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Franklin H. Littell

Den Holocaust erfinden

Rückblick eines Christen2

Wann bürgerte sich innerhalb der englischsprachigen Welt der Gebrauch des Begriffes „Holocaust“ ein? Zumindest seit der Zeit, als Elie Wiesels Nacht 1960 ins Englische übersetzt und veröffentlicht wurde und Raul Hilbergs Die Vernichtung der Europäischen Juden 1961 erschien, begann das Wort in akademischen Gefilden seine Kreise zu ziehen.

„Holocaust“ ist zu einem geheimnisvollen, einem mythischen Wort geworden. In den Religionswissenschaften hat die Unterscheidung zwischen falschen und wahren Mythen eine lange Tradition. Der wahre Mythos des Holocaust wird durch den Mißbrauch schlampiger Journalisten und eingleisig denkender Politiker bedroht. Aber es ist auch ein Wort von gewaltigem Einfluß und weitreichenden Folgen — ein Wort, das uns eine Innenansicht über etwas eröffnete, das wir über unsere Gesellschaft und uns selbst zwar wußten — uns aber nicht bewußt war, daß wir es wußten, weil uns keine Begriffe zur Verfügung standen.

Spielen Christen eine Rolle bei der Interpretation dieses Mythos? Wo ist ihr Ort im Rahmen der Entwicklung von Holocaust-Studien, bei der Weitergabe der Geschichten und Lehren des Holocaust? Ist die Tatsache von Bedeutung, daß das erste Universitätsseminar zum Holocaust in den USA in einem protestantischen Fachbereich auf den Weg gebracht und das erste Seminar zum Holocaust an einer deutschen Universität innerhalb einer theologischen Fakultät von Protestanten initiiert wurde?

Die Rolle der Christen während des Holocaust

Allgemein herrscht Übereinstimmung, daß im Zusammenhang mit dem Genozid an den Juden durch die Nazis die Rolle der christlichen Kirchen in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung darstellt. Unter Christen reichen die Positionen von heftiger Leugnung einer Komplizenschaft bis zum schmerzhaften Eingeständnis, der Holocaust hätte niemals geschehen können, wenn nicht Jahrhunderte des theologischen und kulturellen Antisemitismus innerhalb der Christenheit den Weg hierzu geebnet hätten.

1. Unter Juden ist die Unterstellung einer christlichen Komplizenschaft weit verbreitet. Die Christen waren entweder auf der Seite der Verfolger oder auf der Seite schuldig gewordener Zuschauer (bystanders), behaftet mit der Bilanz einer jahrhundertelang verbreiteten Lehre von der Verworfenheit der Juden und mit einer anhaltenden Feindschaft, die sich immer wieder in Pogromen niederschlug. Sehr wenige nur — so wenige, daß man sie „Heilige“ nennt — erwiesen sich hingegen als Retter. Auf Konferenzen zum Holocaust tauchen immer wieder bestimmte, vorherrschende Themen auf. Zuerst hat man den Beitrag eines jahrhundertelangen christlichen Antisemitismus für die Essenz der nazistischen Ideologie notiert. Mutige Arbeiten, wie etwa die von Wolfgang Gerlach über die Bekennende Kirche und die Juden, 3 und detaillierte Studien über Kittel, Althaus und Hirsch von Robert Ericksen,4 zeigten das Ausmaß christlicher Komplizenschaft in ihrer ganzen Breite und Tiefe.

2. Die Anfälligkeit von Geistlichen für die Verlautbarungen der NSDAP ist ein wichtiger Aspekt dieser Geschichte — aber es ist nicht die ganze Geschichte. Der Nationalsozialismus war eine — gleichermaßen populistische und spirituelle — Erneuerungsbewegung, und bedeutende Führer der Kirche, die nur wenige Monate später zur Opposition übergingen, waren anfangs in jenem patriotischen Enthusiasmus, der das Ende der Weimarer Republik einleitete, voll und ganz aufgegangen. Martin Niemöller beispielsweise wählte bei der letzten freien Wahl im März 1933 die Nationalsozialistische Partei. Dies paßt zur dunklen Seite des Bildes, und nur wenige nehmen sich die Zeit, um zu registrieren, daß Niemöller Ende Mai 1934 eine prominente Rolle im Widerstand ausfüllte. Aber noch viel weniger Menschen bedenken, daß ein über Jahrhunderte hindurch doziertes Lehrgebäude, das die Haltung gegenüber der jeweils aktuell herrschenden Macht regelte, erst zum Einsturz gebracht werden mußte, bevor auch nur in irgendeiner Art und Weise an einen Widerstand gegen den Staat zu denken war – einen Widerstand von Juden oder Christen.

