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Gerechte unter den Völkern

Pater Dr. Heinrich Middendorf

Bernd Bothe

Stegen

Im Schwarzwald, in der Nähe von Freiburg, liegt der Ort Stegen. 1929 wurden Mitglieder der Ordensgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester von Freiburg hierher geholt, um das leerstehende Schloß und die Wirtschaftsgebäude des alten Gutshofes einer neuen Verwendung zuzuführen. Zunächst diente es dem Freiburger Studienhaus der Herz-Jesu-Priester als Erholungsheim, in den dreißiger Jahren wurde eine Spätberufenenschule eingerichtet, die aber bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 aufgelöst werden mußte.1 Wie viele schulische Einrichtungen missionierender Orden damals wurde die Einrichtung „Missionshaus“ genannt, „Missionshaus Stegen“.

Es war den Herz-Jesu-Priestern bekannt, daß gegen Ende des Krieges auf dem Gelände des Missionshauses Stegen eine Jüdin versteckt worden war und mit ihrem Sohn die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus überlebte. Lotte Paepcke hatte in ihrem Buch „Unter einem fremden Stern“2 ihr Schicksal und das ihres Sohnes Peter sowie ihren Aufenthalt in Stegen beschrieben.

P. Dr. Heinrich Middendorf war von 1938-46 Rektor der klösterlichen Gemeinschaft der Herz-Jesu-Priester im Missionshaus Stegen. Er kümmerte sich während des Krieges zusammen mit seinen Mitbrüdern um viele Menschen, die in Not waren, nahm alle auf, die an die Klosterpforte klopften, auch Menschen jüdischer Abstammung, und sorgte für sie.

Bewohner des Missionshauses

Während der letzten Kriegsjahre von 1942-45 lebten auf dem Klostergelände höchst unterschiedliche Gruppen von Menschen. Allein die Ordensleute setzten sich aus drei verschiedenen Gemeinschaften zusammen. Die Hausgemeinschaft der Herz-Jesu-Priester zählte etwa acht Patres und 12 Brüder.

Eine andere Gruppe bildete die Schwesterngemeinschaft der drei Dominikanerinnen mit ihrer Oberin Sr. Petra, die für Küche und Wäscherei und das leibliche Wohl der Bewohner sorgten.

Eine weitere Gemeinschaft waren die acht Ordensfrauen der „Barmherzigen Schwestern“ (Vinzentinerinnen) mit ihrer Oberin Sr. Emma. Seit 1942 lebten im Missionshaus Stegen mehrere Familien und Einzelpersonen, die der Krieg dorthin verschlagen hatte. So fand 1942-45 die Familie Coenenberg aus Düsseldorf (Mutter und acht Kinder) sowie die Familie Rettig (Mutter und zwei Töchter) Unterkunft.

Die immer bedrohlicher werdende Kriegssituation führte dazu, daß die Kinder der Großstädte aufs Land evakuiert wurden. Davon wurde auch das Kloster der Herz-Jesu-Priester betroffen: Vom 11. Juli 1943 an wurde nach und nach ein ganzes „Hagener Katholisches Waisenhaus“ mit rund 75 Waisenkindern aus Eilpe, einem südlichen Vorort von Hagen in Westfalen, nach Stegen verlegt. Außer den Waisenkindern wurden im Laufe des zweiten Halbjahres 1944 weitere 19 Kinder aus Privatfamilien von ihren Eltern aus Hagen nach Stegen in Sicherheit gebracht und dem Eilper Kinderheim angeschlossen. Diese Kinder wurden von den Vinzentinerinnen sowie weiteren Begleitpersonen betreut, unter denen auch Friedrich Abel war, der als überzeugter Nationalsozialist eigens als Lehrer der Waisenkinder und zur Kontrolle des Klosters nach Stegen beordert wurde.

