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Clemens Thoma

Versteckte und verpaßte Botschaft für die Juden

Bemerkungen zu einer 1938 vorbereiteten Enzyklika über Rassismus und Antisemitismus

„O pfui! Ich darf nicht daran denken, was man verpaßt, verschiebt und hängen läßt!“ — dies soll Mozart 1787 auf seiner Reise nach Prag ausgerufen haben.1 Seitdem es 1972 ruchbar geworden ist, daß der bereits kranke Papst Pius XI. am 22. Juni 1938 dem amerikanischen Jesuiten John LaFarge den Auftrag gegeben hatte, ein päpstlich-kirchliches Lehrschreiben (Enzyklika) gegen Rassismus und Antisemitismus zu entwerfen, ist dieser Mozartsche Seufzer oft wiederholt worden. Seit einigen Wochen haben wir diesen Enzyklika-Entwurf auch deutsch (1995 französisch erschienen) zur Gänze in Händen — und er macht Schlagzeilen! Herausgeber und Deuter sind der Benediktiner Georges Passelecq und der Historiker Bernard Suchecky. Die deutsche Übersetzung gab der Hanser Verlag (München) unter dem etwas reißerischen Titel „Die unterschlagene (statt „versteckte“, „verborgene“; französisch: „cachée“) Enzyklika. Der Vatikan und die Juden“ heraus.

Die Geschichte der Planung, der Ausarbeitung und des Verschwindens dieser Enzyklika in den vatikanischen Archiven in den Schicksalsjahren 1938/39 kann nun rekonstruiert werden. Die unter dem Titel „ Humani generis unitas“ (Die Einheit des Menschengeschlechtes) stehende Entwurfs-Enzyklika, die aus 179 Abschnitten besteht (Passelecq/Suchecky 193-288) wirft schwere Fragen auf: Was wäre geschehen, wenn das päpstliche Rundschreiben nach Verbesserungen und Ergänzungen durch Papst Pius XI. etwa im November/Dezember 1938 erschienen wäre? Hätte dies die judenfeindliche Welt aufgeschreckt, die Nazis geschwächt und Auschwitz verhindert?

1. Der päpstliche Auftrag

„Sagen Sie einfach, was Sie sagen würden, wenn Sie der Papst wären!“ sagte Pius XI. am 22. Juni 1938 zum amerikanischen Jesuiten John LaFarge, als er ihm den Auftrag zur entwurfsmäßigen Abfassung der Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus gab. Der päpstliche Auftraggeber befand sich bei seiner Steuerung der Kirche besonders seit den 30er Jahren in einer schwierigen Abwehrsituation: Verfolgung der Kirche in Mexiko, Rußland und Spanien. Hochblüte des politisch-säkularen Totalitarismus, Rassismus und Absolutismus in Deutschland, Italien und anderswo! Materialismus, Atheismus und Zerstörung der religiös-gesellschaftlichen Strukturen durch den Kornmunismus in Rußland! Religionsfeindlicher Liberalismus in vielen Staaten!

„Ein großes Thema seines Pontifikates war die Wiederherstellung der christlichen Gesellschaft durch die ,katholische Aktion‘. Der Säkularismus wurde als Verderben für unsere Zeit bezeichnet. Das Christkönigsfest ... sollte den Rahmen für die jährliche Weihe des Menschengeschlechts an das Herz Jesu darstellen. Die Herrschenden sollten daran erinnert werden, daß auch sie Christus öffentliche Verehrung zu erweisen und seinen Gesetzen zu gehorchen hätten ... Die katholische Öffentlichkeitsarbeit sollte in zentralistisch-römischer Weise kirchlich koordiniert werden ... “2