3. In jüngster Zeit wurde den Christen im Rahmen von Diskussionen über den Holocaust die Rolle des Retters zugeschrieben. Wenngleich die von Yad Vashem, der Anti-Defamation League und anderen jüdischen Einrichtungen vorgenommene Anerkennung derer, die Juden gerettet haben — und von denen einige bekennende Christen waren — eine noble Geste ist, wird freilich in dem Moment, wenn das christliche Establishment dieses Thema aufgreift, ein gänzlich anderes Ziel verfolgt. Wir müssen uns immer hinterfragen: Wer spricht da? Kraft welcher moralischen Autorität? Und zu welchem Zweck?

A. C. Forrest, seit vielen Jahren der antisemitische Herausgeber des kanadischen United Church Observer, pflegte die Kritik an den Kirchen wegen ihres Verhaltens oder Nicht-Verhaltens während des Holocaust und zu Fragen über die unverbesserliche Feindseligkeit innerhalb kirchlicher Einrichtungen gegenüber der Existenz Israels vom Tisch zu fegen, indem er in einem Artikel aus Beispielen christlichen Widerstands ein Beispiel herauspickte und darüber berichtete. Sein bevorzugter Trick bestand darin zu fragen, worüber denn „die Juden“ sich beklagten, wo „sie“ doch von den Christen mit Bonhoeffer beschenkt worden seien und viele andere im Krieg geopfert wurden, um „sie“ zu retten.5

Die Gefahr eines rein jüdischen Blickwinkels im Rahmen der Holocaust-Forschung

Wie immer die Beurteilung der Verleugnung innerhalb der Kirchen ausfallen mag, auch jüdische Kurzsichtigkeit birgt beträchtliche Gefahren. Den Holocaust auf seine jüdische Dimension zu begrenzen mag ein authentischer Ansatz in Yad Vashem sein — einer jüdischen Institution in der Hauptstadt eines jüdischen Staates —, aber für Europa und Nordamerika kann es kein kluger Ansatz sein.

Der Holocaust wird auf diese Weise als eine „jüdische Angelegenheit“ definiert, als ein Ereignis des Lebens und Leidens des jüdischen Volkes. Alle Belange anderer Völker, die der Christen mit eingeschlossen, gelten ihrem Gewicht nach als peripher. Diejenigen, die des Trostes bedürfen, werden dadurch noch tiefer in Melancholie gestürzt, während man jene, die eine Konfrontation dringendst nötig haben, davonkommen läßt.

Wenn man dem Holocaust nur einen einzigen Mittelpunkt gäbe, anstatt ihn in dialektischer Weise sowohl mit den Erfahrungen, Belangen und Notwendigkeiten anderer Völker als auch mit denen des jüdischen Volkes in Beziehung zu setzen, würde man einer weiteren Verzerrung Tür und Tor öffnen. Diese Spannung zu durchbrechen, indem man ein epochemachendes Ereignis der Moderne in eine der konzeptuell denkbaren Schubladen einsperrt, führt zu einem vorzeitigen Abschluß der Debatte. Auf diese Weise gefahrlos verwahrt, würde der Holocaust etwa in den Augen der Theologen zu einer bloßen Illustration der „Theodizee“, für die Soziologen allein zum Produkt „rassistischer Vorurteile“ („anti-Semitismus“ [sic!]), für die Psychologen nur zum Ergebnis einer in Sachen „Gehirnwäsche“ geschickt agierenden, von einer „autoritären Persönlichkeit“ geleiteten „Führungsmacht“, für die Politikwissenschaftler bloß zum Nebenprodukt des modernen Krieges, und für die Meister der Banalisierung lediglich zu einem weiteren Beispiel für die „Unmenschlichkeit des Menschen“.

