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In memoriam: Oberrabbiner Jacob Kaplan starb im Alter von 99 Jahren

Das Ende einer jüdischen Epoche

Er selbst dachte, 100 Jahre alt zu werden: ein Fest, dessen Feier seine vielen jüdischen und christlichen Freunde bereits vorbereiteten. Die Zeit reichte ihm nicht. Jacob Kaplan starb am 5. Dezember 1994 in seiner Pariser Wohnung an einem Lungenödem.

Als Oberrabbiner Frankreichs von 1955 bis 1981 stand er nicht nur ein Vierteljahrhundert dem Geschick seiner Gemeinschaft vor, er verkörperte auch deren Gesicht, die aschkenasische Version. Doch das Gesicht der 650.000 Juden in Frankreich hat sich geändert. Mit dem Tod von Jacob Kaplan könnte diese Seite der Geschichte umgeblättert worden sein.

Er wurde am 7. November 1895 in einer frommen Familie geboren, die vor den Pogromen in Litauen geflohen war. Jacob Kaplan, Enkel eines Rabbiners und Sohn eines Kaufmanns, hat also alle Umwälzungen unseres Jahrhunderts erlebt.

Seine Studien im Rabbinerseminar, in das er 1913 eintrat, wurden durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. Nach seiner Verwundung 1915 lehnte er eine Stelle als Militärseelsorger auf den Dardanellen ab, da er weiterhin bei einer kämpfenden Einheit bleiben wollte. Dieser Mut wurde mit dem „Croix de guerre“ belohnt (dem EK vergleichbar).

Nach dem Waffenstillstand und einem Staatsexamen in Philosophie („Licence“) beendete er seine Studien an der Rabbinerschule. Seine „Berufung“ wurde zwar auch durch sein familiäres Milieu bestimmt, besonders aber durch die religiöse Gleichgültigkeit der französischen Juden zu Beginn des Jahrhunderts: Eine massive Unkenntnis ihrer Tradition, die er sein ganzes Leben zu bekämpfen sich mühte. Zunächst als Rabbiner in Mülhausen, dann in Paris, wurde er 1939 Stellvertreter des damaligen Oberrabbiners von Frankreich, Isaie Schwartz.

Die deutsche Besetzung veranlaßte ihn, sich nach Vichy und Lyon zurückzuziehen, die noch „frei“ waren. Sein energischer Protest gegen die Diskriminierung der Juden erregte großes Aufsehen. Im Jahre 1944 leitete er stellvertretend das Oberrabbinat Frankreichs.

Mit Jules Isaac, dem bekannten jüdisch-französischen Historiker, nahm er 1947 an der jüdisch-christlichen Konferenz in Seelisberg (Schweiz) teil, mit der ein neuer Blick der katholischen Kirche auf das Judentum begann. Schon von Jugend auf hatte ihn die Notwendigkeit bedrängt, eine solche interkonfessionelle Brüderlichkeit wiederherzustellen. Als Oberrabbiner von Paris (seit 1950) löste er die „Affäre Finaly“, benannt nach zwei jüdischen Kindern, die von Katholiken, denen man sie während des Krieges anvertraut hatte, getauft worden waren.

Im Januar 1955 wurde Jacob Kaplan schon im ersten Wahlgang fast einstimmig zum Oberrabbiner von Frankreich gewählt. Er besuchte damals die vom Unabhängigkeitskrieg leidgeprüften jüdischen Gemeinden in Algerien und kümmerte sich um ihre Repatriierung nach Frankreich. Von nun an überwog die sephardische Tradition im französischen Judentum. So ist es logisch, daß René-Samuel Sirat, der ihm 1981 nachfolgte, der erste Oberrabbiner Frankreichs war, der aus Nordafrika stammt.

In seiner Gemeinschaft ebenso wie mit Christen war Kaplan ein Mann des Dialogs. Viel verband ihn mit den Jesuitenpatres Riquet und dem späteren Kardinal Daniélou. Er war fest in den Prinzipien, besonders den zionistischen, doch versöhnlich in der Aktion. Und immer bewahrt hat er seinen lebhaften Blick, den ständigen Sinn für Humor und ein untrügliches Gedächtnis.

Auch im Ruhestand blieb Kaplan aktiv, besonders in dem Komitee, das sich mit dem Andenken an die Judenverfolgungen unter dem Vichy-Regime befaßte. Die „Académie des sciences morales et politique“ wählte ihn 1967 zu ihrem Mitglied und der Staat verlieh ihm das Großkreuz der Ehrenlegion.

Michel Kubler in „La Croix“ vom 07.12.1994 Übersetzt: Joseph Scheu


Jahrgang 2/1995 Seite 153



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