Am 27. November 1944 wurde Freiburg bombardiert und die Innenstadt zum großen Teil zerstört. Ein Strom von Flüchtlingen ergoß sich ins Dreisamtal und erreichte auch das Missionshaus Stegen, das zu den rund 150 Bewohnern kurzfristig etwa weitere 200 Personen aufnahm. Der größere Teil von ihnen verließ in der folgenden Zeit das Kloster wieder. Lotte Paepcke schildert anschaulich jene unterschiedlichen Menschen. „Zurück blieb noch ein Kreis von Personen, die aus irgendwelchen Gründen nicht weitergeschickt werden konnten, und neben einem evakuierten Waisenhaus, das mit seinen vielen Betten das Kloster fast schon ganz füllte, wurde nun noch eine Schar von Flüchtlingen auf Dauer untergebracht. Die Klausur wurde aufgehoben. Männer, Frauen, Ehepaare wurden zwischen den Kammern der Brüder und Patres installiert. Die Aufgenommenen wurden in keiner Weise nach der Gesinnung ausgewählt, sondern nur nach der augenblicklichen Not, in der sie sich befanden. Es waren Katholiken, Protestanten, Juden, Nazigegner und Nazifreunde darunter. Es waren französische Kollaborateure und italienische Antifaschisten. Die einen fürchteten die Gegenwart, die anderen die Zukunft. Und alle fürchteten sich voreinander. So mußten alle Einzelheiten über meine Person streng geheim bleiben vor dem Lehrer des Waisenhauses, der ein aktiver Nationalsozialist war und enge Beziehungen hatte zu den Amtsträgern des Dorfes. So fürchtete sich der Antifaschist vor dem Kollaborateur, der wiederum aber schon in Angst lebte vor einer künftigen Übernahme der Macht durch die Gegner des Nationalsozialismus“.3

Menschen, die Hilfe erfahren haben

Lotte und Peter Paepcke4

Lotte Mayer, Tochter des Stadtverordneten Max Mayer und seiner Frau Olga geb. Nörtlinger,5 wurde 1910 in Freiburg geboren. Sie wuchs zusammen mit ihrem Bruder Hans in dem geräumigen Haus ihrer Eltern, die eine Lederhandlung betrieben, in der Schusterstraße 23 auf. In Freiburg besuchte sie das Goethegymnasium, wo sie schon vor 1929, dem Jahr ihres Abiturs, unter Schülern antisemitische Äußerungen hörte. Deshalb wurden die jüdischen Kinder immer wieder von ihren Eltern ermahnt, besonders brav zu sein, nicht aufzufallen und keinen Unwillen zu erregen. Der ihr wohlgesonnene Direktor ließ sie die Abiturrede halten zum Thema: Nathan der Weise. Das war nicht selbstverständlich. Nach dem Abitur studierte sie Jura und konnte das Studium 1933 abschließen, erhielt aber keine Anstellung mehr. Sie arbeitete kurze Zeit in einer Anwaltspraxis in Rom, kehrte dann aber nach Deutschland zurück, um ihren Freund, den aus Mecklenburg stammenden Protestanten Dr. Ernst August Paepcke zu heiraten. Ihr Mann, der Literaturhistoriker war und auf eine Universitätslaufbahn hoffte, arbeitete statt dessen bis 1945 in der pharmazeutischen Industrie. Den Eheleuten wurde bald ein Sohn Peter geboren. Damit galten sie als privilegierte Mischehe, die zunächst vor einer Deportation schützte.

Als schließlich ab 1942 nach der Wannseekonferenz auch die privilegierten Mischehen keinen Schutz mehr boten, beschloß Lotte Paepcke unterzutauchen. Es gelang ihr, in ihre Geburtsstadt Freiburg zu fliehen, wo sie in unterschiedlichen Wohnungen unterkam und auch ihren schon dort lebenden Sohn wieder zu sich nehmen konnte. Als sie erkrankte, wurde sie mit Hilfe von Frau Grete Borgmann und durch Vermittlung des Kamillianerpaters Reinhard im Vinzentiuskrankenhaus untergebracht. All das geschah illegal, weil sie keine Papiere hatte. Doch am 27. November 1944 wurde bei dem Bombenangriff auf Freiburg auch das Krankenhaus zerstört. Lotte Paepcke konnte durch ein Kellerfenster entkommen und verbrachte die Nacht im Colombi-Park. Wieder tauchte sie, geschwächt von den Schrecken des Erlebten und nur mit Mühe sich aufrecht haltend, bei einer Freundin unter. Schon trug sie sich mit dem Gedanken, sich dem Blockleiter, der die durcheinandergewirbelten Menschen von neuem registrierte, als Jüdin zu erkennen zu geben, was für sie das Ende bedeutet hätte.

