Freiburger Rundbrief Freiburger Rundbrief
    Archiv vor 1986 > 996  

Home
Leseproben

Inhalt Neue Folge
Archiv Neue Folge

Inhalt der Jg. vor 1993
Archiv vor 1986

Gertrud Luckner
Bestellung/Bezahlung
Links
Mitteilungen
 
XML RSS feed
 
 
Display PRINT friendly version
Otto Küster

Das Gesetz der unsicheren Hand

Vortrag über die Pflicht der Deutschen Bundesregierung zur gesetzlichen Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, gehalten in Freiburg i. Br. am 3. Dezember 1953.

Für Forschungszwecke vgl. zum Thema Wiedergutmachung die Archivbeiträge:

Otto Küster und die individuelle Wiedergutmachung: I. Der Fall Küster; II. Stimmen zum Fall Küster; III. Klarheit und Wahrheit. Ein Beitrag von Justizminister Viktor Renner; IV. Statt Wiedergutmachung. Ein Beitrag von Heinz Galinski; V. a) Entschließung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit; V. b) Zur individuellen Wiedergutmachung. Ein Beitrag von Prof. Franz Böhm.

Meine Damen und Herren!

Sie erinnern sich gewiss aus dem Wahlkampf eines Plakats, das die Unterschrift des Kanzlers zeigte, mit zitternder Hand gekritzelt; dem war die zügige Unterschrift des Oppositionsführers gegenübergestellt. Das Plakat hat mit Recht seinen Urhebern geschadet. Es gibt keine solche Unterschrift des Kanzlers. Die Unterschrift Dr. Adenauers ist bis heute klar und fest. Ich zweifle nicht, dass sie so auch unter dem Original des Bundesgesetzes steht, das am 18. September 1953 von ihm ausgefertigt wurde. Aber man fragt seit alters auch beim Text eines Gesetzes, welche Handschrift er zeige. Und dieses Gesetz ist ein Gesetz, das es nur dank dem Willen des Kanzlers gibt. Zeigt es seine Handschrift? Es zeigt sie, wie sie jenes Plakat zeigte: zitternd, als Erzeugnis einer unsicheren Hand.

Bundestag und Bundesrat sind sich durchaus bewusst gewesen, dass sie mit der Verabschiedung dieses Gesetzes etwas im Grunde nicht zu Verantwortendes taten, und dass sie es nur deshalb dennoch taten, weil eine noch höhere Verantwortung ihnen verbot, überhaupt nichts zu tun. Ungewöhnliche Worte haben die Beschlussfassung des Bundestages begleitet. Der Berichterstatter Dr. Weber (CDU) erklärte, der Antrag des Rechtsausschusses stelle etwas „in der Parlamentsgeschichte wohl kaum da Gewesenes“ vor. Gerechtfertigt werden könne das Verfahren allein damit, „dass der erste Bundestag nicht nach Hause gehen dürfe, ohne auf diesem Gebiet überhaupt ein Gesetz geschaffen zu haben“.

Der Mitberichterstatter Dr. Arndt (SPD) motivierte die Zustimmung seiner Fraktion zu dem Gesetz mit der einzigartigen Begründung, das Gesetz sei im „höchsten Maß unzulänglich“, gerade das aber habe jeden Abänderungsversuch verboten, denn jede Abänderung hätte den Eindruck erweckt, als lasse sich hier noch etwas bessern, wo in Wahrheit nichts zu bessern sei. Vielmehr müsse der zweite Bundestag sofort das Gesetz von Grund auf, im ganzen, in allen Einzelheiten neu beraten und neu fassen. Sein Kollege Dr. Greve aber hat in seiner noch schärferen Erklärung zugleich das Ziel des Gesetzes richtiggestellt; der Sprecher der Regierungsparteien hatte nämlich von einer Regelung gesprochen, die den Opfern „materielle Hilfe bringt“; Dr. Greve stellte dem zweiten Bundestag die Aufgabe, den Opfern des Nationalsozialismus „endlich Recht zu verschaffen“. Sie kennen meine Überzeugung, dass es mit der deutschen Wiedergutmachung nicht gut werden kann, solange der Unterschied von geschuldeter Hilfe und geschuldetem Recht nicht wieder erkannt ist.

Welches war das Verfahren, das die Gesetzgeber selbst als so unerhörte Abnormität empfunden haben? Dr. Weber hat darüber die buchstäbliche Wahrheit gesagt, wenn er berichtete, es werde der Regierungsentwurf „ohne Änderung auch nur eines Kommas“ zur Annahme empfohlen. Die Referenten der Bundesregierung, darunter keiner, der je ein Gesetz gemacht hätte, und keiner, der jemals einen solchen Wiedergutmachungsfall behandelt hätte, haben überstürzt einen Entwurf gefertigt, womit sie erst beauftragt wurden, als der Bundesrat seinen Initiativentwurf schon fertig hatte. Sie haben darauf den Entwurf des Bundesrats einer Inflation der Worte und einer Restriktion der Gedanken unterzogen. Sie haben einige Länderreferenten zu ihrer Arbeit gehört, welche ihnen sagten, dass sie außerstande seien, die Neuformulierungen, die ihnen zum großen Teil unnötig und undurchsichtig erschienen, auf der Stelle zu würdigen. Es ist nämlich in der Gesetzgebung so, dass jemand, der die Sache versteht, in 10 Minuten das Richtige formulieren kann, aber 10 Stunden braucht, bis er bewiesen hat, warum der Text eines anderen, der die Sache nicht versteht, fehlgeht.

Die Vorbehalte der Länderreferenten wurden dahin beschieden, dies sei ja nur ein erster roher Entwurf, der bei den Beratungen im Rechtsausschuss des Bundestags, im Bundestagsplenum, in den Ausschüssen des Bundesrats und in diesem selbst noch von Grund auf umgestaltet werde. Aber in Wirklichkeit ist der Entwurf im Rechtsausschuss des Bundestags nur in erster Lesung beraten worden, auch das nur zu einem Teil, auch das nur in fast ständiger Abwesenheit der kompetenten Mitglieder, und vor allem: ohne dass ein einziger Beschluss gefasst worden wäre. Und dann brach man die Beratung, mit der man nicht fertig geworden wäre, ab und beschloss auf Initiative der SPD, es nun einfach bei jenem Rohentwurf der Referenten zu belassen, mit der Klausel: es darf kein Komma geändert werden. Dr. Arndt hat dafür den Grund angegeben, den ich nannte.