Pius XI. gab den Auftrag für eine Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus nicht nur aufgrund der Lektüre eines antirassistischen Buches von LaFarge. Er war vielmehr über den immer bedrohlicher werdenden Rassismus und Antisemitismus der Nazis und auch Mussolinis — besonders seit dem Hitlerbesuch in Rom 1938 — zuinnerst erschreckt. Indirekt scheint auch die zum Katholizismus konvertierte Jüdin Edith Stein auf ihn eingewirkt zu haben. 1933 war Edith Stein von den Nazis gezwungen worden, ihre Vorlesungen als Dozentin am Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster aufzugeben, weil sie als nichtarische Christin jüdisches Blut in sich hatte. Noch im gleichen Jahr bemühte sie sich um eine Privataudienz bei Pius XI., um mit ihm über die drohende Gefahr für ihr jüdisches Volk zu sprechen und um ihn um eine Enzyklika darüber zu bitten. Besonders aus amerikanischen Zeitungen wußte sie schon damals um viele an Juden verübte Greueltaten. Laut Pater Johannes H. Nota SJ, einem ausgezeichneten Kenner der vatikanischen Verhältnisse unter Pius XI., der 1974 einen exzellenten Artikel über die geplante Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus im Freiburger Rundbrief verfaßte,3 ist Edith Stein im Jahr 1933 „ein Licht aufgegangen, daß Gott wieder einmal seine Hand schwer auf sein Volk gelegt hatte, und daß das Schicksal dieses Volkes auch das meine war“. Im „Heiligen Jahr 1933“ war aber kein Platz für eine Privataudienz.

Daher schrieb sie einen Brief an den Papst. Etwas später sagte sie: „Ich weiß, daß mein Brief dem Heiligen Vater versiegelt übergeben worden ist.“4 Pius XI. hat sich wahrscheinlich an Edith Steins Brief erinnert (der Brief befand sich wohl die ganze Zeit in seiner berühmt gewordenen Schreibtischschublade), als er LaFarge den Enzyklika-Auftrag gab. Ein indirektes Zeugnis dafür ist sein spirituell feiner, an die Gedankenwelt Edith Steins anknüpfender Satz, den er am 6. September 1938 vor einer belgischen Gruppe formulierte: „Im geistlichen Sinn sind wir alle Semiten. “5 Leider ist die päpstliche Predigt, in deren Rahmen dieser Satz steht, damals und später kaum registriert worden. Im Anschluß an eine Deutung des liturgischen Gebetes über das Opfer Abels, Melchisedechs und Abrahams sagte Pius XI., besonders auf Abraham Bezug nehmend:

„...Bedenkt, daß Abraham, unser Patriarch, unser Vorfahr genannt wird. Der Antisemitismus ist mit dem Geist und der erhabenen Wirklichkeit, die in diesen Worten zum Ausdruck kommen, nicht zu vereinen. DerAntisemitismus ist eine abstoßende Bewegung, an der wir Christen keinen Anteil haben können. Es ist den Christen nicht möglich, am Antisemitismus teilzunehmen ... DerAntisemitismus ist nicht vertretbar“.6

Der spätestens in den Jahren 1937/38 bezüglich der Würde und der theologischen Stellung des jüdischen Volkes von jeglichem Antisemitismus geläuterte Pius XI. hätte den uns nun zugänglich gemachten Enzyklika-Entwurf sicher nicht ohne einschneidende Korrekturen veröffentlicht. Dies meint auch Pater Nota in seinem FrRu-Artikel. Leider war der Papst nach der Fertigstellung des Entwurfs bereits von Erschöpfung und vom Tod gezeichnet. Er konnte außerdem harten Auseinandersetzungen mit dem sich immer mehr in die Hitlerei einpendelnden italienischen Faschismus nicht ausweichen. Von Deutschland trafen Schreckensmeldungen über Verhaftungen von kirchlich engagierten Priestern und Politikern sowie von der Knebelung des christlichen Schulwesens ein. Pius XI. starb am 10. Februar 1939, ohne den Enzyklika-Entwurf überarbeitet zu haben.

