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Schweizerische Bischofskonferenz und Leitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes

Antisemitismus: Sünde gegen Gott und die Menschlichkeit

Erklärung im Auftrag der Schweizerischen Bischofskonferenz und der Leitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes anläßlich der Erinnerung an die Vertreibung der Juden aus Spanien vor 500 Jahren

1. Veranlassung, Verfasser

Die Schweizerische Bischofskonferenz (BK) und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) haben im Sommer 1990 gemeinsam eine Jüdisch-Römisch-Katholische Gesprächskommission (JRKG) ins Leben gerufen. Ihr gehören fünf jüdische und fünf christliche Fachleute an. Sie sollen Wege zu innerer und äußerer Solidarität und Versöhnung zwischen Juden und Nichtjuden in unserem Land aufzeigen. Daß die Kommission Juden und Katholiken ins gemeinsame Gespräch im Dienst gemeinsamer Fragen zusammenführt, bedeutet eine besondere Chance, die in dieser Form selten anzutreffen ist: So wird nicht nur von Nichtjuden über Juden und umgekehrt geurteilt; vielmehr werden Aussagen gemacht, hinter denen jüdische und christliche Frauen und Männer mit ihren Erfahrungen und Nöten stehen.

Als Jüdisch-Römisch-Katholische Gesprächskommission haben wir uns als erste Aufgabe vorgenommen, auf den Antisemitismus, wie er sich auch in der Schweiz bemerkbar macht, hinzuweisen, ihn in die christliche Geschichte und Gegenwart hineinzustellen und auf Möglichkeiten zu seiner Eindämmung aufmerksam zu machen. Nach eingehendem Studium des vorliegenden Memorandums haben uns die Verantwortlichen der Bischofskonferenz und des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes erklärt, daß sich dieser Versuch mit ihren eigenen Erwägungen, Sorgen und Intentionen trifft. Sie bejahen seinen Inhalt und hoffen, daß sich daraus fruchtbare Diskussionen in der breiten Öffentlichkeit ergeben.

Wir jüdischen und christlichen Mitglieder der JRKG haben dieses Memorandum also in eigener Verantwortlichkeit und Kompetenz verfaßt. Wir waren uns dabei bewußt, daß es zu den vornehmsten Aufgaben unserer Zeit gehört, mitzuhelfen, daß die Kirche und das jüdische Volk einander besser verstehen, in Gefahren zueinander stehen und die übrige Welt nicht vergessen. In allen wesentlichen Punkten sind wir uns einig geworden. Wo sich nur die christlichen Mitglieder äußern, ergibt sich dies aus dem Zusammenhang (z. B. neutestamentliche Argumentationen).

Weshalb ist der Antisemitismus unser erstes Thema? Es gibt viel zwischen den jüdischen und den christlichen Gemeinschaften zu besprechen, zu verdeutlichen und zurechtzurücken. Zuerst aber muß klar sein, wie die Gesprächspartner die Judenfeindschaft bewerten, und wie sie dagegen ringen und arbeiten. Christen und Christinnen, die sich ihrem Gewissen und ihrer Glaubensgemeinschaft gegenüber verantwortlich wissen, können keinem andern Thema den Vorzug geben, wenn sie sich ihren jüdischen Kollegen gegenüber glaubhaft verhalten wollen. Es geht dabei um die Verteidigung des guten Rufes, der Rechte und eventuell sogar des Lebens jüdischer Mitmenschen. Das jüdische Volk ist der unentbehrlichste und wichtigste Gesprächspartner der Kirche. Den jüdischen Kommissionsmitgliedern geht es beim Thema Antisemitismus um eine verantwortliche Zusammenarbeit mit ihrer christlichen Kollegin und den Kollegen, damit sich keine Unwahrheiten in die Gedankengänge und Vorschläge einschleichen.