Da kam durch Vermittlung von Grete Borgmann, die sich nach der Bombardierung Freiburgs schon mit ihren Kindern nach Stegen geflüchtet hatte, P. Middendorf zu ihr und lud sie ein, nach Stegen zu kommen und auch ihren Sohn Peter mitzubringen. Er ließ sie, die in ihrer Mutlosigkeit zu allem ja sagte, mit dem Wagen abholen. Damit gehörte sie mit zu jener bunten Menschenmenge auf dem Klostergelände.6 Um sie vor den Nationalsozialisten auf dem Gelände wie z. B. Lehrer Abel zu tarnen, arbeitete sie mit Bruder Innozenz in der Gärtnerei und gehörte damit scheinbar Personal. Ihr Sohn Peter wurde zu den Kindern des Waisenhauses gebracht und diente den Patres als Ministrant, um ihn katholisch erscheinen zu lassen. Schließlich kam im April mit dem Einzug der französischen Besatzungstruppen die Rettung. Sie hatten überlebt.

Irmgard und Ursula Giessler7

Irmgard Giessler war die jüdische Frau des katholischen Publizisten Rupert Giessler, der bis 1939 Redakteur der „Freiburger Tagespost“, einer katholischen Zeitung, war. Sie war als Tochter jüdischer Eltern, des Holzgroßhändlers Karl Freitag und seiner Frau Mathilde geb. Wertheim, 1896 in Bad Kissingen geboren. Im Alter von zwei Jahren verlor sie ihre beiden Eltern und kam zu einem Onkel nach Freiburg und wuchs dort auf. Sie lernte Rupert Giessler kennen und heiratete 1928. Kurz vor ihrer Hochzeit trat sie zum katholischen Glauben über. 1939 erhielt Rupert Giessler Berufsverbot, weil er eine jüdische Frau hatte, derentwegen er wehrunwürdig war. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch die Zeitung verboten. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit ermöglichte es ihm der Verleger des Colmarer Alsatia Verlages, Joseph Rossé, illegal bei ihm zu arbeiten, nach außen als Sekretär deklariert, in Wirklichkeit als Cheflektor. Wenn die Gestapo Rupert Giessler suchte, schickte Rossé ihn auf Reisen und stand bei der Rückkehr auf dem Bahnhof, um ihn, wenn Gefahr bestand, weiterzuschicken. Rossé hat sich für viele gefährdete Menschen eingesetzt. Er wurde nach dem Krieg von den Franzosen der Kollaboration angeklagt und ins Gefängnis geworfen, wo er trotz internationaler Appelle buchstäblich verhungerte.

Irmgard Giessler und ihre Tochter Ursula fanden schon um die Mitte des Jahres 1944 in Stegen Aufnahme. Ursula Giessler, 1936 geboren, wurde im Hochsommer 1944 von Grete Borgmann mit dem Fahrrad nach Stegen gebracht, nachdem sie in Freiburg nicht mehr sicher war. Ursula wurde von P. Middendorf im Kinderheim untergebracht. Bald kam auch die Mutter nach. Sie wohnte zunächst mit Gerhard Zacharias einige Wochen beim Nazi-Bürgermeister in Stegen zur Miete, bis beide im Kloster Unterschlupf fanden. Wie Lotte Paepcke als Gärtnerin, so arbeitete Irmgard Giessler im Büro, um als Angestellte des Hauses zu gelten.

Rupert Giessler besuchte Frau und Tochter oft in Stegen. Er war auch dort, als am 27. November 1944 Freiburg bombardiert wurde. Fast wäre er mit dem Fahrrad in diesen Angriff hineingefahren, wenn er nicht noch die Andacht der Klostergemeinschaft in der Kapelle hätte abwarten wollen, um sich zu verabschieden. Er war auch in Stegen, als 1945 die Franzosen kamen, und war der Dolmetscher für das Kloster.