2. Die Entwerfer der Enzyklika

Der sich für die Rechte der Schwarzen in den USA einsetzende Jesuit John LaFarge hat vor allem durch sein 1937 erschienenes Buch „Interracial Justice“ großes Aufsehen erregt. Er sieht die Gleichstellung der Rassen als besondere Aufgabe der Kirche. Die noch umfassendere Aufgabe bestehe darin, „die verschiedenen Kulturen und Zivilisationen der Welt miteinander in Einklang zu bringen, um auf den wesentlichen Gebieten zu einer Zusammenarbeit und Einheit zu gelangen, ohne die Freiheit und Vielfalt des Menschen zu zerstören“ (Passelecq/Suchecky S. 62). Pius XI. las das Buch. Nachdem er LaFarge mit der Abfassung einer Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus beauftragt hatte, befahl er dem aus Polen stammenden Jesuitengeneral Wladimir Ledóchowski brieflich, für die Ausarbeitung der Enzyklika besorgt zu sein. Ledóchowski gab dem moralisch und kommunikativ hochstehenden, aber dialektisch etwas ungelenken LaFarge den bekannten Sozialethiker Gustav Gundlach und den Theologen Gustave Desbuquois zur Seite. Dieses Trio erarbeitete in Paris in den Monaten Juli bis September das vom Papst verlangte Rundschreiben. Pater Gundlach scheint der dominierende Ideenspender und Formulierer gewesen zu sein. Passelecq/Suchecky meinen, daß sich Kopf und Hand Gundlachs auch in den Abschnitten über den Antisemitismus (131-152) weitgehend durchsetzen konnten. Zum Beweis drucken sie auf den Seiten 80-82 des Passelecq/Suchecky-Buches den Artikel „Antisemitismus“, den Gundlach 1930 für das Lexikon für Theologie und Kirche“ verfaßt hatte.7 Darin bezeichnete Gundlach den Antisemitismus als

„eine moderne Bewegung zur politischen und wirtschaftlichen Bekämpfung des Judentums. Man kann eine völkisch und rassenpolitisch eingestellte von einer staatspolitisch orientierten Richtung des Antisemitismus unterscheiden. Jene bekämpft das Judentum wegen seines rassenmäßigen und völkischen Andersseins schlechthin, diese wegen des übersteigerten und schädlichen Einflusses des jüdischen Bevölkerungsteils innerhalb desselben Staatsvolkes ... Die erste Richtung des Antisemitismus ist unchristlich, weil es gegen die Nächstenliebe ist, Menschen allein wegen der Andersartigkeit des Volkstums zu bekämpfen. Auch wendet sich diese Richtung notwendig gegen das Christentum wegen seines inneren Zusammenhanges mit der Religion des von Gott einst erwählten jüdischen Volkes (Versuche einer arisch-germanischen Religion). Die zweite Richtung des Antisemitismus ist erlaubt, sobald sie tatsächlich-schädlichen Einfluß des jüdischen Volkstums auf den Gebieten des Wirtschafts- und Parteiwesens, des Theaters, Kinos und der Presse, der Wissenschaft und Kunst (liberal-libertinistische Tendenzen) mit sittlichen und rechtlichen Mitteln bekämpft. Ausgeschlossen sind Ausnahmegesetze gegen jüdische Staatsbürger als Juden, und zwar vom Standpunkt des modernen Rechtsstaates. Positive Mittel sind: Durchdringung des Gesellschaftslebens mit christlichem Geist, Kampf nicht nur gegen semitische, sondern auch gegen ,arische‘ Schädlinge, Stärkung der positiv sittlich-gläubigen Faktoren im Judentum gegen die liberalen, dem sittlichen Nihilismus am meisten zugänglichen ,Assimilationsjuden‘, die ... im Lager der Weltplutokratie wie des Weltbolschewismus gegen die menschliche Gesellschaft zerstörend wirken und dadurch dunkle Züge der vom Heimatboden vertriebenen jüdischen Volksseele auslösen ...“