Eine weitere Gefahr eines rein jüdischen Blickwinkels besteht darin, den Holocaust als „einzigartig“ zu bewerten. Dies könnte ein tiefergehendes Studium unmöglich machen und verhindern, daß man Lehren aus ihm zieht. Es ist eine Sache, wenn ein Überlebender erklärt, „Niemand anders kann es verstehen!“ — eine schmerzerfüllte Äußerung, die ein hohes Maß an Wahrheit für sich hat. Eine andere Sache ist es, der Paradoxie des moralischen Imperativs, die dem Holocaust entwachsen ist, die Tür zu verschließen: nicht allein, daß wir „verstehen“, sondern daß wir alle uns auch verändern müssen. Wie immer in Fällen von Paradoxie und Dialektik, sind beide Dinge — die Hervorhebung der Partikularität und die Betonung der Universalität — wahr.

Auch wenn es niemals so kraß geäußert wird, drängt sich unter dem Einfluß eines einseitigen Blickwinkels doch der Eindruck auf, als halte man die Ermordung der Juden für das einzig wirkliche Verbrechen, das die Nazis begangen haben. Aber die erste Million Gefangener, die man in die Konzentrationslager brachte, wurden schließlich nicht als Juden identifiziert. Sie waren „Kosmopoliten“, Liberale, Sozialisten, Pazifisten, Kommunisten, Gewerkschaftsführer, Freimaurer, Mitglieder von „Kulten und Sekten“ und andersdenkende Christen.

Wir dürfen nicht vergessen, daß einige gegen den Nazismus kämpften, bevor der Genozid an den Juden zur Ausführung kam. Andere sehen die Hauptsünde des Nazismus im Götzendienst, d. h. in der Anerkennung von Führer und Führerstaat als Letztinstanzen, wobei die Verbrechen des Dritten Reiches — unter denen der Holocaust das Hauptverbrechen darstellt — als vollkommen logische Konsequenz erscheint.

Durchbricht man die Dialektik, indem man den Holocaust mit nur einem einzigen Pol versieht, statt ihn im dialektischen Zusammenspiel verschiedener Brennpunkte zu sehen, verschont man die Nicht-Juden. Macht man den Holocaust im falschen Sinne jüdisch, besteht für gewissenhafte Nichtjuden — unter ihnen Christen — kein Anlaß mehr, sich mit den Geschichten und Lehren des Holocaust zu konfrontieren. Ebenso schlecht: Begrenzt auf die Parameter jüdischer Erfahrung, wird der Holocaust für das jüdische Volk zu einem ungesunden Weg, eine Selbstdefinition zustandezubringen.

Den Holocaust in einer unzutreffenden Weise allein als jüdische Angelegenheit zu begreifen, stellt zur Zeit für jüdische Organisationen und für die Konzeption akademischer Programme eine ständige Versuchung dar, weil in beiden Fällen Geld und Lehrberufungen eine Rolle spielen. Aus der Einzigartigkeit des Holocaust wird so nicht viel mehr als eine geschmacklose Kostbarkeit — statt eines Motors kraftvoll moralischer Initiativen. Der Niedergang — wie wir ihn in Amerika erlebt haben — kann sehr einfach beschrieben werden. Das Gemeinwesen wird dem Druck ausgesetzt, und für die Schule wird es politisch ratsam werden, Holocaust-Kurse anzubieten. Wenn es kein Programm für Jüdische Studien gibt, wird die Administration die Verantwortlichkeit an einige willige Professoren weitergeben, deren einzige „Qualifikation“ über den Holocaust zu lehren — in neun von zehn Fällen — auf der Tatsache ihres Jüdisch-Seins gründet. Diese Form der Lehrberufung aber ist ein subtil umgekehrter Antisemitismus. Haben nicht jüdische und christliche Erzieher Grund zur Zusammenarbeit, um sicherzustellen, daß das Studium des Holocaust für jeden Schüler und Studenten fundamentaler Bestandteil seiner Erziehung zum Bürger sein wird?

