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Dieter Krabbe

Auf dem Weg zu einer unbedingten Solidarität: Kommentar

I.

  

„Es gab eine Zeit, da war ich überzeugt, Deutschland würde sich nie wie-der von der Gewalt und der Häßlichkeit des Antisemitismus verführen lassen. Ich sagte mir, es werde eines der wenigen Länder der Erde sein, in denen der Haß kein Wohnrecht mehr hätte; künftige Generationen würden immun sein, nachdem dieses Land anderen menschlichen Gemeinschaften so viel Unglück, so viele Erniedrigungen zugefügt hat. Ich habe mich getäuscht. Ich sage das voller Trauer“, schreibt Elie Wiesel („Die Zeit“ vom 09.10.92).

Ein Text, der Ursachen und Hintergründe des Antijudaismus in Gesellschaft und Theologie deutlich aufzeigt, der offen auch die Mitschuld, das Versagen, ja die „Verblendung“ (8) der Kirchen ausspricht, liegt in dem Wort der Schweizer Kommission aus Juden und Katholiken vor.

Es analysiert genau — und weist einen Weg aus der Gefahr, die nicht nur Juden, sondern auch Christen droht: Es sei „vielen Menschen bewußt geworden, daß die Feindschaft gegen das jüdische Volk — unter welchen Formen auch immer — für Juden akute Lebensgefahr und für Christen die Zerstörung ihres Christseins bedeutet“ (5) — notwendig ist heute echte, gelebte, unbedingte „Solidarität“ (3, 6, 7, 9,11), die sich aus der Achtung vor der „Identität“ (7, 9, 11) des anderen und aus der „Liebe“ (9) ihm gegenüber speist.

Hier ist von einer sonst in Kirche und Theologie noch immer beklagenswerten „Israel-Vergessenheit“ oder „Israel-Verdrängung“ nichts zu spüren; hier wird sensibel nachgefragt und mit offenen Augen und Ohren recherchiert; hier wird nicht mehr — wie sonst fast ausschließlich in der leidvollen Vergangenheit — übereinander, sondern endlich offen miteinander geredet, die Identität des anderen achtend, Solidarität mit ihm suchend.

Hatte Papst Johannes Paul II. am 13.06.1984 vor Vertretern des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes in Fribourg gesagt: „Wie könnten die Christen . . . gleichgültig bleiben gegenüber den Problemen und Gefahren, die Sie beunruhigen?“, so wurde jetzt Klartext geredet. Schon wenige Jahre vorher (1979) hatte die Schweizerische Bischofskonferenz von einer anzustrebenden „echten Solidarität zum Wohl der ganzen Menschheit“ und von einer „neuen Sensibilität“ gesprochen.

Doch was kirchlicherseits bislang an Dokumenten zum Thema „Juden und Christen“ veröffentlicht wurde, steht nun harten Bewährungsproben bevor — das Schweizer Papier umreißt 8 Aufgaben (8 ff.), um die neu aufkommende Judenfeindschaft „durch Solidarität, Kenntnis, Verständnis und Freundschaft zu ersetzen“ (9).

Dabei werden zwei Gefährdungen deutlich gesehen: Einmal Israel im Spannungsfeld des Nahen Ostens (auch wenn die Frage „Land, Volk und Staat“ etwas zögerlich und erst gegen Ende angeschnitten wird, 10); zum anderen der Antisemitismus, der sich „wie eine Geisteskrankheit“ (Hendrik Broder) über Europa und weltweit auszubreiten scheint. Beide Gefährdungen haben im Grunde die gleiche Wurzel: Es ist der vielfältige, unerklärliche Haß, das zerstörerische Ressentiment. Gewiß wird in der Schweiz an einem weiteren Papier gearbeitet, das stärker auf die theologische Herausforderung des Staates Israel eingeht.

Die Aufgabe, Ursachen und Hintergründe des Antijudaismus zu beschreiben, ist jedenfalls mit klaren Worten gelöst; daß nun „fruchtbare Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit“ (3) entstehen, kann man nur wünschen.