3. Antisemitische Funken im gegen-antisemitischen Entwurf

Die das Judentum und den Antisemitismus betreffenden Abschnitte 131-152 (im Passelecq/Suchecky-Buch S. 260-273) sind der unbefriedigendste Teil des Enzyklika-Entwurfs. Der Abschnitt beginnt mit einer richtigen Erkenntnis: Den Verabsolutierern der germanischen Rasse gehe es nicht redlich um die sogenannte Reinheit der Rasse, sondern „um eine raffinierte Parole“. Es werde immer deutlicher, „daß der Kampf für die Reinheit der Rasse schließlich einzig zu einem Kampf gegen die Juden wird“ (131). Kurz danach stürzt der Gedankengang ab zu einer ziemlich autistischen kirchlichen Selbstverteidigung: „Diese Verfolgungen sind vom Heiligen Stuhl — bei mehr als einer Gelegenheit — verurteilt worden, vor allem, wenn sie sich des Christentums als eines Deckmantels bedienten“ (131). Unter dem Unterabschnitt „Position der Kirche gegenüber dem Judentum“ folgen dann mehrere traditionelle Theologumena, die die These einer beschränkten Mitschuld der Juden an ihrer jetzigen Notsituation vorbereiten. Das jüdische Volk sei von Gott erwählt worden, um der Menschwerdung Christi die Wege zu bereiten. Der Erlöser sei aber vom Volk der Juden „zurückgewiesen, gewaltsam verstoßen und von den höchsten Gerichten des Volkes im Einverständnis mit der heidnischen Macht ... wie ein Verbrecher getötet worden“ (135). Daher sei das Judentum eben nur das „einst erwählte“ Gottesvolk! Etwas weiter unten folgt ein Topos, der vor Beginn des Zweiten Weltkrieges scheinbar in vielen christlichen Köpfen herumgegeistert ist: „Durch den Traum von weltlichem Gewinn und materiellem Erfolg verblendet“, haben die Juden das „verloren, wonach sie selbst gesucht hatten“. Ihre „Zurückweisung des Messias“ war der Grund „für ihren weltlichen und geistlichen Ruin“ (136). Die damaligen jüdischen Führer haben „den göttlichen Fluch auf ihre eigenen Häupter herabbeschworen“, so daß „dieses unglückliche Volk ..., wie es scheint, dazu verurteilt ist, ewig über die Erde zu irren; durch eine geheimnisvolle Vorsehung bewahrt, hielt es sich durch die Jahrhunderte bis in unsere Tage hinein“ (136). Es gibt aber Trost, weil „die Erlösung, die sich durch die Zurückweisung und den Tod des Erlösers vollzog, die Früchte ihres Heils nicht nur auf die Heiden, sondern auch auf jenes Volk selbst erstrecke, das ihn zurückwies, unter der einzigen Bedingung, daß es Reue zeige und Christus als seinen Erlöser anerkenne“ (137). Dann wird im Sinne von Röm 9-11 gegen die Gefahr der Überheblichkeit der Heiden polemisiert: Zwar habe die Heidenwelt „an der Erfüllung der dem jüdischen Volk gemachten Verheißungen“ Anteil. Aber nicht Israel empfängt das Heil von den Heiden, sondern umgekehrt: „Die Heidenchristen selbst werden, wenn sie den Glauben an Christus verlieren und sich hochmütiger Verstockung hingeben, zweifellos das unglückliche Los der herausgebrochenen Zweige teilen“ (138). Es folgen dann wieder großmütige Sätze: „Paulus ... hält an der Möglichkeit des Heils für die Juden fest, vorausgesetzt, daß sie sich von der Sünde abwenden und zu den geistigen Traditionen Israels zurückkehren“ (139). „Israel hat .. das Evangelium zurückgewiesen ... Und dennoch hat es gerade dadurch die Evangelisierung der Welt vorangetrieben und in der Folge die Bekehrung der Heiden. Israel bleibt das ehemals erwählte Volk, denn Gott hat seine Wahl niemals widerrufen“ (140).

Am peinlichsten wirkt Abschnitt 142. Darin wird auf „die spirituellen Gefahren“ aufmerksam gemacht,

„denen der Kontakt mit den Juden die Seelen aussetzen kann ... Solange der Unglaube des jüdischen Volkes andauert und seine Feindschaft gegenüber dem Christentum fortbesteht, muß die Kirche ... die Gefahren unterbinden, die dieser Unglaube und diese Feindschaft darstellen könnten. Wenn die Kirche darüber hinaus entdeckt, daß der Haß gegen die christliche Religion ... vom rechten Weg abgekommene Unglückliche dazu bringt, revolutionäre Bewegungen zu unterstützen und zu propagieren, die auf nichts anderes abzielen, als die gesellschaftliche Ordnung umzustürzen ..., so ist es ihre Pflicht, vor diesen Bewegungen zu warnen, die Tücken und Lügen ihrer Anführer zu entlarven und ... Maßnahmen zu ergreifen, um die Ihrigen zu schützen.“

