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Josef Foschepoth

Christen und Juden nach dem Holocaust

Die Rolle der Kirchen und ihr Verhältnis zu den Juden

Am 8. Mai 1945 kapitulierte die Deutsche Wehrmacht. Die Siegermächte übernahmen die Regierungsgewalt.

Die Kirchen hatten die Jahre der Diktatur weitgehend unbeschadet überstanden. Die katholische wie auch die evangelische Kirche nutzten die ihnen von den Besatzungsmächten eingeräumten Freiräume und Privilegien und verstanden sich mehr und mehr als die eigentlichen Sprecher der Nation, als die Anwälte des deutschen Volkes gegenüber den Besatzungsmächten. Sie halfen bei der Überwindung täglicher Not, engagierten sich besonders bei der Hilfe für die aus der Kriegsgefangenschaft Zurückkehrenden, die Heimkehrer, die Vertriebenen und die von der Entnazifizierung betroffenen Menschen. Auch die aus ihren Stellungen und Ämtern entlassenen Nationalsozialisten durften auf Hilfe und Zuwendung der Kirchen rechnen, materiell und ideell. „In einer Gemeinde“, hieß es in einem Bericht der amerikanischen Militärregierung, „kam fast jede zur Ermittlung ihrer Nazitätigkeit vorgeladene Person mit einem Zeugnis eines Pfarrers oder Priesters an, das ihren untadeligen christlichen Charakter bestätigte“.1

Somit verfehlte die Entnazifierung nicht nur ihr Ziel, sondern bewirkte genau das Gegenteil: die Verdrängung persönlicher und kollektiver Schuld, die massenhafte Entlastung und Rehabilitierung der Deutschen. Bei so viel Fürsorge seitens der Kirchen für die Täter kamen die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gar nicht erst in den Blick. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche 1945 wurden die Juden mit keinem Wort erwähnt. In der katholischen Kirche sah es nicht anders aus. Hier gab es nicht einmal ein Schuldbekenntnis, geschweige denn gegenüber den Juden. Im Vordergrund stand auch hier „was das eigene Volk erlitten (und geleistet) hatte, nicht das, was es nun insgesamt zu verantworten und zu verarbeiten hatte.“2

In ihrem ersten Hirtenwort vom August 1945 traten die katholischen Bischöfe mit „innigem Dank“ und „heiligem Stolz“ vor ihr Volk. Lobend hoben sie hervor, „daß immer und immer wieder Katholiken jeden Standes und Alters sich nicht gescheut haben, Volksgenossen fremden Stammes zu beschützen, zu verteidigen, ihnen christliche Liebe zu erweisen“. „Gerührt“ erinnerten die Bischöfe an jene, „die ihr karges tägliches Brot mit einem unschuldig verfolgten Nichtarier teilten und Tag für Tag gewärtig sein mußten, daß ihnen mit ihrem Schützling ein furchtbares Los bereitet werde“. Glaubenstreue und kirchlicher Gehorsam, Hilfsbereitschaft und aktiver Widerstand waren ihrer Meinung nach auf seiten der deutschen Katholiken besonders groß gewesen.3

Schuld und Versagen

Nicht erst in der Rückschau erscheinen solcherart Rechtfertigung und fehlende Selbstkritik äußerst problematisch. Kein geringerer als Konrad Adenauer schrieb am 23. Februar 1946 in einem Brief an einen katholischen Geistlichen Bemerkenswertes über die tatsächliche Haltung der Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus:

Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationslagern. Das deutsche Volle, auch Bischöfe und Klerus zum großen Teil, sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld. Im übrigen hat man aber auch gewußt — wenn man auch die Vorgänge in den Lagern nicht in ihrem ganzen Ausmaße gekannt hat, daß die persönliche Freiheit, alle Rechtsgrundsätze mit Füßen getreten wurden, daß in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden ... Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit ... Ich glaube, daß, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das keine Schande, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen und darum schweigt man am besten.“4