Nach dem Krieg war Rupert Giessler Mitbegründer und erster Chefredakteur der „Freiburger Nachrichten“, der heutigen „Badischen Zeitung“ und gehörte zu den Herausgebern des Freiburger Rundbriefs. Er arbeitete bis 1963 bei der Zeitung, 1980 starb er. Irmgard Giessler starb 1958. Ursula Giessler lebt heute als Journalistin im Saarland.

Gerhard Zacharias8

Als Sohn von Ludwig Zacharias und seiner Frau Helene geb. Heymann wurde Gerhard Zacharias 1923 in Braunschweig geboren. Die Familie war mütterlicherseits jüdisch. Helene Heymann war die Tochter des Geheimen Justizrates Viktor Heymann und seiner Ehefrau N. geborene Jonas. Beide Großeltern waren Juden. Viktor Heymann war und blieb auch Jude, ließ aber seine Kinder in der evangelischen Kirche taufen. Durch die Heirat mit dem Katholiken Ludwig Zacharias, der aus Regensburg stammte, ging Helene Heymann eine Ehe ein, die nach der Geburt von drei Kindern als privilegierte Ehe galt. Dadurch war der jüdische Partner zunächst geschützt. Als dieser Schutz nach der Wannseekonferenz 1942 aufgehoben wurde, war Helene Zacharias in Gefahr, deportiert zu werden, kam aber bei einem Bombenangriff ums Leben. Eine Schwester der Mutter wurde von der Gestapo abgeholt, während Gerhard Zacharias direkt neben ihr stand, eine weitere Schwester beging Selbstmord, um der Deportation zu entgehen. „Makaber, wenn man sagt, daß sie Glück hatte und durch Bomben umkam, bevor sie deportiert wurde“, bemerkt Dr. Gerhard Zacharias zum Tod seiner Mutter.

Während die beiden Schwestern auf dem Land in der Nähe von Braunschweig bei Bauern versteckt waren, machte Gerhard Zacharias 1942 in Braunschweig das Abitur und studierte zunächst in Paderborn Theologie, das einzige Studium, das ihm erlaubt war. Als ihm auch das verboten wurde, verließ er Paderborn. Ein Brief wurde ihm wenige Tage später nachgesandt, in dem man ihm mitteilte: „Soeben kamen zwei Polizisten und wollten Sie abholen.“ Da tauchte er unter. Er gelangte in den Schwarzwald und schließlich nach Stegen. Da er mit der Familie Giessler befreundet war, lebte er einige Monate mit Irmgard Giessler getarnt bei der Frau des nationalsozialistischen Bürgermeisters von Stegen, der Soldat im Krieg war, zur Miete. Als aber die Kontrollen der Polizei häufiger und gefährlicher wurden, wurde er etwa in der ersten Hälfte des Jahres 1944 von P. Middendorf im Haus der Herz-Jesu-Priester aufgenommen. Wer von den Bewohnern jüdischer Herkunft war, wußte er nicht. Aber: „Es war gut, wenn die Menschen übereinander möglichst wenig wußten und so alles ein wenig im Verborgenen blieb“, sagt er heute.

Nach dem Krieg studierte er in Göttingen und Freiburg Philosophie und promovierte. Er wandte sich von der katholischen der griechisch-orthodoxen Kirche zu. In Zürich lernte er den Psychologen C. G. Jung kennen und wurde Psychotherapeut. Zeitweise war er auch unter Carl Friedrich von Weizsäcker am Max-Planck-Institut in Starnberg bei München in der Friedensforschung tätig. Heute praktiziert Dr. Gerhard Zacharias als Psychotherapeut.

Zacharias ist ein sehr vielseitiger Mann, dessen Interesse nicht nur der Psychoanalyse, Philosophie und Theologie gilt, sondern von jeher auch dem Tanz. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht.