Die Geschichte zeigt uns, daß die Kirche diese „Aufgabe, ihre Gläubigen vor den jüdischen Lehren zu warnen, niemals vernachlässigt hat“. Bei der Behauptung, der Antisemitismus sei stets von der Kirche verurteilt worden, stützen sich die Verfasser des Entwurfs auf ein vatikanisches Dekret vom 25. März 1928. Darin wird beteuert, daß die Kirche „trotz der späteren Verblendung, ja gerade wegen dieser Verblendung“ stets für das jüdische Volk gebetet und „dieses Volk gegen ungerechte Verfolgung beschützt“ habe. Der Apostolische Stuhl verurteile „ganz besonders den Haß gegen das einst erwählte Volk, nämlich jenen Haß, den man Antisemitismus nennt“ (144). Im Abschnitt 147 wird gesagt, der Antisemitismus liefere „einen Vorwand, die heilige Person des Erlösers anzugreifen, weil dieser sich entschieden hat, der Sohn einer jüdischen Frau zu sein; er bricht einen Krieg gegen das Christentum ... vom Zaun“ ... Er bereitet der Kirche

„Schwierigkeiten aller Art ... indem er sie vor zwei Alternativen stellt: entweder den Katholizismus mit dem Antisemitismus in seiner radikalen Verachtung alles Jüdischen zu verbinden ..., oder aber ... die Kirche zu kompromittieren, indem er sie in die politischen Ränke und Kämpfe hineinzieht und indem er ihre — völlig legitime — Verteidigung der christlichen Prinzipien der Gerechtigkeit und Menschlichkeit im Sinne rein menschengemachter Politik interpretiert.“

In Abschnitt 148 wird betont, die Kirche versuche „nur das Vermächtnis der Wahrheit zu erhalten ... Die rein profanen Probleme, in die sich das jüdische Volk verstrickt sehen kann, interessieren sie nicht“. Die Kirche bete für die Juden und distanziere sich von einer „unverhohlenen Proselytenmacherei“ heißt es in Abschnitt 150. Der Schluß des Antisemitismus-Teiles (152) wirkt kryptisch.

4. Beurteilungen und Mutmaßungen

Die sich gegen den Rassismus richtenden Abschnitte von Humani generis unitas (die Abschnitte 1-130) sind sehr gut und auch heute noch bedenkenswert. Pius XII. hat vieles davon (mit Hilfe von Pater Gundlach) in seine Enzykliken und Ansprachen während des Weltkrieges benützt und ausgebreitet. Die Abschnitte, die den Antisemitismus hätten abwehren sollen, sind hingegen in heutiger Sicht (nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil) schwankend und rückständig. Passelecq/Suchecky ergehen sich — in Anlehnung an Jim Castelli, der 1972 in der USA-Zeitschrift „National Catholic Reporter“ die Affäre rund um den damals noch nicht wiedergefundenen Enzyklika-Entwurf aufgedeckt hatte — in Vermutungen und Verdächtigungen, wer die Publizierung des Rundschreibens damals aus welchen Gründen hintertrieben habe. War es der Jesuitengeneral Ledóchowski, oder war es Kardinal Eugenio Pacelli? Die Sache ist einfacher: Der Jesuitengeneral erhielt Ende September 1938 den Entwurf von LaFarge, las ihn durch und fand den Anti-Antisemitismus-Teil schlecht! Was sollte er tun? Wo war ein neues, besseres Team? Er zögerte. Die Weltlage verschlechterte sich. Der Papst war kaum noch ansprechbar. Der kirchliche Apparat war gelähmt. Hitler und Mussolini drohten!