Einen geistigen und moralischen Neuanfang hat es in den ersten Jahren nach Ende des Krieges nicht gegeben. Wie die Umfrageergebnisse aus jener Zeit belegen, waren es allenfalls 20% der westdeutschen Bevölkerung, die einen wirklichen Neuanfang wagen und aktiv unterstützen wollten. So nimmt es nicht wunder, daß die damaligen Menschen und nicht zuletzt die Kirchen gegenüber den Gegnern und Opfern des „Dritten Reiches“ eine erschreckende Teilnahmslosigkeit an den Tag legten. Die Juden wurden in offiziellen Erklärungen der Kirchen so gut wie nicht erwähnt, es sei denn in einer Weise, die den traditionellen Antijudaismus und Antisemitismus erneut bestätigte. Am 8. April 1948 verabschiedete der Bruderrat der evangelischen Kirche in Deutschland das Darmstädter „Wort zur Judenfrage“. Einleitend sprach es von dem, „was wir an den Juden verschuldet haben“. Im theologischen Hauptteil wurde dann jedoch in sechs Punkten die traditionelle Theologie der Verwerfung Israels, das „den Messias kreuzigte“, und des Übergangs der Erwählung auf die Kirche entfaltet. Schließlich hieß es, daß „Israel unter dem Gericht“ eine „stete Warnung Gottes an seine Gemeinde“ sei und ein Zeichen dafür, „daß Gott nicht mit sich spotten“5 lasse.

Die Lage der Juden und das mangelnde Schuldbewußtsein der Deutschen

Zu den wenigen, die den 8. Mai 1945 nicht als einen Tag der Niederlage, sondern der Befreiung erlebten, zählten die Juden, die deutschen Juden, die aufgrund glücklicher Umstände überlebten; die ausländischen Juden, die als sogenannte Displaced Persons zu der großen Gruppe der Verschleppten gehörten, die sich bei Ende des Krieges im Gebiet des Deutschen Reiches aufhielten oder auch dorthin flüchteten, um unter dem Schutz der Siegermächte so schnell wie möglich nach Palästina oder in ein drittes Land auswandern zu können; die emigrierten Juden, die aus persönlichen oder beruflichen Gründen oder auch aus Heimweh nach Deutschland zurückkehren wollten. Während die bis zum Jahre 1950 zeitweilig auf über 200 000 Personen ansteigende Gruppe jüdischer DPs den Kontakt mit ihrer deutschen Umwelt möglichst vermied, suchte ein Teil der im Land verbliebenen bzw. nach Deutschland zurückgekehrten Juden bald wieder den Kontakt zu ihrer deutschen Umgebung.

Die Displaced Persons waren zumeist osteuropäischer Herkunft. In ihrem Habitus und ihrer Kleidung, in ihrer Denk- und Lebensweise, in ihrer religiösen und kulturellen Sozialisation unterschieden sie sich deutlich von den Juden deutscher Herkunft. In den sich neu konstituierenden jüdischen Gemeinden lag der Anteil der ausländischen Juden beispielsweise in Hessen bei 73,8%, in Württemberg bei 81,6 und in Bayern gar bei 93,7%. Die meisten jüdischen DPs lebten jedoch in Lagern, die der direkten Verwaltung und Kontrolle der Besatzungsmächte unterstellt waren. Hier entwickelten sie ein eigenständiges kulturelles und soziales Leben.6

Die Zahl der Juden, die nach 1945 ein neues Leben in Deutschland beginnen wollten, war relativ klein. Sie zählten zu der Gruppe der, wie sie selbst von sich sagten, „deutsch fühlenden Juden“. Sie waren bereit, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Um so größer war die Enttäuschung, als sie schon kurze Zeit nach Ende des Krieges feststellen mußten, „daß Deutschland nichts hinzugelernt und nichts vergessen hat“.7

Das Gefühl von Fremdheit und Verlassenheit, das die Juden in ihrer deutschen Umgebung empfanden, wurde durch das Unverständnis verstärkt, das die Judenheit außerhalb Deutschlands denjenigen Juden entgegenbrachte, die in Deutschland eine neue Existenz aufbauen wollten. Alfred Mayer, erster jüdischer Vorsitzender des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, hat dieses Dilemma mit folgenden Worten beschrieben: „Für den Staat Israel sind wir allerdings kein Problem. Er hat uns abgeschrieben ...“8

Bundeskanzler Adenauer hatte hingegen in seiner ersten Regierungserklärung vom 20. September 1949 nur „ein Wort zu hier und da anscheinend hervorgetretenen antisemitischen Bestrebungen“ zu sagen. „Wir verurteilen diese Bestrebungen auf das schärfste. Wir halten es für unwürdig und für an sich unglaublich, daß nach all dem, was sich in nationalsozialistischer Zeit begeben hat, in Deutschland noch Leute sein sollten, die Juden deswegen verfolgen und verachten, weil sie Juden sind.“9

Vor der Wiedergutmachung an den Opfern war die Wiedergutmachung für Angehörige des Öffentlichen Dienstes, SS-Angehörige, Soldaten, Verwaltungsbeamte, Lehrer usw. geregelt worden. Artikel 131 GG stellte eine Fürsorgeregelung für die NS-Beamtenschaft in Aussicht, Verfolgte und Opfer des Naziregimes wurden in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, geschweige denn ihr Anspruch auf Wiedergutmachung als Verfassungsauftrag definiert.