Aber der massivste Grund war, dass die Bundesregierung aus der unscheinbarsten Änderung die Befugnis hergeleitet hätte, ihre nach Art. 113 des Grundgesetzes erforderliche Zustimmung zu versagen, und man wusste, wie allein der Kanzler mit dem Wunsch stand, das Gesetz möge Wirklichkeit werden. Da der Bundesrat diesen Erwägungen, viel Unmut niederkämpfend, zuletzt sich anschloss, ist das Gesetz nun da: das aber freilich in einer Gestalt, von der niemand gemeint hatte, so solle es im Gesetzblatt zu lesen stehen als Deutschlands Wiedergutmachungsgesetz.

Ich muss mich dazu bekennen, dass auch ich zu meinem Teil, nämlich in den Ausschüssen des Bundesrats, darauf hingewirkt habe, dass das Gesetz trotz allem angenommen werde. Wenn ich heute Kritik übe, so setze ich mich also mit mir selbst auseinander. Wäre es doch richtiger gewesen, das Gesetz scheitern zu lassen und darauf zu trauen, der zweite Bundestag könne zusammengesetzt sein wie er wolle, ein Wiedergutmachungsgesetz werde er doch auf jeden Fall erlassen, und schlechter als dieses könne es auch im schlimmsten Fall nicht werden?

Ich leugne nicht, dass ich erst in diesen Herbstmonaten bei der vergleichenden Beschäftigung mit den Einzelheiten in vollem Umfang gewahr geworden bin, wie ganz ausnehmend schlecht das Gesetz im Handwerklichen gearbeitet ist. Die Kritik bringt diese beiden Dinge ja verständlicherweise immer wieder durcheinander: das Niveau der vorgesehenen Leistungen, und das Niveau der handwerklichen Arbeit. Im Leistungsniveau hält das Gesetz im großen ganzen den Vergleich mit dem verabschiedeten Bundesratsentwurf aus.

Aber der Mangel an handwerklichem Niveau ist der eigentlich ruinöse. Er bewirkt die Stockung, die Sie schon überall bemerken, er bewirkt die Willkür der Ergebnisse, die empörenden Begründungen, den Dschungel der Scheinprobleme, in denen sich jeder gute Wille festläuft und die die Verwaltungskraft aufzehren, und schließlich die Flucht aller guten Juristen vor einer Sache, in der man keine Arbeit mit dem Gefühl aus der Hand legen kann, hier sei nun nach Menschenkraft doch wieder ein kleines Stück Recht geschaffen. Ich nehme die handwerkliche Minderwertigkeit des Gesetzes, von der ich einige Beispiele werde zu geben haben, viel ernster als die peinlichsten Höchstgrenzen.

Wenn es sich einmal bei den ahnungslosen frontfernen Stäben herumgesprochen haben wird, was für einen Affront gegen die Rechtsidee die 25.000-Grenze bei den Existenzschäden, die 10.000-Grenze bei den Versicherungsschäden, die 40.000-Grenze bei der „Flucht“-Steuer bedeutet, so gehört nicht viel dazu, hinzugehen und flugs zu schreiben: 100.000, 200.000 oder wie weit einen das erwachte Schamgefühl dann eben treibt. Und auch für die ausführenden Behörden ist es eine Kleinigkeit, alsdann entsprechend nachzuzahlen. Aber jenen Dschungel lichtet kein Gott mehr. Haben wir es dennoch in Kauf nehmen dürfen, dass es nun aus 113 Paragraphen unerbittlich heraufzuwuchern beginnt?

Wir müssen prüfen, was das Gesetz dennoch Gutes gebracht hat. Wenn für uns in Süddeutschland das Gesetz im wesentlichen Hemmung und Stockung, Abwehr- und Entwirrungsarbeit bedeutet, so soll mich diese heimische Perspektive doch nicht hindern festzustellen, dass durch das Gesetz territorial und sachlich ein Recht auf Wiedergutmachung weithin erst geschaffen worden ist.

Für alle Länder außerhalb der amerikanischen Zone bringt das Bundesgesetz bei den Hinterbliebenen- und Beschädigtenrenten den eigentlichen Entschädigungsgedanken zum Durchbruch, indem es die bisherige Einheitsrente ersetzt durch Renten, die die wirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigen, in denen der getötete Ernährer bzw. der Körperbeschädigte selbst, bevor ihn die Verfolgung erfasste, gelebt hatte. Das Gesetz hat freilich seinen richtigen Grundgedanken durch eine monströse Form entstellt, die sich auf die unglückselige Vorstellung gründet, es müsste jede Existenz erst einmal in eine Beamtenexistenz umgedacht werden; im Ergebnis sind gerade diese Bestimmungen so ausgefallen, dass sie so, wie sie sind, überhaupt nicht angewendet werden können. Immerhin steht das Programm fest: auch die Renten sollen keine nivellierte Versorgung, sondern echter Schadensersatz sein.

Das Bundesgesetz bringt andererseits wohl überall eine Erhöhung der Mindestrenten. Wir im Süden hätten von uns aus diese Erhöhung wohl nicht vorgenommen. Wir haben geglaubt, auch nach unten einigermaßen dabei bleiben zu sollen, dass die Rente ausgleichen soll, was der getötete Ernährer sonst wirklich geleistet hätte, was der Beschädigte ohne das Verfolgungsleiden wirklich hätte verdienen können. Wir haben nicht geglaubt, dass der Verfolgte darüber hinaus eine Ehrenrente erhalten müsste. Der Einzelne, der nun in den Genuss der höheren Rente kommt, hat das gute Recht, dafür dankbar zu sein. Der Rechtsfreund wird Bonn für den Einbruch des Versorgungs- und Belohnungsdenkens in den ernstesten Abschnitt des Entschädigungsrechts nur gemessenen Dank wissen.