Spätestens am 21. Januar 1939 hatte der Papst den Entwurf in Händen. Zweieinhalb Wochen später starb er. Der neue Papst Pius XII. war von sich überstürzenden Ereignissen — Krieg, Haß, Untätigkeit der weltlichen Mächte — wie gebannt. Dazu kamen falsche Einschätzungen über die primären und die sekundären Gefahren. Der gottlose und revolutionäre Bolschewismus wurde nicht nur in Rom, sondern auch in fast allen westlichen geistigen und politischen Zentren als die noch größere Gefahr bewertet als der Nazismus. Auch Ledóchowski meinte: „Der Hauptfeind ist immer Moskau ... ein Kompromiß mit Berlin ist immer möglich“ (Passelecq/Suchecky S. 80). Der Nationalsozialismus werde sich ohnehin nicht lange halten können.

Als sich die kirchliche Zentrale in Rom nach der Einreichung der Enzyklika bezüglich der höchst notwendigen Verurteilung des Antisemitismus in einer Sackgassen-Situation wußte, haben sich Ledóchowski, Pacelli und andere vermutlich auch damit getröstet, daß der Papst ja im Jahre 1937 den Kommunismus und das Nazitum bereits feierlich verurteilt habe. Dies war in den beiden Enzykliken „Divini Redemptoris“ (gegen den Kommunismus) und „Mit brennender Sorge“ (gegen den Nazismus), die Pius XI. im März 1937 herausgegeben hatte, tatsächlich geschehen.8 In „Mit brennender Sorge“ beklagt sich der Papst über die Verletzungen des Reichskonkordats „durch die andere Seite“.

„Wenn der von Uns ... in die deutsche Erde gesenkte Friedensbaum nicht die Früchte gezeitigt hat, die Wir im Interesse Eures Volkes ersehnten, dann wird niemand sagen können, die Schuld liege auf der Seite der Kirche und ihres Oberhauptes. Der Anschauungsunterricht der vergangenen Jahre ... enthüllt die Machenschaften, die von Anfang an kein anderes Ziel kannten als den Vernichtungskampf“9

Im Verlaufe der Enzyklika nennt der Papst Hitler zwar nicht beim Namen. Er wirft aber dem Ungenannten und doch allen Bekannten vor, er stelle sich als „der Größte aller Zeiten neben Christus, oder gar über Ihn und gegen Ihn“ (S. 55). Dann kommt der Papst auf den Rassismus zu sprechen, den er als eine „falsche Münze“ bezeichnet, die für gläubige Christen nicht akzeptabel sei (S. 61). Schließlich wirft Pius XI. den Nazis auch Christenverfolgung vor und sendet ein Wort der Solidarität an alle, die Leid und Verfolgung tragen müssen „bis in die Kerkerzelle und in das Konzentrationslager hinein“ (S. 70).

In der Enzyklika gegen den atheistischen Kommunismus redet Pius XI. von der „abstoßenden und unmenschlichen Grausamkeit der Grundsätze und Methoden des bolschewistischen Kommunismus ... Obendrein wissen die Bannerträger des Kommunismus aus den Gegensätzen zwischen den Rassen und den verschiedenen Systemen ihren Nutzen zu ziehen ...“ Dann ist vom „Komplott der Weltpresse“ die Rede, die über die Verbrechen der Kommunisten in Rußland, Mexiko und Spanien schweige. Dieses Schweigen werde von „geheimen Mächten begünstigt, die schon lange darauf ausgehen, die christliche Sozialordnung zu zerstören“ (S. 11-13). Es folgen dann Ermahnungen gegen staatlichen Terrorismus, gegen Liberalismus, Klassenkampf und Laizismus.