Die offene Tür der Erinnerung

Der Holocaust ist eine Schlüsselfrage für das Christentum, für die Universität und für demokratische Bewegungen, die um Freiheit kämpfen. Und darüber hinaus ist es auch eine Schlüsselfrage über den Sinn des Lebens.

Wird die furchtbare Last des Holocaust auf einen einzigen Brennpunkt begrenzt, schafft man auf beiden Seiten einen unwiderstehbaren Zwang, die Tür zu schließen, die Erinnerung nach außen zu verlagern, das Ereignis als Teil einer vergangenen Geschichte einzufrieden. Dies ist die Gefahr in den Vereinigten Staaten, wo mehrere hundert Millionen Dollar in die Errichtung von Holocaust-Gedenkstätten geflossen sind — und wo bis Ende 1989 nicht mehr als ein namhafter Lehrstuhl für Holocaust-Studien an einer öffentlichen Universität eingerichtet war, das Richard Stockton College.

Bevor nicht mit den Gedenk- und Erinnerungsstätten eine erzieherische Initiative gekoppelt ist, bevor es nicht eine fortgesetzte Anstrengung im akademischen Dialog gibt, der die jüdischen und christlichen Traumata von Auschwitz zum Inhalt hat, signalisieren die Gedenk- und Erinnerungsstätten nur einen vorzeitigen Schlußstrich.

Wie kann man die Erinnerung lebendig halten, damit sie heilsam ist und nicht wie in einem Buch mit sieben Siegeln verborgen bleibt? Wie lange kann das Gedächtnis anhalten? In The Texture of Memory6 berichtet James E. Young von einem brillant konzipierten Holocaust-Mahnmal in Hamburg, entworfen von Jochen Gerz und Eti Shalev — die auch das packende Mahnmal in Saarbrücken geschaffen haben. Es handelt sich um eine Säule, die absichtlich zur Beschriftung durch das Publikum freigegeben ist. Die Bürger werden dazu ermutigt, ihre Reaktionen und Meinungen auf die Säule zu kritzeln. Das zweite bemerkenswerte Charakteristikum dieses Mahnmals in Hamburg-Harburg besteht darin, daß es langsam im Erdboden versinken wird. Im Laufe der Zeit wird das Mahnmal samt der vielen eingravierten Reaktionen den Blicken entschwunden sein.

Wenn wir einsehen, daß Geschichte nicht ein vergangenes Ereignis ist, sondern ein kontinuierlicher Prozeß, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhält, dann wird die Konfrontation mit den Geschichten und Lehren des Holocaust noch für eine geraume Zeit erhalten bleiben müssen. Um des jüdischen Volkes willen und für eine Heilung der Glaubwürdigkeitskrise des Christentums ist ein vorzeitiger Schlußstrich der gefährlichste Feind.

Das Studium des Holocaust: interreligiös, interdisziplinär und international

Die erste internationale Konferenz, die thematisch die Schoa mit den Problemen des Christentums zusammenbrachte, hat sich diese dreifache Orientierung zu eigen gemacht. 1970 an der Wayne State University durchgeführt, war sie die erste einer nachfolgenden Serie: die Annual Scholars' Conferences. Dieses alljährliche Ereignis stellte für einige Jahre das einzige Netzwerk und Zentrum der Diskussion für die Holocaust-Forschung in den USA dar. Jetzt mag die Zeit reif sein, den Holocaust und seine historische Einzigartigkeit auf eine Weise zu thematisieren, die ihn weder aus der Geschichte entfernt noch auf die Geschichte der betroffenen Gruppen beschränkt oder ihn ausschließlich auf die Erfahrung der Opfer zentriert.

Der Holocaust ist ein Ereignis in der Geschichte: in dem Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; ein Ereignis in der jüdischen Geschichte; in der Geschichte des Christentums; in der Geschichte der westlichen Zivilisation; in der Geschichte der Menschheit.