Es wundert kaum noch, daß in Umfragen während des ersten Nachkriegsjahrzehnts bis zu 55 % der Befragten den Nationalsozialismus weiterhin für eine gute Sache hielten. Was die Schuldfrage der Deutschen betrifft, äußerten in einer Umfrage aus dem Jahre 1951 nur 4% der Befragten die Meinung, daß jeder Deutsche „eine gewisse Schuld für das, was während des ,Dritten Reichs‘ durch Deutschland geschehen ist“, trage. Immerhin waren 20 % bereit, eine Mitverantwortung der Deutschen zu akzeptieren.10

Die Gründung der Gesellschaften für Christlich Jüdische Zusammenarbeit

Die ersten Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die 1948/49 in München, Wiesbaden, Stuttgart, Frankfurt und Berlin gegründet wurden, sind keineswegs aus deutschem Antrieb entstanden.11 Im Gegenteil: der Impuls kam von der amerikanischen Besatzungsmacht, die ihre Hoffnung auf eine langfristige Umerziehung der Deutschen zu westlich gesinnten, am amerikanischen Vorbild orientierten Demokraten setzte.

Im August 1947 wurde zwischen dem amerikanischen Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D. Clay, und Vertretern der National Conference of Christians and Jews (NCCJ) die Gründung deutscher Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit vereinbart. Die Besatzungsmacht sagte logistische Unterstützung zu und sicherte später die Finanzierung der ersten Gesellschaften. Die NCCJ entsandte und finanzierte den amerikanischen Verbindungsmann in Deutschland, Carl F. Zietlow, methodistischer Pfarrer aus Minnesota und langjähriger Mitarbeiter des NCCJ, der im März 1948 nach Deutschland kam.

Zietlow forderte die neu gegründeten Gesellschaften immer wieder auf, den Blick nicht zurück, sondern nach vorn zu lenken, sich nicht nur auf die „Judenfrage“ und die Bekämpfung des Antisemitismus zu beschränken, sondern Vorurteile insgesamt zu bekämpfen. Die spezifisch deutsche Situation kam kaum in den Blick. Die Ermordung von sechs Millionen Juden wurde in der ersten Satzung des Deutschen Koordinierungsrats nicht einmal erwähnt. Viele, die als Gründungsmitglieder gewonnen werden sollten, reagierten verständnislos oder mit traditionellen Vorbehalten. Eine Zusammenarbeit zwischen Protestanten und Katholiken entsprach dem Geist und den Erfordernissen der Zeit. Zusammenarbeit zwischen Christen und Juden — warum?

Die Juden, die in den Gesellschaften mitmachten, definierten sich vor allem als deutsche Juden. Deutschland war ihre Heimat und sollte es bleiben. Sie streckten die Hand zur Versöhnung aus, vertrauten auf die Solidargemeinschaft der guten Deutschen und hofften auf moralische, wirtschaftliche und politische Wiedergutmachung und Rehabilitierung. Sie dachten ähnlich wie die nichtjüdischen Deutschen, sprachen auch von der gemeinsamen Opferrolle von Juden und Christen während des „Dritten Reichs“, wandten sich gegen Kollektivschuld und schematische Entnazifizierung und warnten davor, antisemitische Äußerungen und Ausschreitungen zu überschätzen.

Generell, sowohl auf jüdischer, als auch auf nichtjüdischer Seite, läßt sich in den Anfangsjahren der Gesellschaften eine große Scheu beobachten, die sogenannte „Judenfrage“, das Wiederaufleben des Antisemitismus und die massive Verdrängung der eigenen Vergangenheit öffentlich zu thematisieren. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. Als der amerikanische Hohe Kommissar in Deutschland, John McCloy, am 31. Juli 1949 vor Vertretern der jüdischen Gemeinden in Heidelberg darauf hinwies, daß es in Deutschland nach wie vor einen starken Antisemitismus gebe und das Verhalten der Deutschen gegenüber den Juden in ihrer Mitte „Prüfstein ihrer Gesittung und ihres echten demokratischen Aufbauwillens“ sei, fühlte sich ausgerechnet eine Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit berufen, gegen eine derartige „ungeheuerliche Übertreibung“ zu protestieren. In einem Schreiben des Vorstands der Münchener Gesellschaft hieß es, das geknechtete deutsche Volk habe sich schon zu Hitlers Zeiten von der Politik der Judenverfolgung distanziert. Nach dem Ende der Diktatur sei die Zahl der gerecht denkenden Menschen noch erheblich angestiegen. „Daß es unter 60 Millionen guten Deutschen auch einige wenige 10 000 schlechte Deutsche gibt, die weiterhin zu dem gottlosen und unmenschlichen Antisemitismus stehen, kann niemanden überraschen, der etwas von Volkspsychologie versteht.“12

