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Aly, Götz

„Endlösung“

Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1995. 446 Seiten.

Das vorliegende Buch trägt allzu pauschal den Titel „Endlösung“. Es geht nur auf einen begrenzten, allerdings sehr wichtigen Zeitraum dieser Thematik ein, wenn es die historische Entwicklung vom Beginn des 2. Weltkriegs bis zur Wannseekonferenz am 20. Januar 1941 rekonstruiert, die voraufgehende Geschichte seit 1933 und die nachfolgende Geschichte bis 1945 aber nicht mehr berücksichtigt. Für den begrenzten Zeitraum von 1939-1941 liegt hier eine wichtige Studie vor, die neue Aspekte der damaligen Zeit erschließt. Das Buch beschreibt minutiös, wie es allmählich zur Ermordung des europäischen Judentums kam. Der Autor stützt sich für seine Arbeit auf zahlreiche Dokumente aus deutschen, russischen und polnischen Archiven. Aly zeigt, daß der Kriegsbeginn einen wichtigen Termin in dieser Geschichte markiert, weil er den Nazis nun Möglichkeiten gab, die vorher nicht bestanden. Sie brauchten nun noch weniger Rücksicht auf die Stimmung in Deutschland und im Ausland zu nehmen, konnten auf die Schwächung religiöser und juristischer Traditionen zählen und erhielten durch die Eroberung eines großen Territoriums im Osten auch die räumlichen Voraussetzungen für ihre Verbrechen.

Aus der Thematik seien hier nur drei Einzelfragen herausgegriffen:

(1) Aufgrund der Quellenlage sind sich die Historiker nicht einig, wann die Entscheidung zum Mord an den europäischen Juden fiel. Die Daten März, Juli und Oktober 1941, für die wichtige Indizien vorliegen, werden kontrovers diskutiert. Aly plädiert nachvollziehbar dafür, diese Termine nicht als einzelne Entscheidungsakte zu begreifen, „sondern als —  qualitative —  Stufen im Verlauf des breit angelegten, in sich widersprüchlichen politischen Willensbildungsprozesses“ (388).

(2) Zweifellos viel wichtiger ist die Frage, ob der Entscheidung zur Ermordung des Judentums ein einzelner Willensakt Hitlers und/oder seiner Gefolgsleute zugrunde liegt, oder ob hier ein Entscheidungsprozeß vorliegt, der sich über eine Zeit von mehreren Monaten hinzog, der immer wieder neu durch die militärischen Siege und Niederlagen, durch innenpolitische Rücksichtnahmen, durch unterschiedliche Entscheidungen mehrerer Personen in unterschiedlichen Funktionen und Stellungen (Göring, Himmler, Heydrich, Eichmann u. a.) zustande kam. Aly diskutiert die gängigen Positionen und wendet sich deutlich gegen den „Intentionalismus“ von Eberhard Jäckel, der den Holocaust nur aus den Intentionen Hitlers erklären will und Hitlers Macht und seinen Willen allein für den Holocaust verantwortlich macht. Erneut weist Aly darauf hin, daß wir keinen ,Führerbefehl‘ zur Vernichtung der Juden kennen und zeigt, daß das Vernichtungsprogramm zunächst nur in verschiedenen Varianten und Modellen konzipiert und aufgrund einzelner Vernichtungsaktionen geplant wurde. Dabei kann er auf Entwicklungssprünge hinweisen, die ursprünglich vor der „Endlösung“ auch „territoriale Lösungen“ (Deportationen in großem Stil) möglich erscheinen lassen, wobei die Nazis darauf zählten, daß in den verschiedenen Umsiedlungsprojekten viele Juden durch Kälte, Hunger, Zwangsarbeit und Erschöpfung umkamen. Um so bedeutsamer wurde dann schließlich der Konsens zur „Endlösung“, den Heydrich, Eichmann u. a. auf der Wannseekonferenz zustandebrachten. Im Zusammenhang mit dieser Perspektive stellt Aly die bedrückende Frage, „ob die Vernichtungsmaschinerie nicht gestoppt oder zumindest verlangsamt worden wäre, hätten sich in den ersten Wochen und Monaten ernsthafte Widerstände und Legitimationsschwierigkeiten aufgetan“ (399). Allerdings läßt Aly nicht im geringsten einen Zweifel an der Letztverantwortlichkeit Hitlers aufkommen. „Die Rolle Hitlers läßt sich, betrachtet man die Gesamtheit der in diesem Buch vorgelegten Dokumente, nicht als die des unerbittlichen Befehlsgebers beschreiben, sondern als die eines Politikers, der seinen Leuten freie Hand ließ, sie ermunterte, Phantasie zu entwickeln, um das unmöglich Erscheinende doch möglich zu machen, und der sie bedingungslos deckte“ (396).

(3) Eine weitere Frage zielt darauf, ob die „Endlösung“ eher aus Siegeszuversicht oder aus einer allmählich wachsenden Angst vor einer militärischen Niederlage resultiert.

Der historisch interessierte Betrachter wird mit Beklemmung lesen, wie es allmählich zur „Endlösung“ kam. Die Euthanasieprogramme in Deutschland spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Erfahrungen, die die Nazis mit Erschießungen russischer Kriegsgefangener und Massendeportationen der slawischen Bevölkerung aus dem Osten machten. Wir erfahren, wie nach einem ursprünglichen Plan Hitlers, im Herbst 1939 ein „Judenreservat Lublin“ zu schaffen, für eine kurze Zeit die Absicht ventiliert wurde, die Juden nach Madagaskar zu deportieren. Später wurden auch die Weiten Rußlands in Betracht gezogen. Das Buch zeigt auf, was das Vorstadium der „Endlösung“ mit der Völkerverschiebung im Osten, mit der „Heim-ins-Reich-Bewegung“ für die im Ausland lebenden „Volksdeutschen“ und dem Vernichtungskrieg in Rußland zu tun hat. Vier minutiös ausgearbeitete Chronologien stellen einprägsam vor Augen, daß viele Pläne entstanden und wieder verworfen wurden, daß viele auch unvorhergesehene Erfahrungen das spätere Geschehen beeinflußten.

Das im ganzen eher nüchtern geschriebene Buch wirft auch Fragen auf, die in der Forschung weiter eine Rolle spielen werden, aber auch solche, die den historischen Bereich überschreiten. Zwei problematische Grundentscheidungen Alys seien hier nur angedeutet.

(1) Das Buch ist fast durchgängig aus der Perspektive der Täter geschrieben, während die Perspektive der Opfer weitgehend fehlt. Dadurch erhält das Buch im Blick auf sein Thema eine beklemmende Einseitigkeit, die Aly an wenigen Stellen seiner Arbeit auch sieht und kurz bedenkt (95).

(2) Das Buch analysiert und diskutiert, beschreibt und zieht Schlußfolgerungen, ohne daß das Unbegreifliche und Unfaßbare des Geschehens, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den Blick rückte und reflektiert würde.

Immerhin macht auch dieses Buch die Judenverfolgungen nicht nur zum historischen Stoff. Die „Nachsätze der Mörder“, die am Ende des Buches kommentarlos gesammelt sind, verschlagen jedem Leser die Sprache.

Werner Trutwin


Jahrgang 4/1997 Seite 44



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