Dieter Bachenheimer

Dieter Bachenheimer hat 1992 über sein Schicksal und das seiner Schwester einen längeren Bericht geschrieben, „Erlebnisse im 1000jährigen Reich 1938-1945 in Hagen-Eilpe, Stegen/Freiburg und Wetter“,9 aus dem inhaltlich oder wörtlich folgendes wiedergegeben wird:

— Max Bachenheimer war Jude, aber 1938 zur katholischen Kirche übergetreten, nachdem er seine Frau Hildegard geb. Seckler aus streng katholischem Haus kennengelernt und geheiratet hatte. Dem Ehepaar wurden zwei Kinder geboren, Dieter und Eva Bachenheimer. Die Familie wohnte in Husten im Sauerland. Nach dem 9. November 1938 (Reichspogromnacht) wurde die Familie dort angefeindet. Max Bachenheimer war kurze Zeit im KZ Sachsenhausen (Oranienburg bei Berlin), kam nach Weihnachten 1938 frei und verließ Deutschland am Silvestertag 1938 in Richtung Niederlande, um dort die Auswanderung seiner Familie nach Brasilien zu betreiben. Hildegard Bachenheimer zog mit ihren Kindern Anfang 1939 nach Hagen und brachte sie im Waisenhaus, Hohe Straße 19a, unter. 1943 führte dann, wie oben berichtet, die beginnende Bombardierung der Städte zur Evakuierung des Waisenhauses von Hagen nach Stegen.

— Die Berufswahl: Dieter Bachenheimer hatte 1944 seine Schulzeit beendet und konnte Stegen verlassen, um sich einer Berufsausbildung zuzuwenden. Darüber berichtet er: „Alle hatten schon eine Lehrstelle, nur ich nicht. Ich war dann der letzte, der nach Freiburg zum Arbeitsamt mußte. Dort waren dann auch zwei unangenehme Herren von der Gestapo. Diese wollten von mir wissen, was ich werden wollte und wo mein Vater sei. Ich glaube, daß ich damals den Wunsch äußerte, Ingenieur, Feinmechaniker oder Radioelektriker zu werden (wegen der noch immer geplanten und erhofften Auswanderung). Gefunden und befohlen wurde mir dann der Beruf des Betriebs-Elektrikers in der Schwerindustrie (Großkranbau und Panzerherstellung) auf der DEMAG in Wetter-Ruhr. Den Aufenthaltsort unseres Vaters hatte ich den Gestapoleuten (wenn auch heulend) nicht verraten.“

— Zum Tod der Mutter berichtet Dieter Bachenheimer: „Bei dem großen Angriff am 6. Oktober 1944 auf Dortmund gab es große Verluste. Mutter kam nicht heim; zehn Tage lang wurden sämtliche Krankenhäuser abgesucht, auch die Friedhöfe. Großmutter fand und identifizierte dann unsere Mutter auf dem Zentralfriedhof. Mutter war tot. Sie war im höchsten Haus in Dortmund mit über 600 Leidensgenossen durch eine Bombe zu Tode gekommen. Mutter fehlten sämtliche Wertsachen, 400 Reichsmark, nur die Ringe (Ehering und Aquamarin-Ring) hatte sie noch. Mutter liegt auf dem Ehrenfriedhof auf dem Dortmunder Zentralfriedhof.“

— P. Middendorfs Fürsorge belegt folgende Notiz: „Es muß im November 1944 gewesen sein; in der Lehrwerkstatt der DEMAG ging der Lautsprecher, die Durchsage kam: ,Bachenheimer zum Pförtner kommen‘. Ich dachte: Jetzt wirst du auch abgeholt. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich endlich beim Pförtner war; dort stand Manfred Matuschewski aus Wattenscheid-Eppendorf und lud mich dringend zum Wochenende nach Eppendorf ein. Ein Brief von Pater Rektor Middendorf sei da, den man mit mir besprechen wolle. Ich fuhr hin. Man zeigte mir den Brief, in dem sinngemäß folgendes stand: An Frau Matuschewski (Mutter von Manfred und Witwe). Ich sei Halbjude, sehr gefährdet (KZ oder ähnliches), anbei 200,- Reichsmark und Lebensmittelkarten. Wenn ich irgendeine leise Gefahr auf mich zukommen sähe oder Matuschewskis, dann sollten wir beide, Manfred und ich, uns in den nächsten Zug setzen, möglichst viel umsteigen und nach Stegen kommen. Pater Rektor Middendorf wollte mich dann verstecken, notfalls in der Schweiz. Ich war gerührt, auch über Matuschewskis und vor allem über deren Mut. Es war damals nicht ungefährlich, mit Juden, wenn ich auch nur ein halber war, Umgang zu pflegen . . . Ich hatte Glück und wieder mal einen Schutzengel und habe die Fürsorge des Pater Rektor nicht in Anspruch nehmen müssen.“

