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Gertrud Luckner
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Brum, Alexa u. a. (Hg.)

KinderWelten

Ein jüdisches Lesebuch. Verlag Roman Kovar, Eichenau 1996. 240 Seiten.

„KinderWelten“ ist nicht nur das erste jüdische Lesebuch für Kinder seit 1938 in Deutschland, es erinnert auch im Aufbau stark an seine Vorläufer aus den 30er Jahren. Angeregt vom Pädagogischen Zentrum der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland (ZWSt), mit einem Vorwort von Ignatz Bubis versehen und vorrangig gedacht für den Unterricht an jüdischen Grundschulen, will das Buch mit fast 30 Autoren und doppelt so vielen Texten jüdisches Leben vermitteln — an jüdische, aber auch nicht-jüdische Kinder, an Eltern, Lehrer, Leser.

Wie in den alten „Jüdischen Kinderkalendern“ finden die Kinder — nach Themenkreisen geordnet — Gedichte, Legenden, Erzählungen zu jüdischen Themen und Anleitungen: wie Hamantaschen gebacken, mit Trendln gespielt oder Purimmasken gebaut werden. Waren es damals Geschichten vom großen und kleinen Meyer, die das Verhältnis von christlichen und jüdischen Schülern beschrieben, sind es heute die von Jossi und Hassan oder Jael und Anja, die von Freundschaften wie von Irritationen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kindern berichten.

Ein Kapitel befaßt sich mit dem „Anderssein“ — im Zentrum Kinder aus Israel, Deutschland und Rußland, ihre Sicht und ihr Leben zwischen Chanukka und Weihnachten, koscherem Essen und Hot Dogs, jüdischen und nichtjüdischen Elternteilen, Heimat und Fremde.

Im nächsten Teil werden jüdische Traditionen und Festtage thematisiert — in der Geschichte über den Obstbaum in der Wüste, über Davids Barmizwa oder ein imaginäres Schabbesgewürz, über das Mädchen, das sich ungefragt Baumaterial beim Nachbarn „ausleiht“, weil es so gern eine Sukka haben möchte, oder in der jenes Mädchens, das am Sederabend den Auszug aus Ägypten nacherlebt.

Das Buch schließt mit einer Sammlung von Märchen, Legenden und ostjüdischen Schwänken, mit denen alte Erzähltraditionen wiederbelebt werden; hier geht es um einen blinden Rabbi, den Propheten Elijahu und um die Taten der tölpelhaften Chelmer — in transkribiertem Jiddisch und gelungener deutscher Nachdichtung.

Ein kleinerer Teil der Texte — wie der von den Mazzen, die nicht vom Himmel fallen — ist von Kindern geschrieben, entnommen der Anthologie „Ich bin, was ich bin, ein Jude. Jüdische Kinder in Deutschland erzählen“, und einige der von „alten und neuen Erwachsenen“ verfaßten Geschichten sind mit Porträts ihrer Autoren ergänzt: Chaim Nachman, Bialik, Siegfried Abeles, Uri Orlev, Mirjam Pressler oder Rivka Keren.

Die Beiträge sind didaktisch aufbereitet, jedem Text sind Arbeitsvorschläge zum Weiterdenken, -spielen, -malen nachgestellt. Als sinnvoll erweisen sich auch die typographisch abgehobenen Erklärungen von hebräischen Begriffen und Fremdwörtern am Textrand, ergänzt noch durch ein Glossar am Ende des Buches. Etwas willkürlich und rätselhaft scheint allerdings, warum Wörter wie „notdürftig“ der Erläuterung „ärmlich“ oder „Vermögen“ der Bemerkung „größere Geldmenge“ bedürfen, während beispielsweise „Moleküle“, „Geckos“ und „Samoware“ unbehelligt bleiben und dafür der arme „Rabbiner“ gleich sechsmal Erklärungen über sich ergehen lassen muß.

Die alten Lesebücher — „Nichts Jüdisches sei uns fremd“ lautet noch das Credo in einem Kinderalmanach des Jahres 1936 — muteten ihren jungen Lesern freilich mehr zu, konnten ihnen mehr zumuten und mehr voraussetzen an Wissen und Substanz. Dort fanden sich ausgeklügelte Scherzfragen, Berichte vom Kinderdorf Ben Shemen, aus dem (damals) „heutigen Palästina“ und über die Vertreibung aus Spanien, Artikel über Theodor Herzl, über jüdische Erfinder oder Sportler („Theo Levy aus Hamburg, der türkische Meister im Kurzstreckenlauf“). Wo kämpfte Israel mit Amalek, und wer war der dritte Sohn Ahrons, wurde da gefragt, oder wieviele deutsche Juden am Ersten Weltkrieg teilnahmen — Fragen, die kaum ein jüdisches Kind heute mehr beantworten kann, oder die noch einen anderen historischen Hintergrund hatten, den des jüdischen Lebens in Deutschland vor der Schoa. Ein wenig mehr Geschichte und „kulturelle Realität“ hätten auch diesem neuen jüdischen Lesebuch gutgetan.

Zusammengenommen spiegelt das Buch nicht nur die derzeitige Situation jüdischer Kinder in diesem Land wider — sich definieren, einen Platz finden, jüdische Inhalte und Traditionen (neu) erlernen zu müssen, zu können, zu wollen — sondern auch den Stand der jüdischen Kinderliteratur: geeignete kürzere Texte sind in den letzten Jahren offenbar nur wenige entstanden. Das Buch besteht zu einem guten Teil aus Kurzfassungen oder Auszügen bereits erschienener Kinderbücher, israelischen Beiträgen und „Klassikern“ von Isaac B. Singer bis Bella Chagall (was nicht von Nachteil ist).

In einigen neueren Texten findet sich außer den Vornamen der Protagonisten wenig Jüdisches, und nicht jeder Beitrag folgt dem Anspruch des vorangestellten Mottos „Unsere Kinder sollen laufen lernen“; will sagen: Unsere Kinder sind nicht ganz so unbedarft, wie unterstellt wird, wenn etwas zu bemüht oder aus vermeintlich kindlicher Sicht eher unter- als überfordernd erzählt wird.

Durchweg eine Augenweide sind die Illustrationen von Ami Blumenthal, der genug Kind geblieben ist, um intuitiv und unbelastet mit Formen, Farben und Techniken zu spielen — beginnend bei der bunten figurativen Gestaltung der Buchstaben des hebräischen Alphabets, die den Leser durch das gesamte Buch begleiten, bis hin zu witzigen, phantasievollen Bedingungen jedes einzelnen Textes.

Alles in allem: ein erfreulicher Anfang, ein erster Schritt beim „Laufenlernen“ — dem hoffentlich bald weitere folgen — und eine Investition, die sich für Kinder und Eltern lohnen sollte.

Judith Kessler


Jahrgang 4/1997 Seite 126



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