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Wolfgang Wolpert

„Wisse, vor Wem Du stehst!“

Ein hundertjähriges Zeugnis des Judentums aus Ediger

Eine halbe Toranische, ein halbes östliches Rundfenster, einen Rest von dekorativer Deckenmalerei sowie Stuck und den Knauf des hängenden Leuchters: Diese Reste bewahrt der Nordteil der einstigen Edigerer Synagoge in der Rathausstraße — 58 Jahre seit ihrer Schändung am 9./10. November 1938 — als wenn auch kleines, so doch deutliches Andenken. (Ediger ist ein Ortsteil der Gemeinde Ediger-Eller an der Mosel).

In diese Reihe gehören hebräische Bücher, entdeckt auf dem Synagogenspeicher und aufbewahrt in der Arbeitsstelle für Jiddische Sprache und Literatur an der Universität Trier. Ein Gebetbuch, vom 18. Jahrhundert, und das Titelblatt eines Buches über die Feier des Pesachfestes aus dem Jahre 1836 von Tikun Schelomoh blieben im Besitz der Eigentümer des Synagogennordteils. Die südliche Hälfte des Gebetshauses mit einem zugemauerten neugotischen Westfenster wurde in den letzten Jahren leider vollständig umgebaut.

Eine mahnende Erinnerung an oben genannte Pogromnacht stellt die Eingangstür des Hauses Rathausstraße Nr. 8 dar. Sie zeigt noch heute die Spuren der Axt- oder Hammerschläge von damals.

In demselben Haus blieb an unauffälliger Stelle ein auf Pappe gemalter hebräischer Text erhalten. Es handelt sich bei dieser 64 x 48 cm großen Arbeit vom Jahre 1894 um einen sogenannten Misrach. Ein solches Bild gab beim Beten die Richtung nach Osten (hebräisch Misrach), d. h. nach Jerusalem, an. Es zeigt die Zehn Gebote auf den zwei Gesetzestafeln in der jüdischen Gestalt der Zweiteilung, flankiert von zwei Türmen mit je einem Davidsstern. Über dem Dekalog befindet sich die Inschrift: „Wisse, vor Wem du stehst! Vor dem Herrn, ich beachte den Herrn immer als vor mir stehend“ (Ps 16,8). Am unteren Rand sind die Anfangsbuchstaben folgender Lobpreisung zu lesen: „Gepriesen sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches immer und ewig.“ Dieser Vers ist Bestandteil des jüdischen Morgen- und Abendgebetes und folgt unmittelbar auf die einleitenden Worte: „Höre, Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig!“ (Dtn 6,4).

Ein Schriftband, um den gesamten Rahmen führend, beginnt in der Mitte unten rechts und hat folgenden Wortlaut: „Wer nach Gerechtigkeit strebt, findet Leben (Spr 21,21). Gerechtigkeit und Ehre.“ „Wer nach ihr greift, dem ist sie ein Lebensbaum; wer sie festhält, ist glücklich zu preisen“ (Spr 3,18). „Denn von Zion kommt die Weisung und das Wort des Herrn aus Jerusalem“ Ges 2,3b). Der Text rechts neben dem rechten Turm lautet: „Im Namen des Ewigen, des Gottes Israels, zu meiner Rechten Michael, zu meiner Linken Gabriel.“

Zeichnerische Reproduktion der inzwischen verblaßtem in Gold gehaltenen Malerei. Über den Gebetstafeln liest man in großen Buchstaben das Wort „Misrach“
(= Osten). Zeichn.: W. Wolpert

 

Links neben dem linken Turm ist zu lesen: „Vor mir Uriel, hinter mir Raphael und über meinem Haupt die Gegenwart des Ewigen.“

Besitzer des hundertjährigen Misrachs war die Familie Leopold Mayer. Der einzige Überlebende, Julius Mayer, konnte frühzeitig auswandern und fand zunächst in Südafrika, dann in den Vereinigten Staaten eine neue Heimat, wo er in den letzten Jahren verstorben ist.

Seine Geschwister Sara, Thekla, Berthold und Leo konnten Ediger nicht verlassen. Sie wurden im Jahre 1943 Opfer der Deportation und Vernichtung.

Es konnten noch nicht alle Abkürzungen bzw. Wörter des hebräischen Textes geklärt werden. Für freundliche Hinweise danke ich Pater Dr. Odo Haggenmüller OSB aus der Erzabtei St. Martin in Beuron sowie Rabbiner Hermann I. Schmelzer aus St. Gallen.


Jahrgang 4/1997 Seite 41



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