2. Die Judenvertreibung von 1492 und ihre Nachwirkungen bis heute

Dieses Jahr finden viele Erinnerungsfeiern an die „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus vor 500 Jahren und an die anschließende Unterjochung der indianischen Bevölkerung durch die damalige spanische Weltmacht statt. Das Jahr 1492 gilt oft als Beginn der modernen, von Fortschritt, Demokratie und Handelsfreiheit geprägten Weltgeschichte. Weil dieser geschichtliche Prozeß aber auch von furchtbarer Unterdrückung geprägt war, ist es vielen nachdenklichen Menschen nicht ums Jubilieren zumute. Im gleichen Jahr 1492 wurden — vom März bis zum August — alle Juden auf Weisung des sich betont katholisch gebenden Herrscherpaares Ferdinand und Isabella aus Spanien vertrieben. Laut den Vertreibungsdekreten mußten alle Juden und Jüdinnen jeglichen Alters Spanien innert kürzester Frist ohne Aussicht auf Rückkehr verlassen. Auf Nichtbefolgung stand die Todesstrafe. Über 50.000 jüdische Familien allein aus Kastilien und Aragonien wurden zu den Gefahren und Leiden eines Flüchtlingslebens in vielen Ländern verurteilt, nachdem Juden seit 1500 Jahren in Spanien ansässig gewesen waren. Die Juden seien — so die Begründung der „katholischen Autoritäten“ — Verführer zum Abfall von der reinen katholischen Lehre und Zerstörer der Einheit der spanischen Nation. Zwischen den religiös und einheitspolitisch verbrämten Begründungen scheinen nationalistische, wirtschaftskämpferische und rassistische Motive (,,Reinheit des Blutes“) durch. Die Juden mußten als Sündenböcke für religiöse und politische Mißstände herhalten. Das aus der Bibel entlehnte religiöse Vokabular diente der Verschleierung und der Verharmlosung judenfeindlicher Maßnahmen. Die Vertreibung der Juden aus Spanien vor 500 Jahren ist zwar nicht der einzig mögliche Anknüpfungspunkt, um vor Verleumdung, Verachtung und Haß gegen die Juden zu warnen; sie scheint uns aber ein wichtiges Merkzeichen zu sein, das derzeit von vielen wahrgenommen wird.

Das Gedenken an die Vertreibung der Juden ist auch deshalb wichtig, weil die damaligen — aus weit früheren Zeiten übernommenen — antijüdischen Klischees und Vorwände bis heute kolportiert werden. Sie vergifteten die Atmosphäre zwischen Menschen verschiedener Geisteshaltung, führten zu Verfemung und Tod vieler Millionen jüdischer Mitmenschen und richteten indirekt auch Unheil gegen Muslime, Asylanten, Schwarze usw. an. So ist es nicht verwunderlich, daß die Vertreibung der Juden aus Spanien, nachdem sie zuvor unter der Inquisition mit ihrem Gesinnungsterror, den Zwangstaufen, Zwangspredigten und Folterungen schwer gelitten hatten, diese traumatisiert und in ihnen ein Mißtrauen gegen die christliche Welt erzeugt hat.

3. Wachsamkeit nach dem Holocaust auch in der Schweiz

Im Zweiten Weltkrieg versuchten die nationalsozialistischen Machthaber das jüdische Volk gänzlich auszurotten. Die „Endlösung“ haben sie zwar nicht erreicht. Aber sie vermochten mehrere Millionen Juden ihrer Freiheit zu berauben, zu foltern, zu demütigen und zu ermorden. Der von Verbrechern über das jüdische Volk verfügte Holocaust (wörtlich Ganzopfer) bzw. die Schoa (wörtlich Vernichtung) ist das ragende Mahnmal für unsere Generation und für alle kommenden Geschlechter. Nach dem Krieg ist es vielen Menschen bewußt geworden, daß die Feindschaft gegen das jüdische Volk — unter welchen Formen auch immer — für Juden akute Lebensgefahr und für Christen die Zerstörung ihres Christseins bedeutet.

Die Selbstreinigung von Judenfeindschaft und die Mithilfe bei der Aufarbeitung von Ursachen und Hintergründen dieses in allen Jahrhunderten aufgetauchten Übels gehören zu den wichtigsten Aufgaben der christlichen Kirchen. Diese Aufgaben wurden in der Schweiz schon mehrmals sporadisch angegangen. Nur zwei Beispiele seien erwähnt:

Die von allen schweizerischen Diözesen getragene „Synode 72“ hat sich im Gefolge der Judenerklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils „Nostra aetate Nr. 4“ gegen den auch bei uns weiterhin möglichen Antisemitismus ausgesprochen und auch jene christlichen Lehren und Normen hervorgehoben, die jegliche Vereinbarkeit des christlichen Bekenntnisses mit dem Antisemitismus ausschließen.1 Auch das Memorandum der drei Landeskirchen der Schweiz gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, das am 14. Mai 1991 unter dem Titel „Auf der Seite der Bedrängten. Für eine gemeinsame Zukunft“ veröffentlicht wurde, dient der Bekämpfung minderheiten- und fremdenfeindlicher Ideologien.