Der Hauptfortschritt, der dem Gesetz verdankt wird, liegt nun aber darin, dass es für die Verfolgtenmassen der Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein erst jetzt einen eigentlichen Entschädigungsanspruch gibt für Existenzschäden, für die erpressten Abgaben (das freilich mit einem großen Aber), und für sonstige Vermögensschäden außerhalb der Rückerstattung. Für Rheinland-Pfalz und künftig vor allem auch für Berlin sind die neuen Höchstgrenzen, so einschneidend sie sind, doch glimpflicher als die des bisherigen Notrechts dieser Länder. Schließlich ist es für alle Länder außer dem unsrigen praktisch eine Errungenschaft des Bundesgesetzes, dass die Existenzschäden wenigstens da, wo Entschädigung in Rentenform verlangt werden darf, von der unglaublichen 25.000-Grenze frei werden, die eine oberflächliche Auslegung in das süddeutsche Gesetz hineingelesen hat, und dass auch die Ausbildungsschäden in die Existenzschäden – wie, fragt man allerdings besser nicht – einbezogen sind.

Für bestimmte Verfolgtengruppen ist erstmals überhaupt eine Wiedergutmachung vorgesehen. An ihrer Spitze stehen die Emigranten aus den nachmaligen Vertreibungsgebieten. Die Unsicherheit der Hand ist hier freilich besonders erschreckend.

Verglichen mit dem süddeutschen Gesetz, hat es das Bundesgesetz ermöglicht, betagten höheren Angestellten, die nicht aus der Sozialversicherung versorgt werden, besser als bisher gerecht zu werden. Diese Unversorgten, die schlechtest Weggekommenen der Währungsreform, einige stille Männer der Presse darunter, die rechtzeitig, nämlich 1932, Widerstand leisteten, sie konnten nach dem Wortlaut des süddeutschen Entschädigungsrechts für die Zeit nach dem 65. Lebensjahr nicht geltend machen, sie seien mit 65 noch nicht arbeitsunfähig gewesen und wären bei ungebrochenem Lebensgang von ihrem Arbeitgeber angesichts ihrer erbärmlichen Lage genau so weiterbeschäftigt worden, wie ihre nicht verfolgten, in ihren Stellungen verbliebenen Kollegen auch.

Wir konnten bisher nur abhelfen, wenn wir unterstellten, diese nirgends mehr Angestellten und nirgends Versorgten seien nun eben selbständige Erwerbspersonen geworden, wie die Statistik ja auch den „erwerbslosen Selbständigen“ kennt. Wir danken es dem Bundesgesetz, dass es anerkannt hat, ein arbeitsfähiger Angestellter könne ohne die Verfolgung bis zum 70. Jahr gearbeitet haben und er könne daher für den Ausfall des Arbeitsverdienstes bis zu diesem Zeitpunkt entschädigt werden. Wie unser Landesrecht bei den Selbständigen getan hat und bei diesen Zwangsselbständigen zu tun im Begriff war, hat das Bundesgesetz dann auch die Umwandlung der bis zum 70. Jahr befristeten Entschädigung in eine lebenslängliche Rente vorgesehen.

Außerdem ist in Süddeutschland der Entschädigungsanspruch aller Arbeiter und Angestellten zu einem Direktanspruch gegen den Staat geworden. Der Staat haftet nicht mehr nur dann, wenn der private Arbeitgeber nicht haftet. Freilich ist der Anspruch gegen den Staat begrenzt, und von unserem bisherigen unbegrenzten Anspruch gegen den Arbeitgeber schweigt nun das Gesetz. In seinen Verfahrensvorschriften hat das Gesetz zwei alte Ziele der Länderbemühungen verwirklicht: es hat nun wirklich jeder Verfolgte, der die Bundesrepublik überhaupt etwas angeht, ein Land, das für ihn zuständig ist; und es ist eine einheitliche oberste Rechtsprechung in Wiedergutmachungssachen ermöglicht worden, indem der Bundesgerichtshof zum obersten deutschen Wiedergutmachungsgericht bestimmt wurde.

Eine Hauptbedingung jeder konsequenten Wiedergutmachungspraxis: dass die Verantwortung nicht zwischen einem Minister und unabhängigen Ausschüssen oder zwischen ihm und einem anderen Minister gespalten sein dürfe, sondern dass in jedem Land ein Politiker die volle Weisungsbefugnis und damit die alleinige Verantwortung, gegenüber dem Steuerzahler wie gegenüber den Verfolgten, habe: diese Hauptbedingung hat das Gesetz in dem rühmlichen § 88 Abs. 2 erfüllt. Schließlich haben die soziale Sondereinrichtung unseres Landes, die öffentlichen Anwälte, diese Lotsen durch den Dschungel, ehrende Erwähnung gefunden, die vielleicht zur Nachahmung reizt.

Soviel, was Dank verdient. Reicht es aus, die Entschlüsse der Gesetzgeber vom 2. und 17. Juli zu rechtfertigen? Was steht an Verkehrtem, an Verhängnisvollem gegenüber?

Ich will heute kurz abmachen, was am Leistungsniveau auszusetzen ist. Es braucht heute nicht mehr betont zu werden, dass das Gesetz Ansprüche an Dutzenden von Stellen versagt, einschränkt oder beschneidet in einer Weise, die die berechtigten Erwartungen der Verfolgten enttäuscht, die Haager Versprechungen verleugnet, das angebliche süddeutsche Modellgesetz ignoriert, und, was das wichtigste ist, unser eigenes Rechtsgewissen beschämt. Das alles tut es, obschon der Leiter des Bundesfinanzministeriums und sein Stellvertreter dem Bundesrat erklärt haben, dessen eigener Entwurf könne deshalb nicht akzeptiert werden, weil er, vielfach frei gestaltet, dem Haager Abkommen und dem süddeutschen Gesetz in einer Reihe wesentlicher Bestimmungen nicht entspreche.