Natürlich gab es auch andere, die heftig gegen den alten und neuen Nazismus und Antisemitismus protestierten. Zu ihnen zählten Professor Dr. Franz Böhm, Rektor der Universität Frankfurt und dessen Mitstreiter in der Frankfurter Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. In einer scharfen Replik auf den Münchener Brief betonte er, daß man sich nicht zusammengeschlossen habe, um der Welt zu beweisen, daß es auch gute Deutsche gebe, sondern „um dem Antisemitismus und dem inhumanen Vorurteil eine entschlossene, aktive, einflußreiche und in den Gang der Dinge wirksam eingreifende Gegenbewegung entgegenzustellen“.13

Die Aktivitäten der Frankfurter Gesellschaft, der später so prominente Persönlichkeiten wie Eugen Kogon, Walter Dirks, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Dolf Sternberger angehörten, stießen allerdings nicht einmal bei Juden auf ungeteilte Zustimmung. Ihr Interesse richtete sich in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auf eine möglichst rasche und geräuschlose Reintegration in die deutsche Gesellschaft. Der hessische Landesrabbiner Dr. Weinberg lehnte es z. B. ab, christlich-jüdische Stellungnahmen zum Antisemitismus in Deutschland zu unterzeichnen, „um nicht den Anschein zu erwecken, als seien die christlichen Herren nur vorgeschoben“. Um die Juden nicht allzusehr ins Rampenlicht der Öffentlichkeit treten zu lassen, riet der jüdische Vorsitzende der Berliner Gesellschaft davon ab, „für den Geschäftsführerposten die Wahl eines Juden ins Auge zu fassen“. Als man in Stuttgart anläßlich eines Pressetermins feststellte, daß zufällig drei Juden, ein Katholik und ein Protestant aus dem Vorstand anwesend waren, wollte man sich in dieser Konstellation nicht fotografieren lassen, „um in der Öffentlichkeit nicht den Eindruck entstehen zu lassen, als würden die Juden schon wieder dominieren“.14

Die Juden, die in den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mitmachten, suchten vor allem ihre Identität als Deutsche wiederzugewinnen. Als solche wollten sie mit den anderen gutmeinenden Deutschen, Katholiken und Protestanten, zusammenarbeiten. Aus der gemeinsam erlittenen Verfolgung sollte eine neue Gemeinschaft von Juden und Christen entstehen, deren gemeinsame Aufgabe es war, tatkräftig am Wiederaufbau des Landes mitzuwirken. Hier hatte christlich-jüdische Zusammenarbeit ihren Platz und ihre eigentliche Funktion.

Die Rolle der Juden bei der Staatswerdung der Bundesrepublik Deutschland

Die Jahre 1952/53 leiteten in den jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen der Nachkriegszeit eine entscheidende Wende ein. Mit Unterstützung der Sozialdemokraten und gegen heftige Widerstände aus den eigenen Reihen setzte Bundeskanzler Adenauer einen Wiedergutmachungsvertrag durch, der Israel drei Milliarden DM und der die jüdischen Opfer außerhalb Israels vertretenden Claims Conference 450 Millionen DM an materieller Wiedergutmachung zusagte. Adenauer, der sich bis dahin in Fragen der Wiedergutmachung nicht sonderlich hervorgetan hatte, ergriff die Initiative, um den Prozeß der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität durch Anerkennung der deutschen Verpflichtung zur Wiedergutmachung moralisch abzusichern. Man müsse alles tun, was man könne, meinte der Kanzler, „damit wir nicht nur wegen Israel, sondern in den Augen der ganzen Welt irgendeinen Fakt getan haben, der zeigt, daß wir bedauern, daß von deutscher Seite diese Dinge an den Juden begangen worden sind“. Neben das politische Kalkül trat der wirtschaftliche Vorteil: „Wenn es uns gelingt“, so Adenauer, „die Judenfrage aus der Welt zu schaffen, wird das auch unserem wirtschaftlichen Leben insgesamt zum großen Vorteil reichen, selbst wenn dabei einige Prozente einen falschen Weg nehmen, so ist bei diesen Waren der Nutzen, abgesehen von der moralischen Seite, größer als der Schaden.“15