Die Schweizer Juden oder die in der Schweiz Erholung suchenden Juden sind keine Flüchtlinge und keine Asylanten. Manche von ihnen waren dies aber früher. Teile des jüdischen Volkes leben auch heute noch in Ländern der Unterdrückung und des Hasses. Die Juden in der Schweiz — selbstverständlich auch unserer Nachbarländer, der USA und Israels — sind aber für die Nichtjuden insofern beispielhaft geworden und geblieben, als heutige Asylanten mit denselben verderblichen Denkmustern bedacht werden, mit deren Hilfe früher Verachtung, Abschiebung und Verfolgung der Juden gerechtfertigt worden sind. Der heutige sich gegen Türken, Tamilen, Schwarzafrikaner usw. richtende Rassismus ist ein schreckliches Fortsetzungsdrama früherer Feindschaften und Rassismen gegen die Juden. Nicht zufällig bricht bei heutigen Fremden- und Asylantenfeinden immer wieder alter Judenhaß durch. Haß gegen heutige Verfolgte kann leicht in Haß gegen Juden umschlagen. Umgekehrt findet der Judenhaß im heutigen Fremdenhaß seine Fortsetzung. Damit sind die Juden jene Volksgruppe, die uns allein schon durch ihre Existenz daran erinnert, wie verderblich aller Haß und alle Unterdrückung ist.

Die heutigen Feinde der Juden bedienen sich sowohl rassistisch-fremdenfeindlicher Motive als auch des überkommenen religiösen und gesellschaftlichen Feindschaftsdenkens. Überdies versuchen sie, jüdische Gemeinschaften, die irgendwo in Europa leben, für politische Geschehnisse im Staat Israel und rund um den Staat Israel (mit)verantwortlich zu machen. In unserem Lande wurden in letzter Zeit jüdische Gräber in Basel, St. Gallen, Belmont-sur-Yverdon und in Endingen-Lengnau geschändet. An verschiedenen Orten kamen antijüdische Affronts und Schmierereien vor. Außerdem wird derzeit eine angeblich christliche Presse zunehmend aktiv, die alte Lügenmärchen über Juden und Judentum neu auftischt. Sie will dem Antisemitismus mit pseudochristlichen (z. B. die Juden als „Satanssynagoge“) und pseudohistorischen (z. B. die Juden als intrigierende Clique mit Weltverschwörungs- und Weltherrschaftsplänen) Motiven neuen Auftrieb verleihen. Auch wenn sich diese Presse als katholisch etikettiert, hat sie mit dem katholischen Glauben nichts gemeinsam; es ist vor ihr zu warnen. Die Schweiz wird ferner seit ein paar Jahren auch von einer eruptiven rassistisch-antijüdischen Stimmungslage gestreift, die derzeit von Rußland bis nach Westeuropa reicht, wobei sich extremistische Gruppen gegen das Judentum im allgemeinen und den Staat Israel im besonderen wenden. Jeder einzelne Fall von Haßausbruch gegen das jüdische Volk und gegen Minoritäten und Fremde ist ein empfindlicher Rückschlag gegen die christliche Botschaft und die Menschlichkeit.2

4. Die Kirche auf dem Weg von der Schuld zur Versöhnung

Das Christentum wird einerseits von der jüdischen Wurzel spirituell getragen und genährt (Röm 11,18). Anderseits war das Christentum in der Vergangenheit durch Predigt, Katechese und Religionspolitik selbst Trägerin und Verbreiterin der Judenfeindschaft. Auch die Kirche als Institution hat im Verlauf der Jahrhunderte durch mangelnde Wachsamkeit und durch Antisemitismuspropaganda gefehlt. Eine radikale und konsequente Abkehr von allen Ideologien und Redeweisen, die zur Feindschaft gegen die Juden führen können, ist daher geboten. Dies ist nur im Geiste der Umkehr zum lebendigen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs möglich. Es muß Christen daran liegen, vor Gott und den Menschen zu ehrlichen und verläßlichen Freunden des jüdischen Volkes zu werden.