Ich will die Hauptpunkte, in denen das Gesetz nach der Leistungsseite das Versprochene und Behauptete nicht wahr macht, summarisch aufzählen:

1. Der Verfolgte hat keinen Anspruch, wenn er nicht beweist, dass persönlich gegen ihn eine amtlich gebilligte Maßnahme gerichtet wurde. Er erhält also z. B. nichts, wenn er von sich aus seine Existenz aufgab und das Land verließ, in dem man seinesgleichen ruinierte, entehrte und zum Tod bestimmt hatte.

2. Die Hinterbliebenen jener Tausende von Verfolgten, die ihrem Leben selbst ein Ende machten, erhalten nichts ohne den Beweis, dass das amtlich gebilligt worden war. Es ist ausdrücklich gesagt, dass die amtliche Billigung auch bei Juden nicht vermutet werde. Die amtliche Billigung wird selbst dann nicht vermutet, wenn der Jude zur nächsten Deportation heranstand. Nur wenn er sich während der Deportation entleibte, darf amtliche Billigung vermutet werden.

3. Wer im privaten Dienst stand, erhält nichts, wenn ihn sein verhetzter Arbeitgeber ohne spezielle amtliche Nachhilfe entließ. Er erhält nichts, wenn der Arbeitgeber im Zuge der Verfolgung wegfiel und der Arbeitnehmer wegen seiner Tätigkeit für den Arbeitgeber nun nirgends mehr ankam. Er erhält nichts, wenn der Verband, bei dem er arbeitete, überführt wurde und er im Gegensatz zur übrigen Belegschaft als Sozialist, Jude oder praktizierender Christ von der Übernahme ausgeschlossen blieb. Er erhält schließlich auch dann nichts, wenn er in der Krise arbeitslos geworden war und dann ausgeschlossen blieb von der Neuvermittlung in Arbeit.

4. Wer mit der Entlassung aus einem privaten Dienstverhältnis auch die betriebliche Altersversorgung verloren hat, bekommt nach dem süddeutschen Modellgesetz selbstverständlich auch dafür eine Entschädigung. Sie hat nichts zu tun mit dem Verdienstausfall in den Jahren der Arbeitslosigkeit. Das Bundesgesetz ignoriert den Versorgungsschaden.

5. Andere Verfolgte haben ihre Altersversorgung verloren, weil die Versorgungskasse zerschlagen wurde, in die sie eingezahlt hatten. Das gilt namentlich für die in der Arbeiterbewegung tätigen Personen. Obschon mehrere Länder für diesen handgreiflich wichtigen Verfolgungstatbestand besondere Gesetze geschaffen hatten, hat das Bundesgesetz die Geschädigten auf Gewährungen aus dem Härtefonds verwiesen.

6. Wieder andere Verfolgte hatten für Frau und Kind durch eine Lebensversicherung Vorsorge getroffen. Aber Frau und Kind, die nicht selbst verfolgt wurden, erhalten nach dem Bundesgesetz nichts, und zwar bewusst, wie man uns versichert. Dass das süddeutsche Modellgesetz hier bewusst jeden Berechtigten, nicht nur den Verfolgten, entschädigt, störte das bewusste Bewusstsein nicht, so wenig ihm die Erwägung kam, dass doch auch Frau und Kind des verfolgten Beamten entschädigt werden, ob man sie nun selbst verfolgt hat oder nicht. (Aber sein Dogma, dass der Beamte das Maß aller Dinge sei, verlässt unser Gesetzgeber ausnahmslos, sobald es sich um Versorgung handelt.)

7. Die verfolgten Beamten erhalten ab 1.4.1951 volle Entschädigung, für die Zeit bis dahin höchstens 25.000. Das bleibt zwar hinter dem süddeutschen Gesetz zurück, denn dort gilt der Höchstbetrag nur für den Schaden vor dem 1.6.1945. Es ist aber immer noch erträglich. Dagegen ist für alle Nichtbeamten der Betrag von 25.000 das endgültige Maß der Entschädigung. Auch wer also in der Blüte der Jahre eine glänzende Existenz verlor und seitdem entwurzelt im fremden Land vegetiert, wird lebenslänglich abgespeist mit einem Betrag, den ein höherer Ministerialbeamter an Bezügen und Versorgungsrücklage in einem Jahr verdient.

Das süddeutsche Gesetz, das keinen Unterschied zwischen Beamten und Nichtbeamten machen wollte, ist hier verkannt worden, wobei freilich die oberflächliche Interpretation ohne die Blickeinengung des deutschen Durchschnittsbeamten auf die eigene Existenzform gar nicht möglich gewesen wäre. – Die Gerechtigkeit gebietet, dem sofort hinzuzusetzen, dass das Gesetz ein Wahlrecht auf eine Rente einräumt, die an die Höchstgrenze nicht gebunden ist. Sie ist das Schmuckstück des Gesetzes. Aber es bleibt eine beträchtliche Zahl von Fällen, in denen sie nicht hilft.

8. Weithin in Verruf gebracht hat sich das Gesetz bereits durch die praktische Ausschließung der Sonderabgabenerstattung, also durch die einstweilige Nichtwiedergutmachung jener grausigen Erpressung, die im November 1938 die ganze Welt alarmiert hat. Ich wage nicht, den Motivknäuel von Dogmatismus und Fiskalismus aufzudröseln, dem der § 21 des Gesetzes entstammt.

Das Ergebnis ist jedenfalls, dass nun in großen Teilen Deutschlands nur derjenige die Raubgaben erstattet erhält, der sie bar aus der Tasche bezahlt hat. In einem noch größeren Teil Deutschlands soll sie jedenfalls derjenige nicht zurückerhalten, dem man damals nicht nur die Geldsumme als solche, sondern überdies noch zu ihrer Bezahlung die Ablieferung von Wertpapieren oder Wertsachen auferlegt hat. Das Schicksal schließlich, das die Fahrlässigkeit des Gesetzgebers demjenigen bereitet hat, der die Abgabe aus dem Erlös privatverkauften Besitzes beglich, muss ich heute unenthüllt lassen.