Der beste Kommentar zur 1938 geplanten Enzyklika Humani generis unitas stellt bis heute der zitierte Aufsatz von Pater J. Nota im Freiburger Rundbrief 1974 dar. Nach gründlicher Abwägung aller damaligen Chancen und Versäumnisse komme er zu folgendem Schlußurteil:

„Gewiß wäre vieles anders verlaufen, wenn schon 1933 eine gute Enzyklika gegen den Antisemitismus vorgelegen hätte. Man wäre dann ... hellhöriger gegenüber der nazistischen Judenhetze geworden. Andererseits aber waren die theologischen Konzepte der Zwischenkriegszeit ... noch zu stark von traditionell christlicher Judenfeindschaft belastet. Man kann also nur bedauern, daß damals keine gute Enzyklika herauskam. Gleichzeitig aber muß man froh sein, daß die vorliegenden Entwürfe nicht offizielle kirchliche Verlautbarung geworden ist. In diesem Falle wäre es nämlich noch viel schwieriger geworden, später zu dem Kompromißtext von Vaticanum II (Nostra aetate Nr. 4) zu gelangen.“

Die ideologisch-antijüdischen Verengungen, die sich in vielen Abschnitten des Enzyklika-Entwurfs finden (z. B. das „einst“ erwählte Volk Gottes), sind keine solide Basis zur Abwehr des Antisemitismus und schon gar nicht zur Versöhnung zwischen Juden und Christen. Angesichts historischer kirchlicher Unzulänglichkeiten müssen wir heute aus allen religiös-gesellschaftlichen Isolationismen heraustreten und über alle konfessionellen und religiösen Grenzen hinaus nach Wegen suchen, wie wir Menschenhaß und Religionsverachtung zum Verschwinden bringen können. Dazu gehört auch die Reinigung der eigenen Religionsgemeinschaft von Sprachlosigkeit und einseitiger Defensiv-Haltung. Das jüdisch-christliche Podium bleibt für diese Aufgabe unentbehrlich.10

  1. Laut Eduard Mörike, Mozart auf der Reise nach Prag, Bern o. J., 11.
  2. Die Geschichte des Christentums, Religion, Politik, Kultur, Bd. 12, hg. v. Jean-Marie Mayeur u. a., deutsche Ausgabe von Norbert Brox u. a., Freiburg i. Br. 1992.
  3. J. H. Nota, Edith Stein und der Entwurf für eine Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus, FrRu 26 (1974), 35-41.
  4. Die Tellux-Filmgesellschaft (Dresden) hat vor kurzem zusammen mit internationaler Koproduktion (Frankreich, Polen, Ungarn) einen Film hergestellt: „Die Jüdin, Edith Stein“. Leider scheint eine unbestimmte Angst vor jüdischer Ablehnung die Verbreitung dieses Werkes einzuengen. Der Film wird vorläufig nur als Video an kleine Zirkel abgegeben. Edith Stein ist eine wichtige Figur des 20. Jhs.: Jüdin, Atheistin, Philosophin, Mystikerin, von den Nazis Verfolgte und Ermordete! Der Film ist keinesfalls judenchristlich-propagandistisch. In der vorliegenden Form gefällt er auch jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, wenn er auch technisch nicht auf höchster Stufe steht.
  5. Dieser Satz wird im Buch von Passelecq/Suchecky mehrmals zitiert, zuerst S. 11 im 30seitigen Vorwort von Emile Poulat, das ein Zeugnis besonders gut geglückter Einfühlung in die kirchenpolitische und theologische Lage des Pontifikats Pius XI. darstellt. Auch im Zweiten Vatikanischen Konzil wurde dieser Satz besonders dann erwähnt, wenn es um Nostra aetate Nr. 4 ging.
  6. Zitiert aus dem FrRu 18 (1966) 38.
  7. LThK, 2. Aufl. 1930, Bd. 1, 504 f.
  8. Papst Pius XI., Divini Redemptoris, Über den gottesleugnerischen Kommunismus, und, Mit brennender Sorge, Über die Lage der katholischen Kirche im Deutschen Reich, Authentische Ausgabe, Innsbruck (Tyrolia) 1937.
  9. Diese Sätze stehen am Beginn der Enzyklika; offizielle Ausgabe S. 48.
  10. Ich danke dem 2. Vorsitzenden des Freiburger Rundbriefs e. V., Prälat Dr. Georg Hüssler, für seine helfenden Hinweise bei der Abfassung dieses Artikels. Als weit besserer Rom-Kenner erwies er sich bei manchen Beurteilungen als verläßlicher Zurechtrücker.

Jahrgang 4/1997 Seite 241



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