Besonders seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil haben die Katholische Kirche wie auch die anderen Kirchen, die in unserem Land wirken, die lange versäumte Pflicht anerkannt und übernommen, keinen Antisemitismus mehr zu dulden und dem jüdischen Volk, seiner Berufung und seiner Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In der Konzilserklärung „Nostra aetate Nr. 4“ vom 28. Oktober 1965 heißt es unter anderem:

„Im Bewußtsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums, alle Haßausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.“3

Zwar hat auch die Katholische Kirche sogar noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges allzu lange gezögert, sich unmißverständlich von ihrer alten „Lehre der Verachtung“ zu distanzieren. Seit ca. 1960 (Eichmann-Prozeß) und 1965 (Zweites Vatikanisches Konzil) aber hat die Katholische Kirche — der Papst, vatikanische Behörden, Bischöfe und Synoden — rund 100 Verlautbarungen gegen die Judenfeindschaft und für eine religiöse und menschliche Solidarität mit Juden und Judentum herausgegeben. Wir greifen zwei neuere Dokumente heraus:

In der am 3. November 1988 von der Vatikanischen Kommission „Iustitia et Pax“ herausgegebenen Erklärung „Die Kirche und der Rassismus. Für eine brüderliche Gesellschaft“ wird der Rassismus als traditioneller und moderner Ungeist bezeichnet, der „weiterhin die Beziehungen zwischen Personen, Gruppen und Völkern . . . beeinträchtigt“ (Einleitung). Das rassistische Vorurteil besteht in der „Vorstellung von einer biologisch bestimmten Überlegenheit der eigenen Rasse oder Volksgruppe über andere“ (I/2). Die Erklärung macht darauf aufmerksam, daß die rassistische Selbstüberhebung der euro-amerikanischen Gruppen und Völker zu Versklavung und Unterdrückung besonders in der dritten Welt geführt hat. An mehreren Stellen kommt das Dokument auf den Antisemitismus zu sprechen, den es in seinen heutigen Formen als Ausdruck rassistischer Voreingenommenheit brandmarkt: Der Antisemitismus ist die „tragischste Form der rassistischen Ideologie in unserem Jahrhundert mit dem ganzen Schrecken des ‚Holocaust‘ . . . Als hätten einige nichts aus den Verbrechen der Vergangenheit gelernt, halten gewisse Organisationen, mit Zweigstellen in vielen Ländern, unterstützt von Veröffentlichungsorganen, den antisemitischen Rassenwahn am Leben. Auf jüdische Personen oder Symbole zielende terroristische Handlungen haben sich in den letzten Jahren vervielfacht und zeigen den ganzen Radikalismus derartiger Gruppen. Manchmal dient der Antizionismus — der nicht gleicher Art ist, da er den Staat Israel und seine Politik in Frage stellt — als Mäntelchen für den Antisemitismus, nährt sich aus ihm oder führt zu ihm“ (II/15).4

Alle jüdisch-christlichen Dialogbemühungen haben zuallererst den Sinn, den Antisemitismus zum Verschwinden zu bringen und ein individuelles und gesellschaftliches Leben der Solidarität bei voller Anerkennung und Hochschätzung der legitimen Glaubens- und Kulturdifferenzen zu ermöglichen und zu fördern. Nur so ist eine Arbeit für den Frieden zwischen Juden, Christen und den anderen Völkern und Religionen möglich.

Im September 1990 kam die „Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum“ mit dem „Internationalen Jüdischen Komitee für interreligiöse Konsultationen“ in Prag zu einer längeren Begegnung zusammen. In der gemeinsamen Schlußerklärung werden Antisemitismus und Rassismus als „Sünde gegen Gott und gegen die Menschlichkeit“5 bezeichnet. Jedes Feindschaftsdenken steht im Widerspruch zu christlichem Denken. Wir appellieren besonders an die sich religiös gebunden fühlenden Menschen in unserem Land, aber auch an die Verantwortlichen in Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Medien, daß der „Sünde gegen Gott und die Menschlichkeit“ keine Chance gegeben wird.

5. Antisemitismus: Umschreibungen

Eine ganze Reihe von Definitionen dieses Begriffes6 ist heute gebräuchlich. Mit dem Gemeinten ist vorsichtig umzugehen, da die Judenfeindschaft auch heute viele Formen annimmt, vom banalen Neid bis hin zu Verdrehungen, Verleumdungen und zerstörerischen Aktionen.