In der Geschichte des jüdischen Volkes ist der Holocaust die Geschichte einer zerstörten Zivilisation und Kultur, die Geschichte über den Preis der Ohnmacht, den man innerhalb latenter oder offen feindlich gesinnter Gesellschaften bezahlt. Er ist aber auch die Geschichte von der Wiederentdeckung und Blüte jüdischer Lebenskraft nach Auschwitz in Erez Israel und in der Diaspora.

In der Geschichte des Christentums ist der Holocaust ein Zeugnis von den mörderischen Konsequenzen aus Predigt und Lehre der Verwerfung, ein Beleg für den Preis, der bei spiritueller und politischer Anpassung zu zahlen ist, ein Beweis für den niedrigen Standard der Ausbildung des Klerus und aller Mitglieder der Kirche, ein Zeugnis vom Verlust der Autorität und der Glaubwürdigkeit inmitten einer Vielzahl von alternativen Glaubens- und Lebensmöglichkeiten.

In der Geschichte der westlichen Zivilisation dokumentiert der Holocaust, was geschieht, wenn Systeme und Strukturen versagen — wenn Schulen und Universitäten eher zum Übungsgelände für technisch kompetente Barbaren als zum Ort der Ausbildung mündiger Bürger werden; wenn der Berufsstand der Juristen sein technisches Geschick dazu nutzt, das Recht auszuhöhlen statt ihm zu dienen; wenn Mediziner ihre Fähigkeiten dazu einsetzen, zu foltern und zu töten, statt zu heilen; wenn Religionslehrer höhere Wahrheiten untergraben; wenn Polizei und Militär zu Folterknechten und Mördern werden.

In der Geschichte der Menschheit ist der Holocaust eine Warnung vor der anhaltenden Macht des Bösen; eine Warnung, daß technischer Fortschritt keineswegs die Reifung des menschlichen Geistes garantiert.

Konstantinisches Christentum und die Juden

Als die Kirchenväter ihre negative Definition des Christentums vorgestellt hatten, als ihre Formulierung des Ersetzungs-Mythos für die Theologen zum Eckstein triumphalistischer Dogmen wurde, war der genozidale Geschmack bereits auf der Zunge zu spüren. Die positive Definition vom Wesen des Christentums besagte, ein Leben voll brüderlicher Liebe, des Dienens, des Heilens, der Selbstaufopferung zu führen. Der Eckstein der negativen Definition war der theologische Antisemitismus.

Die negative Definition paßte zu den administrativen Praktiken der Römer und erleichterte die intellektuelle Flucht aus der Geschichte heraus und in ein triumphalistisches Denksystem hinein, welches einer doketischen Spaltung von Geist und Körper den Vorzug gab. Während die Rede der Kirche den selbstlosen Dienst betonte, projizierten die kirchlichen Bürokraten ihr eigenes Talent und die Anhäufung ihrer Macht und ihres materiellen Wohlstandes auf „die Juden“. Was das Übergleiten in einen potentiell genozidalen Antisemitismus betrifft, legt Jules Isaac den Finger an die richtige Stelle, wenn er über die Gefahr für das jüdische Volk schreibt, die dem Konstantinischen Modell der Kirche inhärent ist: Nach sehr eingehender tiefer historischer Forschung behaupte ich, daß das Schicksal Israels (d. h. des jüdischen Volkes) nicht vor dem vierten Jahrhundert A. D. mit dem Entstehen der christlichen Herrschaft einen wirklich unmenschlichen Charakter angenommen hat.7

Nach der Etablierung der konstantinischen Herrschaft verfielen die Akademien und wurden schließlich geschlossen, die hebräischen Schriften wurden enteignet und die Kirchen proklamierten, das jüdische Volk als Träger der Geschichte abgelöst zu haben. Der theologische Antisemitismus wurde zum Standard ziviler und kirchenamtlicher Gesetzesbücher.