9. Und nun beschert der Gesetzgeber nehmender Weise dem Verfolgten noch eine kleine Neckerei von der Art, wie sie schon der Gauleiter liebte: Entgegen dem Entwurf des Bundesrats werden die Existenzentschädigungen ab 1933 nicht nur zur Einkommensteuer, sondern auch zum Notopfer Berlin herangezogen werden.

Nur 1 Prozent, ist der Jude kleinlich? Gewiss, kein Gauleiter und kein SS-Führer hat dieses Prozent heute von seinen Einkünften aus den Jahren 1933–45 nachzuentrichten. Aber der Verfolgte wird verstehen, dass ihm zukommt, aus seinem 1954 oder 1960 zinslos und beschnitten nachbezahlten Lohn aus jenen Jahren für Berlin, woher ihm damals all das Denkwürdige kam, noch ein letztes Opfer zu bringen. „Opfer sind unvermeidlich“, pflegte der Gauleiter solchenfalls zu sagen; und so wollen wir getrost das Verfolgten-Sonderopfer Berlin 1933–45 als Abzugsposten in unsre Bescheide aufnehmen.

Ich komme zur Würdigung der handwerklichen Seite. Zu ihr rechne ich auch jenes Mindestmaß an Klarheit in den Prinzipien, ohne das auch der praktische Gesetzgeber ein solches Vorhaben nicht beginnen sollte.

In der Rede, die ich am 9.6.1953 in Frankfurt gehalten habe, bin ich der Prinzipienfrage genauer nachgegangen. Ich habe erinnert an die beiden schon von Aristoteles unterschiedenen Erscheinungsformen der Gerechtigkeit, die wiederherstellende und die austeilende, und habe darauf hingewiesen, dass unsere Energie, unsere Treue zur schlichten herstellenden Gerechtigkeit matt geworden sei, dass aber dafür unsere Gesetzgebung Exzesse der austeilenden, ausschüttenden Gerechtigkeit feire.

Wo es sich, wie bei den Verfolgungstaten des Hitlerregimes, um elementares Un-recht handle, dürfe nicht die (sich freilich großartiger anfühlende) Gerechtigkeit des Ausschüttens walten, sondern die andere, die sich strikt an das Geschehene hält, um das umgestürzte und niedergetretene Recht so sorgsam und genau als möglich wieder aufzurichten. Soweit der erlittene Schaden in Frage steht, heißt das: der Gesetzgeber hat anzuordnen, dass Schadensersatz geleistet werde, wie dies in der ganzen Tiefe der Rechtsgeschichte und in der ganzen Breite des sonst in und außerhalb Deutschlands geltenden Rechts die selbstverständliche Folge jeden verübten Unrechts ist.

Da das Unrecht in unser aller Namen begangen wurde, sind wir als Gesamtheit zum Schadensersatz verpflichtet. Wer aber zum Schadensersatz verpflichtet ist, sagt das Bürgerliche Gesetzbuch im Chor aller Rechtsordnungen, hat den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand nicht eingetreten wäre. War der zum Ersatz verpflichtende Umstand die Nichtbeachtung eines Verkehrssignals und was daraus folgte, so zweifelt niemand, dass und wie die Herstellung des gerechten Zustands zu bewerkstelligen ist. War jener Umstand aber die amtliche Verwandlung eines Landes in eine Mordhöhle, dann setzt das Rechtsempfinden aus, und ein paar Juristen beginnen zu knobeln, was man in solchem Fall wohl den Übriggebliebenen im Hinblick auf andere, die auch etwas wollen, „gewähren“ könnte.

Hier, in dem ahnungslosen Leichtsinn, mit dem man hier an todernste Dinge herangeht, an die Elemente der Grundordnung, aus der ein Volk gelebt hat und weiß Gott noch weiter leben möchte, hier liegt der eigentliche Frevel, hier beginnt einem mitten im Spott, mitten in der Groteske zu grauen, und man ermisst, wohin dieses unser Volk, das noch ein großer zorniger Jurist aus der Generation unserer Großeltern zu den eigentlichen Rechtsvölkern zählte, seitdem gekommen ist.

Aber ich will den Vorhang zum Grundsätzlichen hinüber für heute wieder zuziehen und Sie auf die Frankfurter Rede verweisen. Für heute will ich nur ein paar Proben von der Machart des Gesetzes im kleinen geben.

1. Als misstönender Tusch vorweg: § 1 Abs. 1 bestimmt über den Schadensersatz bei Mord: „Anspruch auf Entschädigung nach diesem Gesetz hat, wer ... verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben ... erlitten hat.“ Den Anspruch hat also die Leiche. Vom abscheulichen Deutsch und der Überflüssigkeit des Satzes ganz abgesehen: mit diesem unwürdigen Schnitzer also beginnt das Gesetz, das die Rechtsantwort des deutschen Volkes auf die Morde sein will, als deren Dulder es nun in der Geschichte steht.

2. Derselbe erste Satz des Gesetzes stellt das Grunderfordernis auf, es müsse jemand verfolgt sein wegen seiner politischen Überzeugung. Der Bundesratsentwurf, und alle Welt mit ihm, hatte die Referenten darauf hingewiesen, es müsse heißen: wegen einer politischen Überzeugung. Denn oft hat ja die politische Überzeugung eines Familienmitglieds die Angehörigen mit in die Verfolgung hineingerissen. Den Fall der Sippenhaft kennt jedes Schulkind. Es ist sachwidrig und peinlich, in diesen Fällen zu untersuchen, ob auch der Verhaftete, Misshandelte, Boykottierte usw. selbst die fragliche Überzeugung hatte, und gegebenenfalls dies und damit den Wiedergutmachungsanspruch zu verneinen. Aber eigensinnig beharrte man darauf, der Fehler des süddeutschen Gesetzes müsse bleiben. Nicht einmal der Härteparagraph nennt die Mitgetroffenen.

3. Der 2. Absatz des § 1 ist so zustande gekommen, dass man in der Fassung des Bundesrats herummalte wie ein Kind, das eine Zeichnung erwischt hat. Der Bundesrat hatte gesagt:

Als politisch gilt auch eine Überzeugung, die ihren Träger bestimmte, sich unter Gefährdung seiner Person gegen sinnlose Opfer oder gegen die Ächtung des Feindes einzusetzen.

