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Ingrid Weiß

Bericht: Die Mutigen. Ehemalige jüdische Bürger besuchen Stuttgart

Vom 14. bis 28. Juni 1993 besuchten insgesamt 83 ehemalige jüdische Bürger, die während des Dritten Reichs gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen, die Stadt Stuttgart. Wie jedes Jahr verwöhnte auch diesmal die Stadt ihre elfte Besuchergruppe mit einem vielseitigen und anspruchsvollen Programm, an dem sich als Organisator nicht nur das Kulturamt der Stadt Stuttgart, sondern auch die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (CJZ) aktiv beteiligten.

Alle bemühten sich, den Gästen, deren Durchschnittsalter diesmal zwischen 70 und 75 Jahren lag, den Aufenthalt in der alten Heimat so angenehm wie möglich zu gestalten, begrüßt mit roten Rosen auf dem Flughafen, wo aus 10 Nationen die Gäste eintrafen: aus Israel und den USA, Australien und England, Südafrika und Argentinien, Kolumbien, Mexiko, Frankreich und Brasilien . . . Weltweit ist der Horizont ihres Herkommens, und alle verbindet ihre gemeinsame deutsche Herkunft aus Stuttgart.

„Die Mutigen“ will ich sie nennen, weil sie den persönlichen Mut aufgebracht haben, trotz einer leidvollen Geschichte der Diskriminierung, Rechtlosigkeit und Verfolgung die Einladung in ihre alte Heimat anzunehmen und hier die Hand zu reichen zur Versöhnung. Daß unser freundliches Begrüßen und Händeschütteln wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit ist, das wurde bei der Begegnung unserer Gäste mit Lehrern und Schülern Stuttgarter Schulen augenscheinlich. Eingeladen vom Erzieherausschuß der CJZ zu einer Fragestunde, artikulierte eine andere, eine junge Generation die Fragen: Wie war es damals? Erzählen Sie uns aus Ihrem Leben!

Für Itzchak Hirsch, den Sprecher der Gästegruppe, war diese Begegnung „das wichtigste Ereignis unseres Aufenthalts“ und er beschwor seine Zuhörer: „Vergeßt nichts und macht niemals einen Strich drunter!“ Reich an weiteren bedeutenden Ereignissen waren diese zwei Besuchswochen durchaus: eine Fahrt in die Schwäbische Alb zur Burg Hohenzollern, eine Schiffahrt auf dem Neckar mit Besuch der ehemaligen Synagoge Freudental, in Stuttgart im Großen Haus des Staatstheaters Mozarts „Zauberflöte“, als Ehrengäste der CJZ im Kursaal von Bad Cannstatt und mit Oberbürgermeister Rommel ein festliches Abendessen in Stuttgart im Hotel Graf Zeppelin . . .

Aber die eigentliche Wiederbegegnung mit der alten Heimat, mit dem Ort der Kindheit, mag für jeden anders stattgefunden haben, vielleicht bei der allgemeinen Stadtrundfahrt durch das so stark veränderte Stuttgart, beim Besuch der Israelitischen Friedhöfe Hoppenlau, Prag- und Steigfriedhof oder bei der Kranzniederlegung für die Opfer der ersten jüdischen Deportation am Gedenkstein auf dem Killesberg, vielleicht auch in den Gottesdiensten der neuen Stuttgarter Synagoge, deren Kontinuität mit der alten, zerstörten Landesrabbiner Joel Berger aufzeigte.

Das Wiedersehen und das sich Wiedererinnern sind für alle Betroffenen schmerzliche Erfahrungen, Verlust und Trennung sind radikal und endgültig. Und doch mag sich für viele auch auf tröstliche Weise ein Lebenskreis geschlossen haben, der in Stuttgart begann und hier bei dieser Rückkehr mit dem Wunsch „Schalom“ endete. So sagt der israelische Dichter Jehuda Amichai: „Immer wiederkehren. Wer nicht weggegangen ist, kann nicht zurückkehren. Was nicht begonnen wird, kann nicht fertig werden. Leben bedeutet anfangen und vollenden.“


Jahrgang 1 — 1993/94 Seiten 65-66


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