Judenfeindschaft ist eine unkontrollierte, pauschale und moralisch verwerfliche Voreingenommenheit gegen das jüdische Volk mit seiner Geschichte und seiner religiösen, sozialen und kulturellen Identität. Die Voreingenommenheit, das Klischee, führte im Verlauf der Geschichte zu Verhetzungen der breiten Öffentlichkeit gegen die Juden, zu Feindseligkeiten auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene, sowie zu blutigen, von der Staatsmacht oder vom Pöbel angezettelten Pogromen.

Der christlich verbrämte Antijudaismus kann umschrieben werden als eine feindliche und starre Reaktion auf die karikiert aufgefaßte Erwählung des jüdischen Volkes, die als Überheblichkeit, Völkerfeindschaft usw. gedeutet wird. Diese besondere Judenfeindschaft ist auch als ein gruppenpsychologischer Abwälzungsvorgang zu charakterisieren. Die eigenen religiösen und psychologischen Unzulänglichkeiten werden gleichsam ins jüdische Volk hineingebannt. Die Juden werden zu Sündenbökken. Die Christen überspielen ihre Rivalitätsängste mit überheblicher Theologie, mit Verachtung der Juden und mit judenfeindlichen Maßnahmen. Im Mittelalter lassen sich diese Projektionen gut beobachten: Die Juden galten als physische Nachkommen der israelitischen Propheten und als Stammesgefährten Jesu und damit als die eigentlichen „messianischen Fachleute“. Weil sie als so Ausgestattete aber nicht nur keine Anstalten machten, den Messiasglauben der Christen zu bestätigen, sondern ihn heftig ablehnten, reagierten viele christliche Gruppen gereizt und schoben den Juden alle möglichen Perfidien (Brunnenvergiftung, Ritualmord, Hostienschändung) in die Schuhe. Vor 500 Jahren meinten die spanischen Herrscher, in den Juden die Schuldigen für das Scheitern der Idee eines rein katholischen Reiches entlarvt zu haben; daher verjagten sie sämtliche Juden und etwas später auch die Muslime aus ihrem Reich. Diese Beispiele zeigen, daß die Judenfeindschaft nicht nur den Juden schadet, sondern auch der Gesellschaft, von der sie ausgeht: Sie ist eine Verblendung, die die Sicht auf die Realität verstellt und sich damit gegen die Judenfeinde selbst wendet, die die Gefangenen der eigenen Vorstellungsbilder sind.

6. Aufgaben

Die Judenfeindschaft ist ein vielfältiges, sich seit mehr als 2000 Jahren durch die ganze Geschichte hinziehendes, ja bis in die frühe Offenbarungsgeschichte zurückreichendes Phänomen. Es muß daher für eine möglichst breite und nachhaltige Bewußtmachung des ganzen Problemkomplexes in allen Kreisen unserer Gesellschaft gesorgt werden. Dies erfordert Diskussionen sowohl über theologisch-geistig anspruchsvolle als auch über ganz praktische Themen des gegenseitigen Verständnisses und Zusammenlebens.

1. Es ist eine Aufgabe der Christen in unserem Lande, ihren grundsätzlichen, von religiöser Liebe geprägten Verzicht auf jede Art von religiöser oder kultureller Degradierung von Juden und Judentum auszusprechen und den Bewohnern und Bewohnerinnen unseres Landes klarzumachen. Dies schließt in erster Linie die Absage an jedes Überheblichkeitsdenken ein. Christlich ist es nicht möglich zu sagen, die Juden seien ein aus der Verantwortung für die Offenbarung entlassenes oder gar verjagtes Volk. Gottes Bund mit seinem Volk ist und bleibt ungekündigt.7 Die Christen sind nicht am jüdischen Volk vorbei oder gar anstelle dieses Volkes „in den guten Ölbaum eingepfropft worden“ (vgl. Röm 11,17-24). Zu beachten sind die großen heilsgeschichtlichen Optionen der Hebräischen Bibel: Gott wird das zerstreute und dezimierte Israel wieder zusammenführen, auffüllen und aufrichten; im Zusammenhang mit der israelitischen Wiederherstellung wird er das Heil in allen Völkern „bis an die Grenzen der Erde“ aufleuchten lassen.8 Damit sich die nichtjüdischen Völker gegenüber Israel nicht die Rolle von Gegenspielern anmaßen, wurde im Juditbuch (2. Jh. v. Chr.) ein Gebet einer tapferen Frau formuliert, das als Zusammenfassung aller israelitisch-biblischen Erwartungen gelten kann: „Breite über jedes Volk und über jeden Stamm die Erkenntnis aus, daß sie wissen, daß du Gott bist, der Gott aller Macht und Stärke, und daß es für dein Volk Israel keinen anderen Beschützer gibt als dich allein“ (Jdt 9,14). Keinem Volk und keiner Religionsgemeinschaft steht also das Recht zu, über Existenz oder Nichtexistenz Israels zu entscheiden.