Jetzt heißt es:

Der Verfolgung wegen politischer Überzeugung wird gleichgestellt eine Verfolgung, die darauf beruhte, dass der Verfolgte auf Grund eigener Gewissensentscheidung sich unter Gefährdung seiner Person aktiv gegen die Missachtung der Menschenwürde oder gegen die sittlich, auch durch den Krieg nicht gerechtfertigte Vernichtung von Menschenleben eingesetzt hat.

In jedem Punkt, in dem von der Vorlage abgewichen wurde, kann der zusätzliche Wortaufwand nur in der Richtung wirken, dass ängstliche Behörden unsachliche Abweisungsgründe daraus entwickeln. Es wird etwa heißen, der Verfolgte habe zwar aktiv sein Leben eingesetzt, aber nur, weil sein Vorgesetzter oder sonst eine Respektsperson auf ihn eingewirkt habe; also möge zwar eine „Gewissensentscheidung“ vorliegen, keinesfalls sei es aber eine „eigene“ Gewissensentscheidung gewesen.

Oder: er habe als Offizier zwar verhindert, dass die ihm anvertrauten Mannschaften nutzlos geopfert wurden in einer Lage, in der etwa Blücher bei Ratkau seine berühmte Kapitulation erklärte; aber das Gesetz verlange, dass der Verfolgte sich gegen eine „Vernichtung von Menschenleben“ eingesetzt habe, und es gehe nicht an, den – sei es auch militärisch sinnlosen – Befehl zum Ausharren bis zum letzten Mann als „Vernichtung von Menschenleben“ zu bezeichnen, worunter vielmehr nur Erschießen, Vergasen und Tötung mit der Spritze zu verstehen sei.

Oder: der Vorgesetzte oder der Vater habe von dem Einsatz seines Untergebenen oder seines Sohnes zwar gewusst und durch seine stillschweigende Duldung zu der betreffenden Aktion ermutigt und sie ermöglicht; er sei auch dafür hingerichtet worden: aber es fehle an dem gesetzlichen Erfordernis, dass er sich „aktiv“ eingesetzt habe. Dem Rechtsausschuss des Bundestags ist zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt dieses Beispiel für die Feinstruktur des Regierungsentwurfs vorexerziert worden; half aber nichts.

4. Zu den Elementarkenntnissen eines Gesetzgebers gehört es, zu wissen, in welchen Fällen er „Wenn“ sagen muss und in welchen „Soweit“. Sagt er „Wenn“, so bedeutet das für die Rechtsfolge ein schneidendes Entweder-Oder: Wenn ja, wird das Ganze, wenn nein, wird nichts geleistet. Will er dies Entweder-Oder nicht, sondern will er nur eine Maßrelation, so darf er nicht „Wenn“ sagen, sondern muss sagen: „Soweit“: Soweit dann die Voraussetzung zutrifft, soweit mir z. B. die Mittel zum Unterhalt fehlen, bekomme ich etwas; soweit ich die Mittel selbst habe, bekomme ich nichts.

Ich bin gewiss, dass jeder von Ihnen sich zutraut, mit dem Gebrauch dieser beiden Wörtchen zurechtzukommen. Aber durch unser Gesetz zieht sich als eine konstitutionelle Schwäche die Verwechslung von Wenn und Soweit, von Alternative und Maßrelation. Und Sie ahnen wohl, dass das wieder in einem organischen Zusammenhang steht mit jener Grundanmaßung, man habe hier nicht nach dem Maß des erlittenen Schadens den Besitzstand eines Rechtsgenossen, und damit das Recht selbst wiederherzustellen, sondern man habe ein Stück Volksvermögen nach eigenen Einfällen auszuschütten. Wer den Beutel fängt, behält ihn. Dem entspricht die Fröhlichkeit, mit der es auf und ab in unserem Gesetz heißt: Wenn dies und das, dann Geld oft ziemlich viel Geld; wenn dies und das nicht, dann nichts.

So gibt § 70 Abs. 1 dem Emigranten aus Königsberg im Normalfall eine Existenzentschädigung von ausgesuchter Kläglichkeit. Ihre Höchstgrenze ist mit DM 9.750 aufs feinste errechnet. Die DM 9.750 sind nicht etwa für das Jahr, sondern für die ganze restliche Lebenszeit gedacht, Hinterbliebene eingeschlossen. Aber es ist eine große Lotteriechance dabei, eins jener absoluten  Wenns. Wenn er nämlich 65 Jahre alt ist – in welchem Zeitpunkt, hat uns der Gesetzgeber nicht verraten – und wenn das, was er noch hat, zum Unterhalt nicht ausreicht, dann vergoldet seinen Lebensabend jene Rente, deren Höchstbetrag schon im siebten Monat jene DM 9.750 überschreitet, die lebenslänglich läuft und die sich in eine Witwenrente fortsetzt.

Gesetzt also, er habe, wenn er alles aufzehrt, was er muss, noch DM 250 im Monat zu verzehren, und das zuständige Amt findet, der richtige Unterhalt des Mannes sei mit DM 250 zu bestreiten: so erhält er im Höchstfall jene DM 9.750 für sein ganzes Leben. Kommt aber dem Anwalt des Mannes in der Berufungsinstanz noch der Einfall, dass DM 2 Rundfunkgebühren beim Unterhalt vergessen seien, so muss ihm und seiner Frau die Rente zugesprochen werden, deren Kapitalwert DM 50.000 oder 60.000 betragen kann. Es wird dann nicht einmal etwas angerechnet, es ist ein striktes Entweder-Oder-Ergebnis ausschüttender Gerechtigkeit.

Das deplacierte Entweder-Oder hat schon in dem eben Ausgeführten noch eine zweite Seite gezeigt: es bedeutet, wo das „Wenn“ sich nicht exakt fassen lässt, die bare Willkür. Ob ein alter Königsberger Anwalt in der amerikanischen Provinz den Gegenwert von DM 250 oder von 260 zum Unterhalt braucht, kann im Ernst natürlich kein deutscher Beamter beurteilen.