Dieter Bachenheimer wurde zweimal von der Gestapo vorgeladen. Aber jeweils vor seiner Ankunft wurden die Gebäude der Gestapo bei Fliegerangriffen zerstört. „Das muß doch mein Schutzengel gewesen sein“, bekennt er immer wieder. Über die Rückkehr des Vaters schreibt er: „Und dann kam Vater wieder, der längst totgeglaubte! Es war sonntags im Sommer 1945. Ich lag noch im Bett, auf dem Bettrand saß mein Vater, der mich weckte, Tränen in den Augen, da er soeben erfahren hatte, daß Mutter tot war. Die Geschenke für Mutter, ein ganzer Koffer voll — es wurde ein trauriger Sonntag.“

Eva Bachenheimer10

Während ihr Bruder Dieter Stegen nach der Schulzeit 1944 verließ, blieb Eva bis Kriegsende 1945 dort. Sie schreibt:

Nach Kriegsende, etwa im Juni 1945, erfuhr ich durch einen Brief meiner Großeltern aus Dortmund, daß mein Vater den Krieg überlebt hatte. Er würde mich so schnell wie möglich aus dem Schwarzwald zu sich holen. Bevor es aber dazu kam, ergab sich im Oktober 1945 für mich die Möglichkeit, mit Bekannten die Heimreise anzutreten. Schwester Emma, die Oberin, ließ mich auf mein ständiges Bitten trotz Bedenken mitziehen; denn ich war erst 13 Jahre alt. Zum Abschied erzählte sie mir:

,Die Gestapo hatte gegen Ende des Krieges meinen Bruder Dieter und mich im Hagener Kinderheim gesucht und erfahren, daß wir evakuiert waren. Die Hagener Schwestern informierten die Stegener Schwestern und die faßten folgenden Plan (Dieter hatte als fünfzehnjähriger das Heim inzwischen verlassen und war beim Volkssturm): Sollte die Gestapo in Stegen auftauchen, wollte man sagen, ich läge mit einer Polypen-Operation im Krankenhaus in Freiburg. Unterdessen wollte man mich an den Bodensee schicken. Dort sollte ich dann bei einer Schwester unserer Schwester Gudila versteckt werden. Der Krieg war aber schon zu Ende, ehe es soweit kam.‘

Als Schwester Emma mir das erzählte, konnte ich mir endlich erklären, warum es eines Tages hieß, ich müßte meine Polypen herausoperieren lassen. Nie hatte ich Beschwerden, und bis heute stören sie mich nicht. Vielleicht fürchteten die Schwestern, ich hätte den Plan meinen Freundinnen erzählt, wenn ich ihn erfahren hätte. Und über diesen Weg wäre er möglicherweise der Gestapo bekannt geworden. Also erfuhr ich erst davon, als die Gefahr vorbei war.

Ergebnis

Nach den obigen Angaben wurden mit Sicherheit während der Jahre 1943 bis 1945 in Stegen sieben Menschen jüdischer Abstammung versteckt gehalten, von denen einige schon verstorben sind, andere noch leben:

  • Lotte und Peter Paepcke: Beide leben im Badischen, wo Dr. Peter Paepcke als Rechtsanwalt tätig ist, während seine Mutter in einem Altenheim wohnt. Dr. Ernst August Paepcke ist 1963 gestorben.
  • Irmgard und Ursula Giessler: Rupert und Irmgard Giessler sind verstorben. Ursula Giessler lebt als Journalistin im Saarland.
  • Dr. Gerhard Zacharias: Er lebt im Rheinland.
  • Dieter und Eva Bachenheimer: Leben beide noch. Ihre Mutter kam im Krieg um und ihr Vater starb 1957.

P. Dr. Heinrich Middendorf (1898-1972)

Der entscheidende Mann, der zusammen mit denjenigen, die Bescheid wußten und ihm bei seiner Rettungsaktion halfen, viel gewagt hat, ist P. Dr. Heinrich Middendorf. Er war von 1938-1946 Rektor des Hauses Stegen, wurde 1949 als Generalrat nach Rom berufen und war ab 1956 Missionar im Kongo, dem heutigen Zaire, bis er 1972 auf einem Heimaturlaub nach kurzer Krankheit starb.