Als Kaiser Justinian im Jahre 535 die Tür der letzten heidnischen Akademie verschloß, erklärte er, daß „die großartigsten Geschenke, die Gott den Menschen gibt, die Priesterschaft und das Reich sind, die Priesterschaft zum Dienste des Menschen und das Reich zur Ordnung der menschlichen Angelegenheiten.“8

Dergestalt wurde der Dialog mit der Geschichte für beendet erklärt, so wie man ihn mit den Akademien beendete, in denen die dialogische Methode gelehrt wurde. Christen, die die dialogische Methode in die Gemeinde hineintrugen, wurden verfolgt und unterdrückt und ihre Lehren als Häresie geächtet. Das einzige, was übrigblieb, um die eigene Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen, war der Gehorsam gegenüber der kirchlichen Hierarchie und dem weltlichen Herrscher. Sowohl die Zentren der Macht als auch die breiten Massen, die Intellektuellen und das Proletariat entschlüpften dem Zugriff des religiös-christlichen Establishments.

Als vor etwas mehr als einem Jahrhundert der politische Antisemitismus aufkam — charakterisiert durch den Gebrauch des Antisemitismus als politische Waffe —, war er nicht mehr länger Ausdruck eines theologischen Antisemitismus der Heidenkirche und des Jahrhunderte währenden Christentums.

Die Kirchenführer und Theologen, die einen Antisemitismus predigten und lehrten, der nur kurz vor dem Genozid einhielt, konnten nicht mehr länger weder die Machthaber noch die Massen an der Leine halten: Unabweislich traten genozidale Antisemiten auf den Plan, deren versteckte Verachtung für die kirchliche Autorität ihrem offenen Haß auf das jüdische Volk ebenbürtig war. Hitlers brüske Antwort an die deutschen Kirchenmänner, die 1936 persönlich gegen die Mißhandlung der Juden protestierten — „Was beschwert ihr euch? Ich befolge nur, was ihr jahrhundertelang gelehrt habt!“ —, brachte sie wie betäubt zum Schweigen.

Der Holocaust stellt keinen Bruch auf Weg und Richtung der westlichen Zivilisation dar. Noch war er ein irrationales Programm, das sich dem Konzept einer biologischen Politik des Dritten Reiches verdankt hätte. Beides, die Endlösung und der „Lebensborn“ waren rationale Programme, ausgeführt und überwacht von Professoren moderner Universitäten von Weltrang, bevor die Nazis sie übernahmen. Die Programme wurden von einfachen Leuten in die Tat umgesetzt, die im Verbund von Kirche und Staat darauf konditioniert waren, zu gehorchen und emotional bestärkt wurden durch loyale peer groups.

Glaubwürdigkeitskrisen

Es gibt eine Glaubwürdigkeitskrise des Christentums nach Auschwitz. Und ebenso gibt es eine Glaubwürdigkeitskrise der modernen Universität, eine Krise, von der Christen und Juden und andere Menschen mit Gewissen betroffen sind.

Fragen an die Christen

Es sind einige bescheidene Fortschritte hinsichtlich einer Erneuerung der christlichen Lehre erzielt worden. Beispielsweise ist in den Kirchen des Westens — nicht aber in denen der russischen Orthodoxie — dem Antisemitismus im Sinne einer normativen Methode ein Ende bereitet worden. Oder: „Kein Theologe argumentiert heute zugunsten gottgegebener Diktatoren, oder lobpreist die göttliche Mission einer einzigen Nation“.9 Aber es müssen noch viele Meilen zurückgelegt werden.

Wenn man den Enthusiasmus manch offizieller Kirchenvertreter beobachtet, mit welcher Eile sie darangehen — bewaffnet mit einer triumphalistischen Theologie und jeder nur denkbaren Entschuldigung —, „die Juden“ und Israel zu definieren, fühlt man sehr stark, daß Juden und Christen zuerst einmal lernen müssen, die jeweiligen Bemühungen um eine Selbstdefinition gegenseitig zu respektieren.10

Wie soll ein glaubender Mensch die Heiligen Schriften im Schatten des Holocaust lesen? Man nehme z. B. Psalm 37,25: „Bin jung gewesen, nun bin ich alt, und niemals sah ich, daß verlassen ist der Gerechte; niemals, daß betteln seine Kinder um Brot“ oder der 91. Psalm (Vers 7-8): „Und fallen auch tausend an deiner Seite, zu deiner Rechten zehntausend: dich wird es nicht treffen. Mit eigenen Augen wirst du es schauen, an den Sündern wirst du sehn die Vergeltung.“ Wir sind in eine Debatte mit Gott hineingestürzt, eine Debatte, die eine der wichtigsten spirituellen Prüfungen darstellt, die der Asche von Auschwitz entstiegen ist.