Es kommt aber sogleich noch ein zweites Willkürelement hinzu. Unser Verfolgter muss aufbrauchen, was man ihm für Fluchtsteuer und Sonderabgaben erstattet. „Aufbrauchen“, dazu muss also taxiert werden, wie lang er noch leben wird.

Welche Möglichkeit, ihm vorzurechnen, er irre, wenn er sich noch 5 Jahre gebe, amtlich könnten ihm nur noch 3 gegeben werden, und auf 3 Jahre verteilt reiche jenes Kapital sehr wohl! Was dann wird, wenn er wie Werfels Kleinbürger den Wettkampf mit dem Tabellentod aufnimmt und nach Jahr und Tag wiederkommt, nun habe er doch überlebt und es habe also nicht gereicht, und also bekomme er doch von Anfang an und bis ans Ende der Tage seiner Witwe die goldene Rente – ersparen wir’s uns, das auch noch auszudenken.

Glauben Sie aber nicht, der Verfolgte müsse aus Königsberg sein, damit er sich dem Wenn, und der Willkür dieses Wenn, ausgesetzt sieht. Bei der Existenzschadensrente der Angestellten, an sich ja eine Errungenschaft, findet sich ganz allgemein ein mindestens ebenso verfängliches Wenn. Wenn ich nämlich drei Monate nach Zustellung des Bescheids 65 Jahre alt werde, dann erhalte ich die Rente im Kapitalwert von gegebenenfalls DM 50.000.

Wenn man mir dagegen den Bescheid vier Monate vor dem 65. Geburtstag zustellt, dann habe ich mich mit der Abfindung zu begnügen, die den 5. Teil davon ausmachen mag und die mehr als DM 25.000 überhaupt nicht ausmachen kann. Hier liegt es also einfach in der Hand des Amtes, das Wenn herbeizuführen, von dem Segen oder Dürre abhängt.

Ich kenne einen führenden Wiedergutmachungsjuristen, einen netten Menschen, aber er rieb sich die Hände, sobald er wieder einmal einen Anspruch „abgeschmettert“ hatte, das war sein Ausdruck. Denke ich zugleich an ihn und an den § 36, so kann ich die Vision einer Dienstanweisung nicht verscheuchen, es seien die Akten der 64-jährigen vormaligen Angestellten mit Vorrang zu bearbeiten, damit durch rechtzeitige Zustellung des Bescheids das Entstehen des Rechts, eine Rente zu wählen, vermieden werde. Beamte, die es fahrlässig zum Entstehen des Rechtes kommen ließen, hätten damit zu rechnen ...; nun, ich darf abbrechen.

Und nun noch ein letztes absolutes Wenn, aus dem Abschnitt Ausbildungsschäden. Der Abschnitt bezeichnet eines der düstersten Kapitel in der deutschen Wiedergutmachungsgeschichte. Jeder Amtsrichter muss und kann schätzen, welches wirtschaftliche Fortkommen ein Zwölfjähriger später gehabt haben würde, hätte ihm nicht ein leichtsinniger Kraftfahrer das Bein abgefahren. Aber bis zur Stunde finden zwei oder drei maßgebende Juristen Glauben mit der Behauptung, was ein Verfolgter, der 1933 das Studium aufgeben musste und es dann 1949 erfolgreich beschloss, in der Zwischenzeit als Jurist mehr verdient hätte denn als Lagerarbeiter, das abzuschätzen gehe über Menschenkraft.

So hat man also, entgegen dem Haager Versprechen und entgegen der in § 52 kühnlich aufgestellten Behauptung, die Ausbildungsschäden nicht als Existenzschäden behandelt, sondern hat auf die ausschüttende Gerechtigkeit umgeschaltet. Man leistet nicht Schadensersatz, sondern man „bewilligt“ eine „Beihilfe“. Und dieser Schaltung aufs Bewilligen entspricht das letzte Entweder-Oder, das ich Ihnen vorführen will.

Ich darf Sie zu diesem Zweck bekannt machen mit den beiden Medizinstudentinnen Lea und Rahel. Sie haben 1935 das Studium abbrechen müssen. Beide haben sich in der Folge in untergeordneten Berufen durchgeschlagen.

Lea hat im Sommer 1948 das Studium wieder aufgenommen, Rahel wollte es im Winter tun. Aber im Herbst haben sie beide geheiratet. 1954 erhalten sie ihre Bescheide. Lea wird lesen, sie habe beim Inkrafttreten des Gesetzes ihre Ausbildung teilweise nachgeholt gehabt. Sie erhalte daher gemäß § 54 den Zuschuss für das Sommer-Semester 1948, RM in DM umgerechnet, tut 200 Mark.

Rahel hingegen wird lesen, sie habe die Ausbildung nicht nachgeholt, somit gelte § 55, tut 5000 Mark. Sie schütteln den Kopf? Aber wenn sich der Gesetzgeber einmal von der herstellenden Gerechtigkeit dispensiert hat, darf ihm vor seiner Gottähnlichkeit nicht mehr bange werden. Rahel war angenehm, Lea war nicht angenehm.

Was sollen wir tun? Verehrte Anwesende, ich weiß heute noch keinen Rat zu geben. In diesem unserem Deutschland ist das Selbstverständliche nicht im geringsten selbstverständlich. Selbstverständlich wäre, sofort an die Arbeit der Gesetzesänderung zu gehen. Aber die Bundesregierung, ganz abgesehen davon, dass sie niemand hat, der die Arbeit leisten könnte, hat sich festgelegt darauf, dass jede Mehrausgabe unterbleibe. Das würde zwar die Initiative der gesetzgebenden Häuser noch nicht hindern, wenn es sie auch angesichts des Finanzvetos der Regierung sehr erschwert. Aber nun sind im Bundesrat von den Männern, die sich noch vor 2 Monaten zu einer solchen Arbeit verbunden hatten, drei seitdem ausgeschieden. Im Bundestag ist zwar das Frankfurter Mandat am 6. September auf Professor Franz Böhm übergegangen, der an Wollen und Sachkunde geradezu ein Symbol ist.