2. Dieses christliche Denken darf aber nicht dazu führen, unsern jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern den christlichen Glauben aufzudrängen: Jesus sei doch Jude gewesen, das Christentum berge einen jüdischen Charakter in sich, eigentlich sollte den Jüdinnen und Juden die Vorzüglichkeit des christlichen Glaubens einleuchten u. ä. Vielmehr muß auf christlicher Seite akzeptiert werden, daß sich das jüdische Volk von der Tora her auch als ein Volk der Absonderung, der Distanznahme versteht. In Num 23,9 sagt der Seher Bileam über Israel: „Siehe ein Volk! In der Absonderung lebt es, und zu den Völkern wird es nicht gezählt.“ Was immer zu einer Beeinträchtigung jüdischer Identität und des jüdischen Auftrages in der Welt führen könnte, wird auf jüdischer Seite schnell registriert. Vorbehalte gegen theologische Gespräche, gegen gemeinsames Beten und gegen die Mischehe mit christlichen Partnern sind von daher zu verstehen.

3. Auf allen Bildungsstufen ist eine solide Kenntnis des Judentums, seiner Religion, seiner Geschichte und seiner Gegenwart zu fördern und zu fordern. So heißt es in der Erklärung „Nostra aetate Nr. 4“:

„Da also das Christen und Juden gemeinsame geistliche Erbe so reich ist, will die heilige Synode die gegenseitige Kenntnis und Achtung fördern, die vor allem die Frucht biblischer und theologischer Studien sowie des brüderlichen Gesprächs ist.“

Im Jahre 1974 rief die „Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum“ in ihren „Richtlinien und Hinweise(n) für die Durchführung der Konzilserklärung Nostra aetate Nr. 4“ dazu auf, daß die „wissenschaftliche Erforschung der Probleme des Judentums und der jüdisch-christlichen Beziehungen . . . gefördert werde.“ Die katholischen Universitäten und Forschungsstätten sollten durch ihr Fachpersonal und in Zusammenarbeit mit anderen christlichen Institutionen ,,ihren Beitrag zur Lösung dieser Probleme leisten“9 Im Sinne dieser Richtlinien sind schweizerische Bildungsinstitutionen aufzufordern, genügend Angebote zu vermitteln, die geeignet sind, die Judenfeindschaft durch Solidarität, Kenntnis, Verständnis und Freundschaft zu ersetzen.

4. Es gibt auch Kenntnisse über das jüdische Volk, seine Offenbarung und seine Geschichte, die mit keiner Akzeptierung dieses Volkes verbunden sind. Selbst unter Bibelwissenschaftlern und Historikern gab es Judenfeinde und zeigt sich auch heute noch manches Mißverständnis. Der Antijudaismus kann von christlicher Seite her nur durch die Liebe zum Judentum überwunden werden. Diese Liebe entsteht zunächst aus der spirituellen und mystischen Einsicht in all das, was die Kirche dem biblischen Volk und seinen jüdischen Nachkommen zu verdanken hat. Ferner erwächst sie aus dem Bewußtsein der bleibenden Verwurzelung des christlichen Glaubens im Judentum sowie aus der gemeinsamen Hoffnung auf die volle Entfaltung des Reiches Gottes. Es geht also darum, die Kräfte der Liebe und die religiösen Energien gegenüber allen Neigungen zu Neid, Stolz, Abneigung und Gewalttätigkeit zu stärken. Dadurch werden unsere Gottesverehrung und unsere Menschlichkeit wachsen.