Die Erklärung aus der Schweiz fand übrigens im Februar 1993 ein deutliches Echo in Deutschland:

Fast 500 katholische und evangelische deutsche Theologieprofessoren haben die Christen dazu aufgefordert, den Antisemitismus in Deutschland zu bekämpfen. Es gelte, „allen Formen des latenten oder offenen Antisemitismus entschieden entgegenzuwirken“, heißt es in einer Verlautbarung. Glaubwürdigste Form des Widerstandes sei gelebte und bezeugte Solidarität (!) der Christen mit den Juden. Die Theologen beklagen, daß sie es weithin versäumt hätten, „nach Auschwitz eine Erneuerung des christlichen Verhältnisses zum Judentum und die Verlebendigung der jüdischen Wurzeln der christlichen Theologie zu suchen.“ Zu den Unterzeichnern gehören auch Hans Küng, Johann Baptist Metz und Jürgen Moltmann.

II.

Die folgenden Gedanken seien als „konstruktive Kritik“ zu lesen: Anregungen und Notizen zur Weiterarbeit.

1. Das Wort »Versöhnung“ (3, 6)

Ein theologisch überfrachteter Begriff, der zu Irritationen im Gespräch zwischen Christen und Juden führen kann; denn unter „Versöhnung“ verstehen Juden etwas anderes als Christen. Und Differenzen dürfen nicht nivelliert werden! Auch haben Juden sich nicht in gleicher Weise mit Christen zu „versöhnen“ wie umgekehrt — die leidvolle Geschichte von Auseinandersetzungen spricht dagegen. Mehr Vorsicht bei der Verwendung eines theologisch schillernden Begriffes, wenn gar „Versöhnung zwischen Juden und Nichtjuden in unserem Land“ (3) angestrebt wird. Zudem klingt diese Wendung so, als konkretisiere sie das vorangehende Wort „Solidarität“, als könnten Menschen von sich aus Versöhnung schaffen.

In der Hebräischen Bibel jedoch meint Versöhnung ein Geschehen, bei dem sich der Gott Israels gnädig seinem Volk zuwendet. Juden denken da vor allem an den Yom Kippur (,,Versöhnungstag“), den Sühnetag, an dem das Heiligtum in Jerusalem von allen Verunreinigungen durch nicht zu sühnende Vergehen der Israeliten gereinigt wurde. Damit wurde zugleich für den Hohenpriester selbst, die Priester und das ganze Volk die Sühne vollzogen (Lev 16,23; Num 29). Die Sühnekraft gilt nach der Halacha nur dem, der die T'schuwa vollzieht, die Umkehr mit dem Herzen und „mit den Füßen“ (Franz Rosenzweig). Deshalb entstand der Brauch, die Yamim Nora'im (die ehrfurchtsvollen Tage zwischen Rosch Haschana und Yom Kippur) zur Versöhnung mit den Mitmenschen und zur persönlichen Buße zu nutzen. Der Versöhnung mit Gott geht nach rabbinischer Vorstellung die Versöhnung, die Aussöhnung, mit den Mitmenschen voraus. Gott steht dahinter und schenkt und ermöglicht T'schuwa und Versöhnung.

Christen hören aus dem Wort „Versöhnung“ etwas anderes heraus: Den Opfertod Jesu Christi am Kreuz. Und immer noch stellt für viele von ihnen der Kult des Yom Kippur lediglich einen schattenhaften Prototyp des Kreuzes dar (vgl. Hebr).

Nach christlicher Theologie bedeutet Versöhnung „katallagé“, Tausch: Gott selbst erniedrigt sich, um den Menschen zu erhöhen; er geht im Christus Jesus in Gottferne und Tod, damit Menschen wieder volle Gemeinschaft mit dem Schöpfer und neues Leben empfangen. Gott setzt sich selbst an die Stelle des Menschen und den Menschen an die Stelle Gottes — ein Gedanke, den Juden nicht mitvollziehen können. Für Christen ist diese Tat Jesu Christi nur zu bekunden, nicht aber zu veranlassen, zu beeinflussen oder gar zu beschleunigen gewesen — sie hat sich „extra nos, id est in Christo“ vollzogen. Ihnen ist allein aufgetragen, den „Dienst der Versöhnung“ zu versehen und das „Wort der Versöhnung“ (2 Kor 5,18 ff.) auszubreiten.

