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Wolffsohn, Michael

Die Deutschland Akte

Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden. Edition ferenczy bei Bruckmann, München 1995. 2. Aufl. 1996. 396 Seiten.

Das Ungewohnte und Einzigartige des Buches spricht aus dem Editionsbericht (11): Neun Jahre haben sechs junge Historiker und Politikwissenschaftler unter Michael Wolffsohn in ungefähr 30 Archiven der Bundesrepublik Deutschland, der einstigen DDR, in Israel, Großbritannien, Frankreich und den USA geforscht. Ermöglicht hatten das die Volkswagen-Stiftung, das Bundesinnenministerium, das Bayerische Kultusministerium.

Das Fazit sind fünf Kapitel mit über 1500 Anmerkungen: Das antifaschistische Vermächtnis der DDR, Geist und Macht in der DDR (Untertitel: „Nützliche Poeten — Begegnungen mit den Gysis— Vater und Sohn), Die DDR und Israel, Die Feinde Israels als Freunde — Die Arabienpolitik der DDR, Roter Teppich — Weißes Haus. Oder: Die Liebe zur jüdischen Weltmacht. Zu der Vielzahl an Anmerkungen erklärt der Autor (15): „Wir schreiben keinen Roman, sondern ein Sachbuch. Es fußt auf jahrelangen wissenschaftlichen Studien. Deshalb die vielen Fußnoten. Diese Anmerkungen sind vor allem für die Zweifler .:. (sie) sind Belege, zeigen Fundstellen auf ... Wir analysieren Geschichte, und wir erzählen Geschichten. Essayistisches steht neben Provokativem und Satirischem.“

Wolffsohn und sein Team wollten ein wissenschaftliches und zugleich zum Lesen verlockendes Buch vorlegen: „Den Beschönigern von Diktaturen im allgemeinen und der DDR-Diktatur im besonderen wollen wir das Handwerk erschweren“ (11). Das Ziel, trotz Wissenschaftlichkeit „unter die Leute zu kommen“, wurde erreicht. Forderte der Erfolg seinen Preis? Erste, vorläufige Antwort: Den Philosemitismus fördernde und somit neu drohenden Antisemitismus bekämpfende, prophylaktisch-aktive Public Relations und Imagepflege ist das Buch nicht — nicht für sich allein. Wer zu dem Buch greift, wird vor den Entscheid gestellt, sich auf den Holzweg einer neuen, zwangsläufig antisemitischen, Kollektivschuldthese zu verirren — oder gerade diese Lektüre inspiriert ihn, redlich zu Ende zu denken: wer das wagt, stößt zum eigenlichen Fazit: Die Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik Deutschland war insgesamt das moralisch-ethische Fundament ihres Widerstandes gegen jene Diktatur, die unter anderem den Gulag zu verantworten hat, zumindest war die Wiedergutmachung in der Ara Adenauer der nicht wegdenkbare Kern-Teil jenes Fundamentes. Sie stand nicht allein für individuell erlittenes Unrecht, sondern förderte auch das zur Zeit des Holocaust noch nicht existente Völkerrechtssubjekt Israel. Diese Wiedergutmachung wurde zu einem Zeitpunkt begonnen, als nicht sicher war, ob sie wirtschaftlich zu bewältigen sei. Um diese Wahrheiten und Fragen in den Kreislauf der öffentlichen Meinung, der political und ethical correctness zu bringen, schuf Wolffsohn die aufklärend-jätende Voraussetzung. Wo gejätet wurde, muß gepflanzt werden.

Wolffsohn spricht mehrfach von „Geschichtspolitik“. Das junge Doppelwort ist ein Kind des Historikerstreites. — Beschränkt sich Geschichtspolitik darauf, Schuldzuweisungen zwischen aktuellen (partei-)politischen Fronten hin und her zu schieben; oder wird sie zu der Katharsis, die neue Sinnhorizonte erschließt? Die Frage entscheidet über unser aller Zukunft, nicht „nur“ über die der Juden. — Daß Wolffsohn uns auf diesen Gedanken-Gang zwingt, ist Verdienst, ist auch Rechtfertigung seines Buches.

Otto Kopp


Jahrgang 4/1997 Seite 64



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