5. Nicht zu unterschätzen ist bei der Überwindung des Antisemitismus die unprätentiöse Begegnung von Juden und Christen im Alltag: Wir nehmen einander als gleichwertige Menschen, Mitbürger, Nachbarn und Mitarbeiter an, nehmen uns wahr und erleben uns mit Respekt vor der unterschiedlichen religiösen Überzeugung und Tradition und lernen diese kennen.

6. Durch fehlgeleitete Predigt und Katechese hat die Kirche zur Schaffung jenes Klimas beigetragen, in dem die Mörder des Nazireiches ihr verbrecherisches Werk gegen die Juden vollführen konnten. Neben der Kirche haben auch Politik, Wirtschaft und gesellschaftliche Kräfte vor und während der Nazizeit versagt. Wenn wir die Mechanismen dieses Versagens aufdecken, wenn wir uns im Geiste echter Umkehr zu erhöhter Wachsamkeit gegen die heutigen Formen des Antisemitismus motivieren lassen, und wenn wir uns daran erinnern, wie viele Menschen sich an den Juden gottlos und unmenschlich erwiesen haben, leisten wir dem eigenen Glauben und der Menschlichkeit einen Dienst. Wir sehen ja immer wieder, wie schwelende Feindschaften zu Bürger- und Volkskriegen aufflammen können. Jesu Gebot der Feindesliebe (Mt 5,43-47) meint dagegen, daß Feindschaften schon an ihrer Wurzel bekämpft werden müssen.

7. Das Land Israel spielt im jüdischen Glauben eine wichtige Rolle. Die Hebräische Bibel enthält Landverheißungen und Vorschriften, wie im Land zu leben und zu wohnen ist. Der moderne Staat Israel beruht aber nicht nur auf der Bibel und der Tradition, sondern auch auf dem Völkerrecht, das alle Nationen für sich in Anspruch nehmen. Sowohl das mit seiner Existenz, seiner Geschichte und seiner Politik verbundene Recht als auch der seit der Staatsgründung entstandene Unfriede wurden im Jahre 1973 von einer Kommission der französischen Bischofskonferenz in einer gültigen Weise ausgedrückt: ,,Im Verlaufe der Geschichte war die Existenz des jüdischen Volkes stets geteilt zwischen dem Leben unter den Völkern und dem Wunsch nach einer nationalen Existenz in diesem Land. Durch diese Rückkehr (der Juden in das Land ihrer Sehnsucht) und ihre Folgen wurde die Gerechtigkeit einer harten Probe unterworfen. Es handelt sich, politisch gesehen, um ein Aufeinanderprallen mehrerer Forderungen der Gerechtigkeit.“10 Die konkrete israelische Politik unterliegt wie jede andere Politik der Kritik. Abzulehnen ist aber das auch in christlichen Kreisen vorkommende unkritische Nachbeten von antijüdischen Slogans, was auf eine Bestreitung der Existenzberechtigung Israels hinauslaufen kann. Echtes christliches Verhalten nimmt sein Maß an dem gemeinsamen „Band, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist“, und an der Hochachtung, mit der die Kirche auch „die Muslime betrachtet, die den alleinigen Gott anbeten, den lebendigen und in sich seienden, barmherzigen und allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, der zu den Menschen gesprochen hat.“11 Vor 500 Jahren wurden aber nicht nur die Juden, sondern auch die Muslime aus Spanien vertrieben. Wäre es nicht von großer historischer Symbolik, wenn möglichst schon 1992 eine echte Friedenslösung für den Nahen Osten gefunden würde, die unter besonderer Berücksichtigung des ungelösten Palästinenserproblems und der Sicherheitsbedürfnisse Israels zu einem friedlichen Zusammenleben zwischen Juden und Arabern, Christen und Muslimen führen könnte? Wir hoffen, daß die Palästinenser an der Seite Israels und in Frieden mit Israel als Volk existieren und sich entfalten können.

