier ist die Gnadenaussage eingerahmt durch ein wiederum musikalisch gleiches, spiegelbildlich angeordnetes Fugenpaar auf die Worte der Juden „Laß ihn kreuzigen“.

Durch Bachs Einfall der symmetrischen Gestaltung der Judenchöre um den Choral — bzw. um den Choral und die Arie herum — dürfte die Polarisierung zwischen fides christiana und perfidia iudaica jedem zeitgenössischen Zuhörer und jeder Zuhörerin deutlich geworden sein. Friedrich Smend nannte Bach in seinem Aufsatz über die Johannes-Passion einen „der gewaltigsten Söhne der lutherischen Kirche“. Wir müssen hinzufügen, daß er auch ein gewaltiger Gestalter lutherischer Judenpolemik war. Unserem heutigen Hörbewußtsein ist dieser Aspekt weitgehend abhanden gekommen. Wir hören die Johannes-Passion als vollkommenes Kunstwerk, berührt und bereichert durch die musikalische Darstellung vom Leiden Christi und gebannt von dem aktions- und aggressionsgeladenen Gegenpol der Juden- und Kriegsknechts-Chöre. Die Bewußtmachung der dunklen Kehrseite des Werkes bereitet Schmerzen. Denn diese gewaltigen Zeugnisse protestantischer Kirchenmusik entstanden auf einem Boden, aus dem sich letztlich auch die Kräfte nährten, die zur bisher größten Menschheitskatastrophe geführt haben. Es ist schwer und schmerzlich, die wohl größte Musik, die wir besitzen, entfernt verbunden zu wissen mit diesem Grauen. Trotzdem meine ich, wir sollten die judenfeindliche Botschaft, die Bach in seine Passionen einkomponiert hat, mithören. So könnten wir diese Werke gleichsam als Meditationsmusik hören. Wir könnten sie hören im Andenken an die ungezählten Juden, die in zwei Jahrtausenden christlich-jüdischer Geschichte im Namen Christi und anderer gekreuzigt worden sind. Mit der alljährlichen Aufführung von Bachs Passionen bietet sich uns, die wir durch Bachs Musik so reich beschenkt worden sind, die Gelegenheit, beim Erleben dieser Musik die Bewußtseinsarbeit Felix Mendelssohns fortzusetzen und in Trauer, Demut und Versöhnungsbereitschaft unserer „jüdischen Abstammung“ zu gedenken.

  1. Anm. der Autorin: Der vorliegende Text ist die Kurzfassung des Aufsatzes „Bach und die Perfidia Iudaica, der im Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis (13/1989, 31-54) erschienen ist.
    Anm. der Red.: Der Originaltext enthält eine eingehende theologische Abhandlung der Thematik ,Martin Luther und die Juden‘, auf die wir aus Platzmangel verzichten mußten. (Vgl. dazu: Christiane Müller, Martin Luther und die Juden, FrRu NF 4/1997, 14 ff.)
  2. Martin Geck, Die Wiederentdeckung der Matthäuspassion im 19. Jahrhundert, Regensburg 1967, 32.
  3. Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, 2 Bde., 7. Auflage, Wiesbaden 1970, 355.
  4. Albert Schweitzer, J. S. Bach, Leipzig 1908, 560.
  5. Friedrich Smend, Die Johannes-Passion. Auf ihren Bau untersucht. In: Bach-Studien, Kassel etc. 1969, 112.
  6. Wilibald Gurlitt, Johann Sebastian Bach in seiner Zeit und heute. In: Musikgeschichte und Gegenwart, Bd. 1, Wiesbaden 1966,170.
  7. Sébastien de Brossard, Dictionaire de musique, Paris 2. Auflage, 1705, 77.
  8. Johann G. Walther, Musikalisches Lexikon oder musikalische Bibliothek, Leipzig 1732, 472.
  9. Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Leipzig 1739, 18 und 74.

Dagmar Hoffmann-Axthelm ist Musikwissenschaftlerin und Psychotherapeutin. Sie lebt und arbeitet in Basel als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Schola Cantorum Basiliensis und als Psychotherapeutin in eigener Praxis.


Jahrgang 5/1998 Seite 103



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