Wie kann das generelle Versagen der Christen während der Zeit von Hitlers Festung Europa definiert werden? War es schlicht nur eine weitere Spielart jener ständigen Feindschaft der Heiden gegenüber dem auserwählten Volk? Gab es in der Schoa die Konvergenz zweier singulärer Faktoren? Erstens die Frustrationen und Rasereien eines Christentums, das sich im Niedergang und in Apostasie befindet, und zweitens die Machtlosigkeit des jüdischen Volkes?

Was ist von den Schwierigkeiten zu lernen, die jene Christen in Deutschland hatten, die Widerstand leisteten? Über Jahrhunderte hinweg hatten ihre christlichen Vorväter eine beachtliche Literatur über die Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Autorität geschaffen. Es gab nur sehr wenige Überlegungen, die über die Umstände aussagten, in denen Widerstand erlaubt ist, noch weniger Material gibt es darüber, wann Widerstand zur Pflicht wird, und fast nichts über erlaubte Formen des Widerstands.

Viele Christen der Bekennenden Kirche, die passiv oder aktiv Widerstand leisteten, taten dies aufgrund ihrer tiefen Aversion gegen Hitlers Behandlung der Juden und in Anbetracht seiner Einmischungen in interne Angelegenheiten der Kirche. Sie hatten es nicht getan, weil sie mit einer angemessenen christlichen Theorie des Widerstands ausgerüstet gewesen waren, sondern aus einer instinktiven Abneigung gegen die Gewalttätigkeit. Bonhoeffers Versuch, eine konfessionelle Definition zu erarbeiten, die zur Basis des (im Prinzip verräterischen) Widerstands einem Regime gegenüber werden sollte, ist als eine der großen Studien christlich spirituellen und intellektuellen Heldentums zu würdigen.11 Welche traditionell christlichen midraschim müssen für Christen geändert werden, um in der Lage zu sein, ein authentisches evangelion in einer Post-Holocaust-Welt zu vertreten? An welcher Stelle können im Rahmen der post-christlichen Welt Unterscheidungen getroffen werden zwischen apodiktischen Statements, die der Gemeinschaft der Gläubigen vertraut sind und einer Sprache, die den Diskussionen mit den Mitbürgern in einer pluralistischen Gesellschaft angemessen ist?

Fragen an die Akademiker

Wo können Juden und Christen in Universitäten gemeinsam arbeiten, um eine neue berufsständische Ethik und Moral zu bewirken? Was war es, das in den Universitäten von Weltruf fehlte, in denen die Doktoren, Rechtsanwälte und Juristen, Beamte, Geschäftsleute, Theologen und Techniker ausgebildet wurden, damit die Tötungsmaschinerie zu einem außergewöhnlich erfolgreichen Unternehmen werden konnte?

Der Dialog innerhalb der akademischen Disziplinen hat erst begonnen, die Bereiche der höheren Bildung zu berühren, obwohl die Evangelischen Akademien in Westdeutschland 1945-1955 im Angesicht der Notlage der Fakultäten während der unmittelbaren Nachkriegszeit die Fragen nach einer berufsgebundenen Ethik thematisiert haben.

Die Tür offenhalten

Keine Diskussion des Holocaust darf dazu führen, ihn zu einem abseitigen Thema im Sinne einer rein „jüdischen Angelegenheit“ zu machen. Und keine Präsentation des Holocaust sollte mit der düsteren Seite der Tragödie enden, sondern auch die Wiedererrichtung des Staates Israel und die Wiedergeburt einer Post-Holocaust jüdischen Welt in der Diaspora ins Gedächtnis rufen.