Dr. Peter Paepcke setzte sich dafür ein, daß auch seiner als Retter von Menschen jüdischer Herkunft gedacht werde. So haben Lotte Paepcke, Dr. Peter Paepcke und Dieter Bachenheimer bei den israelischen Behörden den Antrag gestellt, daß in Yad Vashem auch P. Dr. Heinrich Middendorf der Ehrentitel „Gerechter der Völker“ verliehen werde und ein Johannisbrotbaum seinen Namen tragen solle. Mit Schreiben vom 1. November 1994 traf die erfreuliche Nachricht ein, daß Pater Heinrich Middendorf für die den Juden geleistete Hilfe während der Nazizeit der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen wurde. Sein Name wird auf der Ehrenwand der Gerechten in Yad Vashem eingetragen.

Kardinal Jules Saliège

Posthum wurde der französische Kardinal Jules Saliège mit dem Titel „Gerechter der Völker“ von der Holocaust-Gedenkstätte „Yad Vashem“ geehrt. Der 1956 verstorbene ehemalige Erzbischof von Toulouse hat während der Nazizeit zahlreichen Juden geholfen, unter anderem dem heutigen Pariser Kardinal Jean-Marie Lustiger, dem er damals die Flucht vor den Nazis ermöglicht hat.

Adolf und Maria Althoff

In Aachen wurden der ehemalige Zirkuschef Adolf Althoff und dessen Ehefrau Maria mit dem Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet. Die Urkunde und Medaille der Yad-Vashem-Gedenkstätte wurde ihnen vom israelischen Botschafter Avi Primor überreicht. Das Ehepaar erhielt die Auszeichnung für die Rettung einer jüdischen Familie in der Nazizeit, die sie unter Einsatz ihres Lebens versteckt hielten.

  1. Vgl. Eberhard Breckel in: 50 Jahre Herz-Jesu-Priester in Stegen 1929-1979, FS, 6-13.
  2. Lotte Paepcke, Unter einem fremden Stern („Ich wurde vergessen“), mit einem Nachwort „Über die menschliche Würde und das Jude-Sein“. 1989. Elster Verlag, Moos u. Baden-Baden. Das Buch erschien erstmals 1952 im Verlag der Frankfurter Hefte. 1979 gab der Herder-Verlag eine Taschenbuchausgabe unter dem Titel „Ich wurde vergessen“ heraus.
  3. Unter einem fremden Stern, 94-95.
  4. Annette D. Röhm, Lotte Paepcke — Die Entdeckung einer badischen Autorin fürf die Schule, wissenschaftliche Hausarbeit, vorgelegt der Pädagogischen Hochschule Freiburg, 1994.
  5. Das Lebensschicksal ihrer Eltern, das hier ausgespart bleiben muß, wird ausführlich beschrieben in: Lotte Paepcke, Ein kleiner Händler, der mein Vater war. 1989. Das Schicksal der Freiburger Juden am Beispiel des Kaufmanns Max Mayer und die Ereignisse des 9./10. November 1938, mit Beiträgen von Rolf Böhme und Heiko Hau-mann. Stadt und Geschichte. Neue Reihe des Stadtarchivs Freiburg i. Br., Heft 13, Freiburg.
  6. Vgl. dazu Grete Borgmann, „. . . daß das Menschen waren, nicht Steine“, Hilfsnetze katholischer Frauen für verfolgte Juden im Dritten Reich, Deutschlandfunk, B. November 1988.
  7. Die Angaben über Familie Giessler wurden einem Briefwechsel entnommen, den der Verfasser mit Ursula Giessler von 1990—94 führte.
  8. Die folgenden Angaben stammen aus einem Briefwechsel mit Urlula Giessler und wurden im Gespräch mit Gerhard Zacharias am Freitag, dem 8.4.1994. erweitert und vertieft.
  9. Der längere Beitrag ist nur in einer Kurzfassung erschienen in: Kollegbrief 1993 des Kollegs St. Sebastian. 70— 72.
  10. Das schriftliche Dokument des Zeugen befindet sich im Besitz des Verfassers.

Jahrgang 2/1995 Seite 185



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