8. Die Juden sind nicht die einzige Minorität in der Schweiz. Sie sind eine Minderheit von 0,35 % der Schweizer Bevölkerung (das heißt knapp 18.000, die in Gemeinden organisiert sind). Derzeit leben aber auch über 100.000 Muslime bei uns. Dazu kommen in steigendem Maße Ströme von fliehenden Menschen, die sich zu anderen Religionen bekennen, aus verschiedenen Ländern Asiens und Afrikas. Wir dürfen auch diesen Menschen gegenüber nicht von einem bereits „vollen Boot“ sprechen, wie dies während des Zweiten Weltkrieges zu den aus dem mörderischen Nazi-Deutschland zu uns in die Schweiz fliehenden Juden gesagt worden ist, die nichts anderes wollten als ihr Leben retten. Unsere Verbundenheit mit Juden und Judentum sollte ein starkes Motiv dafür werden, auch andern Menschen gegenüber offen und aufnahmebereit zu sein. Es geht um den Aufbau einer offenen jüdisch-christlichen Solidaritätsgemeinschaft, zu der auch andere Menschen in Not aufschauen und von der sie Hilfe und Schutz erwarten können. Wenn wir es fertigbringen, mit den Juden und ihrer speziellen Identität respektvoll und anerkennend umzugehen, dann hat dies auch einen Einfluß auf unseren Umgang mit allen anderen Menschen, welcher Hautfarbe und Geisteshaltung sie auch immer sind.

Dieses Memorandum wurde verfaßt von: Azzolino Chiappini, Ernst Ludwig Ehrlich, Jean Halpérin, Simon Lauer, Marcel Marcus, Claude Nordmann, Anne-Denise Rinckwald, Adrian Schenker, Roland Strässle und Clemens Thoma, und redigiert von: Ernst Ludwig Ehrlich und Clemens Thoma.
Es wurde genehmigt von der Schweizerischen Bischofskonferenz und von der Geschäftsleitung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes.

Bern, den 31. März 1992
(Datum des für Kastilien und Aragonien geltenden Vertreibungsdekretes 1492)

  1. Die Verlautbarungen der Synode 72 sind in den einzelnen Schweizer Diözesen im Jahre 1975 unter „Sachkommission 5: Ökumenischer Auftrag in unseren Verhältnissen“ publiziert worden. Sie sind auch zitiert in: Rolf Rendtorff/Hans H. Henrix, Die Kirchen und das Judentum, Dokumente von 1945-1985, Paderborn 1988, 156-164. Daß wir uns in diesem Memorandum hauptsächlich auf katholisch-jüdische Dokumente beziehen, hängt mit unserer spezifischen Aufgabe zusammen. Wir übersehen in keiner Weise, daß besonders die Evangelische Kirche, aber auch die andern christlichen Gemeinschaften unseres Landes, sich im Einstehen gegen prinzipielle und aggressive Feindschaftshaltungen eifriger verhalten haben.
  2. Zum Antisemitismus in der Schweiz vgl. neuestens Ernst Braunschweig (Hg.), Antisemitismus — Umgang mit einer Herausforderung, Zürich 1991.
  3. Rendtorff/Henrix, op. cit. (Anm. 1) 43.
  4. Herausgeber der deutschen Fassung des Vatikanischen Dokuments ist das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstraße 163, D-53113 Bonn.
  5. Nach KIPA; Ökumenische Informationen vom 29.09.1990, Nr. 40, S. 10.
  6. Das Wort „Antisemitismus“ stammt aus dem 19. Jh. und meint hauptsächlich jene Formen von Judenfeindschaft, in denen die Juden als verächtliche oder gar schädliche Rasse verleumdet werden. Außerdem hat sich das Wort zu einem Allgemeinbegriff für alle Formen der Judenfeindschaft entwickelt. Festzuhalten ist, daß die Judenfeindschaft im Mittelalter die Juden im allgemeinen nicht mit rassistischen Motiven beschimpft hat. Einzig in Spanien spielte die „Reinheit des Blutes“ eine Rolle.
  7. Röm 11,29; Papst Johannes Paul II. hat diesen Vers 1980 bei seiner Begegnung mit Juden in Mainz so gedeutet und seither häufig wiederholt.
  8. Vgl. Jes 2,2 f.; 19,19-25; 49,6; Sach 2,14 f.; 9,9 f.; Ps 83,19; 2 Kön 19,19.
  9. Rendtorff/Henrix, op. cit. (Anm. 1) 52.
  10. Rendtorff/Henrix, op. cit. (Anm. 1) 154.
  11. Zweites Vatikanisches Konzil, Nostra aetate, zit. in Rendtorff/Henrix, (Anm. 1) 41 f.

Jahrgang 1 /1993/94 Seiten 108-119


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