Absichtlich ende ich mit kontroversen und ungelösten Fragen und Konzepten, um erneut zu betonen, daß das Studium und die Artikulation der Lehren des Holocaust vor allem verhindern soll, einen vorzeitigen Schlußstrich zu ziehen. Die Präsentation der Geschichte und ihrer Lehren müssen offen gehalten werden, damit sie uns und den nachfolgenden Generationen Anlaß zu weiterer Arbeit sind.

Die Geschichte des Holocaust zu erzählen, die Fakten zu erforschen und die Wahrheit dieses Ereignisses den ungläubigen und skeptischen Beobachtern dieser und der kommenden Generation zu übermitteln, wird nur mit Hilfe einer wirklich sorgfältig gepflegten Kollegialität zwischen jüdischen, christlichen und anderen nicht-jüdischen Gelehrten gelingen können. Durch eine solche Kollegialität, die wiederum selbst nur möglich ist mittels chesed (liebevolle Freundschaft), mögen die nackten Tatsachen des nationalsozialistischen Genozids an den Juden als „der Holocaust“ Eingang in das Kontinuum der Geschichte finden — anerkannt als ein „epochemachendes Ereignis“, als „wahrer Mythos“ — tief verwurzelt im Bewußtsein aller Menschen, die mit Gefühl und Gewissen ausgestattet sind. So lange die Geschichte andauert, wird diese Verfügung Geltung besitzen: daß der Holocaust (Qurban, Schoa) nur im Verbund mit der Krise des Christentums wirkungsvoll wird erforscht und gelehrt werden können. Der Holocaust ist keine „Erfindung“, wie uns die Revisionisten weismachen wollen und wie jene vermuten, die ihn um spezieller Interessen willen manipulieren wollen: Wir schauen zurück und sehen ihn — so nah und so unausweichlich wie unseren eigenen Schatten.

  1. Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Holocaust and Genocide Studies, Bd. IX, Nr. 2, Herbst 1995, und wird hier mit Erlaubnis des Autors von der Redaktion gekürzt veröffentlicht.
  2. Franklin H. Littell ist Träger der Buber-Rosenzweig-Medaille (1996). Vgl. FrRu NF 2/1996,
  3. Wolfgang Gerlach, als die Zeugen schwiegen: Bekennende Kirche und die Juden, Berlin 1987.
  4. Robert P. Ericksen, Theologians under Hitler, New Haven 1985.
  5. Siehe die im November 1971 erschienene Ausgabe des United Church Observer über Bonhoeffer und den Widerstand der Bekennenden Kirche; und die Ausgabe vom Januar 1972 über Alliierte, die sich für „die Juden“ geopfert haben.
  6. James E. Young, The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning, New Haven 1993, 28-37.
  7. Jules Isaac, Has Anti-Semitism Roots in Christianity?, New York 1961, 45.
  8. Zitiert von Shahe Ajamian, in: Immanuel No. 10, Frühjahr 1980, 69-79, 76.
  9. John S. Conway, Twenty Years On, Fifty Years Later, in: Littell et al., What Have We Learned?, 37.
  10. Wir hören oft offensive christliche Definitionen von dem, was „die Juden“ sind. Manchmal leiten sie sich aus der klassischen Substitutionslehre und/oder triumphalistischen Dogmen ab. Aber auch offensive jüdische Definitionen von dem, was Christentum ist, sind öffentlich zu hören. Beide stehen für eine Verweigerung des Dialogs.
  11. James Patrick Kelley über „Dietrich Bonhoeffer und die Juden“, in: Littell et al., What Have We Learned?, 77.

Übersetzt aus dem Englischen von Christoph Münz.


Jahrgang 4/1997 Seite 102

„Das Alte Testament ist abgeschafft. Wir leben im Neuen!“,
so der Churer Bischof Wolfgang Haas am 3. Dezember 1996 in Saint Maurice.

Fragen eines Augen- und Ohrenzeugen:
Hat nicht schon der Häretiker Markion im 2. Jh. Gleiches verkündet? Was werden die Obrigkeiten in Rom zu dieser Häresie sagen?



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