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Eva Auf der Maur

„Jüdisch“ - Auszeichnung, oder was?

Blickt man zurück auf den Anfang unseres Jahrhunderts, so fällt auf, daß das Eigenschaftswort „jüdisch“ seinen Anwendungsbereich ausgedehnt hat. Eigentlich bezeichnete es die praktizierte Religionszugehörigkeit wie katholisch oder evangelisch und damit Menschen, die sich zur jüdischen Religionsgemeinschaft bekannten, also alle, die noch dem angestammten Glauben angehörten oder solche, die ihm neu beigetreten waren. Diejenigen, die wohl ursprünglich aus jüdischen Familien herkamen, aber aus dem israelitischen Gemeindebund ausgetreten waren oder zum Christentum konvertiert hatten, fielen nicht mehr unter die Kategorie „jüdisch“. Das will nicht heißen, daß es keinen Antisemitismus gab; den gab es wohl, besonders beim Militär, aber kaum im Bereich der Kultur.

Seit der unseligen Nazizeit jedoch und ihrer widersinnigen, sich vielmals selbst widersprechenden Rassenlehre kümmert man sich indes seltsamerweise ausschließlich bei Juden mehr um die Abstammung der Menschen als um ihre religiöse Überzeugung. Schon bei den Nationalsozialisten war nicht das Glaubensbekenntnis ausschlaggebend. Sie sonderten nicht nur bekennende oder „rassisch“ jüdische Menschen, sondern auch „Arier“, die mit Juden verheiratet waren oder deren Weltanschauung nicht „paßte“, als jüdisch oder vielmehr „verjudet“ aus.

Das Interesse am religiösen Bekenntnis oder an der Rasse — ein bei Juden unsinniges Unterfangen in Anbetracht der so verschiedenen Ethnien — hat heute nach der Überwindung des Nazismus erstaunlicherweise eher zu- als abgenommen. Noch immer, oder wieder, wird jeder Schaffende, sei er nun Schriftsteller, bildender Künstler, Musiker oder Wissenschaftler, der entweder selber Jude ist oder von Juden abstammt, in jeder öffentlichen Erwähnung ausdrücklich als Jude eingeführt, was wiederum unangenehme Aufmerksamkeit auf die scheinbare Präponderanz der Juden in Kultur und Wissenschaft auslösen kann.

Es wird also weiter wie zu Goebbels Zeiten Ahnenforschung betrieben, sogar rückwirkend: Seit einigen Jahren weiß man, daß der bedeutende italienische Maler Amedeo Modigliani (1884-1920) Jude war und daß Marcel Prousts Mutter aus einer jüdischen Familie stammte.

Ist es ein unreflektiertes Weiterschleppen internalisierter Gewohnheit, oder verbirgt sich dahinter ein schlechtes Gewissen? Will man mit dem Etikett „jüdisch“ unterstreichen, was Juden für die Kultur der Welt geleistet haben und noch immer leisten — eine Art Wiedergutmachung, der ewige, uneingestandene Minderwertigkeitskomplex gegenüber den Juden? Doch ist sehr zu befürchten, daß dieser falsch verstandene Philosemitismus nur eine dünne Tünche über dem unterschwellig weiter schwelenden Antisemitismus ist. Die zwanziger und dreißiger Jahre noch gut im Gedächtnis und deutlich im Ohr höre ich die Rede von der „jüdischen Beherrschung“ der Medizin in Deutschland.

Was trägt dieses Wissen zur Rezeption von Werken bei? Steigt der Erkenntnisgehalt einer Philosophie, der Wert einer wissenschaftlichen Entdeckung oder eines musikalischen Werks, wenn sie von einem Juden erdacht oder erforscht wurden, auch wenn das Oeuvre nichts mit Judenturn zu tun hat? Warum wird die Konfessionszugehörigkeit eines christlichen, nichtjüdischen oder agnostischen Dichters, Malers, Musikers, Nobelpreisträgers nicht erwähnt?

Es sollte jedem überlassen bleiben, ob er seine religiöse Überzeugung oder ethnische Abstammung publik machen will. Orthodoxe Juden, so wie katholische Priester, haben das Recht, sich äußerlich kenntlich zu machen — aber nur sie selber und nicht die anderen. Nagelt man einen aus der Kirche Ausgetretenen sein Leben lang auf seiner ehemaligen Konfessionszugehörigkeit fest und schreibt man alles, was er schafft oder erzeugt, dieser zu?

Daß sich keiner der als „jüdisch“ apostrophierten Prominenten dagegen wehrt, ist wohl selbstverständlich für einen moralischen Menschen. Es ist ja keine Schande, von Juden abzustammen, und bedenkt man das Unerhörte, das den Juden angetan wurde, ist Solidarität ein Gebot, selbst wenn Weltanschauungen differieren.

Die Gefahr eines neuerlichen Antisemitismus ist noch lange nicht gebannt, gelten die Juden doch immer noch als die Fremden, anderen. Hier sollten vor allem die Intellektuellen aufmerksam sein und die Bedrohung durch unausgesprochenen Neid wittern, die diese besondere „Auszeichnung“ in sich birgt.

Der Antisemitismus schleicht sich überall ein und ist also auch überall aufzuspüren und mit allen Mitteln zu bekämpfen, auch da, wo er sich mit einem Lobesmäntelchen tarnt.


Jahrgang 4/1997 Seite 90



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