Die Wiedererrichtung und Förderung jüdischer Gemeinden einschließlich der wohlwollenden Unterstützung der organisierten Form christlich-jüdischer Zusammenarbeit lag von jetzt an im politischen Interesse. Der Deutsche Koordinierungsrat und die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wurden in die öffentliche Förderung des Bundes und der Länder aufgenommen, nachdem die Amerikaner 1952/53 die Finanzierung eingestellt hatten. Erst jetzt entwickelten sich die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zu Vereinen zur Förderung und Pflege des Judentums und der christlich-jüdischen Beziehungen — eine Zielsetzung, in der die ursprünglichen Intentionen der Amerikaner kaum noch wiederzuerkennen waren. Liebevolle Zuwendung zu den „jüdischen Mitmenschen“, Überwindung ihrer Isolierung, Parteinahme für die jüdische Sache, Aufarbeitung des geschehenen Unrechts, Wiederherstellung der Größe und Ehrwürdigkeit des jüdischen Namens — das waren einem Faltblatt des Deutschen Koordinierungsrates aus dem Jahre 1955 zufolge die wichtigsten Aufgaben christlich-jüdischer Zusammenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland.16

In dem neuen Staat Bundesrepublik Deutschland wuchs den Juden eine Rolle zu. Aus ungeliebten und gehaßten Juden wurden öffentlich geförderte und geschätzte Juden. Ihre Aufgabe war es nun, als Kritiker und Mahner den Weg der Deutschen zu sich selbst zu begleiten und zu sichern. Die Anwesenheit und Rückkehr von Juden wurde zum Zeichen der Rückkehr zur Normalität. Juden und nichtjüdische Deutsche brauchten einander, die einen, um zu rechtfertigen, warum sie in Deutschland blieben bzw. hierher kamen, die anderen, um der Welt zu zeigen, daß sie aus der Geschichte gelernt hatten und ein neues antiantisemitisches Deutschland aufbauten.

  1. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955. Göttingen 1986, 90.
  2. Ute Schmidt, „Umkehr zu Gott“. Katholische Kirche und Entnazifizierung, in: Hajo Funke (Hg.), Von der Gnade der geschenkten Nation. Berlin 1988, 132-147, hier 140.
  3. Rolf Rendtorff/Hans Hermann Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985. Paderborn/München 1988, 233-239.
  4. Adenauer, Teegespräche 1950-1954, bearbeitet von Hans Jürgen Küsters. Berlin 1984, 84 f. BA, DKR, B 259/301.
  5. Hans Peter Mensing (Bearb.), Adenauer. Briefe 1945-1947. Berlin 1983, 172 f. Rendtorff/Henrix, 540-544.
  6. Vgl. Wolfgang Jacobmeyer, Die Lager der jüdischen Displaced Persons in den deutschen Westzonen 1946/47 als Ort jüdischer Selbstvergewisserung, in: Micha Brumlik u. a. (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945. Frankfurt/M. 1988, 31-48.
  7. Harry Maòr, Über den Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945. Mainz 1960, 13.
  8. BA, DKR (= Bundesarchiv Koblenz, Akten des Deutschen Koordinierungsrats) B 259/67.
  9. Hans-Peter Schwarz (Hg.), Konrad Adenauer, Reden 1917-1967. Eine Auswahl. Stuttgart 1975, 163 f.
  10. Vgl. Peter Reichel, Vergangenheitsbewältigung als Problem unserer politischen Kultur. Einstellungen zum Dritten Reich und seinen Folgen, in: Jürgen Weber, Peter Steinbach (Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland. München 1984, 145-163, hier 157.
  11. Vgl. hierzu und zum folgenden die entsprechenden Kapitel in meinem Buch „Im Schatten der Vergangenheit“. Die Anfänge der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Göttingen 1993.
  12. Foschepoth, 82 f.
  13. Foschepoth, 103 f.
  14. BA, DKR, B 259/77.
  15. Adenauer, Teegespräche 1950-1954, bearbeitet von Han-Jürgen Küsters, Berlin 1984, 84f.
  16. BA, DKR, B 259/301.

Jahrgang 4/1997 Seite 32



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