Juden dagegen nehmen direkt Anteil am Akt der Versöhnung, die Gott gnädig gewährt: durch ihr Verhalten, durch Worte und Taten. Der „Engel der Versöhnung“, heißt es in einer jüdischen Geschichte, muß jedesmal neu erschaffen werden. Sein Haupt, sein Körper, seine Flügel, seine Hände und Füße wachsen aus den guten Taten der Menschen. Ihre schlechten Taten jedoch vernichten ihn.

Vielleicht könnte man im Schweizer Papier statt von „Versöhnung“ besser von „Aussöhnung“ oder — noch vorsichtiger —von „Freundschaft“ (wie 6,9) reden.

2. Die Wendung „Jesu Gebot der Feindesliebe“ (10)

Sie erweckt den Anschein, als habe Jesus von Nazaret das Gebot der Feindesliebe in die Welt gebracht und zum ersten Mal gelehrt — doch im Judentum vor, neben und nach ihm ist dem Menschen eindeutig geboten, seinen Feind zu lieben: Die Forderung der Nächstenliebe (Lev 19,18 u.a.) schließt in der Tora stets den Feind mit ein (Ex 23,4 f.; Spr 25,21 f.; Sir 27,30-28,7).

Jesus hat das Gebot der Feindesliebe von den Müttern und Vätern seines Volkes gehört und übernommen, es gelehrt, gelebt und erlitten. Er konkretisiert und kommentiert das Liebesgebot Israels: Wo die Liebe nicht immer auch den Feind mit einzuschließen vermag, da wird die Nächstenliebe sinnlos; in der Feindesliebe bewährt sich die Nächstenliebe. Im Kommentar des Rabbi Nathan zu den Sprüchen der Väter Kap. 23 heißt es: „Wer ist der größte der Helden? Der sich den Feind zum Freunde macht.“

In der im Schweizer Text erwähnten Antithese der Bergrede „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt worden ist, du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen, ich aber sage euch . . .“ (Mt 5,43 ff.) bezieht sich Jesus auf eine ganz bestimmte Exegese des Gebotes der Nächstenliebe — wahrscheinlich auf die durch die Essener von Qumran (so meint es der jüdische Neutestamentler David Flusser): Deinen Nächsten sollst du lieben, aber deinen Feind darfst du hassen!

Jesus kommentiert nun diese These:

Das Gebot der Nächstenliebe besagt, du sollst deinen Nächsten lieben; es gibt aber in unserer breiten jüdischen Glaubensbewegung eine Richtung, die meint: Aber deinen Feind darfst du hassen! Demgegenüber aber sage ich euch . . .

Jesus bezieht sich mit seiner Antithese also keinesfalls auf die Tora — er hat sie weder entschärft, verfälscht, überholt oder gar zu ihrem Ende gebracht —, sondern bezieht sich auf eine spezifische Exegese im Judentum seiner Zeit.

3. Notizen

Das Schweizer Papier vermeidet das Wort „Zionismus“ als Inbegriff für die Befreiungsbewegung des jüdischen Volkes (dabei erscheint der Begriff „Antizionismus“, 7) — warum? Ist das Wort zu belastet, zu diffus, wird es in einer späteren Erklärung näher behandelt?

Mit der Frage der traditionell sogenannten „Judenmission“ steht und fällt heute eine offene Begegnung von Juden und Christen. Warum wird zu diesem brisanten Thema erst so spät (unter 6. „Aufgaben“, 8 f.) etwas gesagt? Müßte der Verzicht auf jegliche Missionierungsversuche nicht gleichsam in der Präambel einer Erklärung zum Verhältnis Juden und Christen verankert werden?

Der Zweite Golfkrieg hat in Deutschland das Gespräch zwischen Juden und Christen tief erschüttert, ja zurückgeworfen. Edna Brocke verließ enttäuscht die „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“; die Wunden von 1991 sind noch lange nicht verheilt. Ging der Zweite Golfkrieg spurlos an der Schweiz vorüber; gab es dort kein Aufflackern von Antijudaismus, Antizionismus?

Bei Edna Brocke ist nachzulesen, der Begriff „Antisemit“ sei schon an sich antisemitisch. Es gäbe lediglich semitische Sprachen (wie Aramäisch, Hebräisch, Arabisch u. a.), jedoch keine semitischen Menschen. Die Erfindung der Vokabel „Antisemitismus“ im 19. Jahrhundert zielte bewußt darauf, einen falschen Begriff einzuführen. Sollten wir uns nicht wenigstens im Gespräch zwischen Christen und Juden von ihm lösen? Das Schweizer Papier spricht ebenso von „Antijudaismus“, ein Wort, das die Judenfeindschaft exakter beschreibt.

Auch die Verwendung eines anderen Begriffes erscheint immer problematischer: „Holocaust“ (4, 7). Er hat sich zwar seit den sechziger Jahren und besonders durch die Ausstrahlung des gleichnamigen US-Fernsehfilms Anfang der achtziger Jahre in den Köpfen festgesetzt — aber es wäre an der Zeit, ihn zu hinterfragen (im Sinne von Elie Wiesel, der sich scheut, von einem „Ganzopfer“ der Juden zu reden !). Amos Oz, der 1992 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, plädiert dafür, den Begriff „Holocaust“ auszuwechseln gegen den Begriff „Mord an Millionen“. Er sagte damals in Frankfurt: „Immer nämlich, wenn ich den Begriff ,Holocaust‘ oder ,Schoa‘ höre, habe ich das Gefühl, hier muß sich ein Erdbeben, eine Naturkatastrophe ereignet haben. Das aber, was da passiert ist, war Mord. Es gibt eine ganze Gruppe von Menschen, die sich darum bemüht, dem ,Holocaust‘ eine theologische Dimension zu verleihen . . . , als sei das eine Sache zwischen Gott und den Juden oder Gott und den Deutschen. In meinen Augen war es eine Angelegenheit zwischen Mördern und Opfern, und das ist es auch geblieben.“

III.

Sensibel und solidarisch miteinander umgehen, ins Gespräch kommen, aufeinander hören und voneinander lernen — und so den Gefahren des Antijudaismus entgegentreten, dazu weist das Papier der Schweizer Kommission einen Weg. Einüben läßt sich die echte, unbedingte Solidarität beispielsweise in „Lehrhäusern“ für Juden und Christen, die Idee eines Franz Rosenzweig aufgreifend und weiterführend — wie in Zürich, Nürnberg und anderen Orten schon geschehen. Dort kann man „Freunde werden“ (6, 9), die „Liebe zum Judentum“ (9) entdecken und entfalten, so, daß die Identität des anderen geachtet wird und an Wert gewinnt. Es kommt darauf an, nicht nur mit den „Nachfahren Jesu“, sondern auch mit den „Nachfahren von Auschwitz“ (Günther Bernd Ginzel) ins Gespräch zu kommen, das Gedächtnis der Opfer zu bewahren, von Juden nicht nur etwas zur Bibel, sondern über ihre heutige (oft bedrohte) Lebenssituation zu erfahren.

Keine christliche Theologie mehr ohne den jüdischen Gesprächspartner vor Augen und an der Seite! Das würde uns weiterbringen auf dem Weg der Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden.

Daß viele Menschen „im Geiste der Umkehr“ (6, 10) den Text aus der Schweiz lesen, ist zu wünschen; denn dann werden sie merken, was der Schweizer Theologe Karl Barth 1966 in Rom gesagt hat:

„Aber wir sollen nicht vergessen, daß es schließlich nur eine tatsächliche große ökumenische Frage gibt: unsere Beziehungen zum Judentum.“


D. Krabbe ist Pfarrer in der Evangelisch-Reformierten Gemeinde St. Martha in Nürnberg und Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Nürnberg.


Jahrgang 1 / 1994/95 Seiten 120-125


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