Aber für ein interfraktionelles Initiativgesetz fehlen alle taktischen Voraussetzungen. Ich sehe also noch nicht, wie wir zu der Novelle kommen sollen. Und man muss froh daran sein, dass es Ende Juli, entgegen den kurz denkenden Wünschen der wohlwollenden Länder, mit Hilfe der weniger wohlwollenden noch gelungen ist, in das Gesetz eine Art Unterpfand dafür einzubauen, dass eine Novelle wenigstens in einem Punkt nicht umgangen werden kann: jene Umformung des § 77, die der Bundesrat im Vermittlungsausschuss erwirkt hat und die die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern zu einem befristeten Provisorium herabgemindert hat, sodass bis Ende 1954 ein neues Gesetz jedenfalls für diese eine Frage, ob man will oder nicht, ergehen muss.

Eines allerdings können und sollen wir auf der Stelle tun, einen Entschluss sogleich in dieser Stunde fassen: dass wir alle, wie wir da sind, Richter und Verwaltungsleute, Publizisten, Organisationsvertreter, Anwälte, diesem Gesetz keine andere Achtung entgegenbringen, als die es nach Inhalt und Entstehung verdient, und dass wir wenigstens in diesem extremen Fall der Rechtsidee mehr gehorchen werden als dem Menschenwerk. Mit der kleinen Chirurgie wird man das Gesetz nicht lebensfähig machen können. Aber es gibt ja Gründe genug, um zur großen zu greifen.

Das Gesetz will einem völkerrechtlichen Vertrag genügen; es will hinter einem vorhandenen, dem süddeutschen Gesetz nicht zurückbleiben; das Grundgesetz gebietet völkerrechtliche Verträge zu achten; das Grundgesetz gebietet, erworbene Rechte zu achten; auch die Gesetze sind, hat uns der Bundesgerichtshof gelehrt, so auszulegen, dass der wirkliche Wille erforscht und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks gehaftet wird; und schließlich glauben wir wohl alle, dass eine so einmalige Entstehungsgeschichte auch schon für sich allein eine sonst nicht übliche Art der Auslegung fordert.

Wie ich eben erst hörte, gibt es auch etliche aus des Kaisers Hause, will sagen aus den zuständigen Bundesministerien, die sich zu diesem Glauben halten, zu einer operativen, heilenden Auslegung ermutigen. Also wollen wir getrost resezieren und transplantieren, wollen namentlich auch das Blut erneuern, aber auch vor ganzen künstlichen Gliedmaßen dürfen wir nicht zurückschrecken.

Für eine Zwischenzeit können Urteile wie das unseres Verwaltungsgerichtshofes ein Vorbild bieten, das er erließ, als das Gesetz zu Art. 131 allzu lange ausblieb: zögere der Gesetzgeber noch wesentlich länger, so werde er, der Gerichtshof, selbst Recht schaffen, und der Kläger könne dann, ungehindert durch die Rechtskraft der jetzigen Abweisung, wiederkommen. Auch der Frankfurter Wiedergutmachungssenat hat sich schon ähnlich vernehmen lassen. Ohne solche Richter sind wir mit diesem Gesetz verloren.

Die Gerichte unseres eigenen Landes werden uns darin sicherlich nicht enttäuschen. Hat sich doch jedes der 4 bisherigen Oberlandesgerichte einen rechtsschöpferischen Ehrentitel erworben: Karlsruhe mit der Lösung des vertrackten Problems, das die Arisierungserlöse stellen (seine Lösung hat der Bundesrat akzeptiert), Stuttgart mit der Anerkennung der Ausbildungsschäden, Tübingen mit der Erkenntnis, dass sich zwar nicht der Widerstandskämpfer, wohl aber das Opfer des Rassewahns eine Prüfung auf sittliches Gefestigtsein verbitten darf, und schließlich hier das Freiburger Obergericht mit der Feststellung, wenn ein Regierender Gangster ausschickt, den Volksgenossen Schmidt umzulegen, dass es dann dasselbe Unrecht ist, ob der Umgelegte Schmidt war oder versehentlich Schmidt nur hieß. Auch das Beharren auf dieser Binsenwahrheit war nämlich, meine Damen und Herren, beim Stand unserer Gesetzgebung rechtsschöpferisch – und blieb es, denn die Hinterbliebenen dessen, der Schmidt nur hieß, werden auch vom Bundesgesetz auf Darreichungen aus dem Härtefonds verwiesen.

Aber ich will das Gesetz nicht noch einmal aufschlagen. Dagegen möchte ich Ihre Geduld noch für einen Epilog erbitten, einen Punkt betreffend, über den ich gern die Meinung ernstgesinnter Mitbürger erführe.

In den letzten Wochen hat mein Ministerium der Fall eines jungen Juden aus dem bis 1918 deutschen Oberschlesien beschäftigt. Der Vater war im ersten Weltkrieg deutscher Soldat gewesen und betrieb mit seinen Söhnen eine Schreinerwerkstatt. Als 1939 „die Deutschen kamen“ – so nennen das ja ganz unbefangen alle unsere Gerichte, als handle es sich um irgendwelche Völker schaft –, riet man dem Vater, ins innere Polen zu fliehen.

Der Vater vertraute zwar nicht auf den Widerstand der polnischen Panzer; aber trotzdem lehnte er ab: er habe von 1914/18 das Eiserne Kreuz. Zwei Stunden, nachdem die Truppe das Städtchen durchschritten hatte, kamen die anderen Deutschen. Er trat ihnen mit der Auszeichnung entgegen. Er und alle Angehörigen bis auf zwei Söhne endeten in der Endlösung.

Einer der beiden, mit ihm hatten wir zu tun, erschien mit seinen 15 Jahren für das Forschungsvorhaben geeignet, das zu klären hatte, wie junge Juden zwar von der Fortpflanzung aus-, aber in die Arbeit eingeschaltet bleiben könnten. Er wurde der örtlichen Zerstörung durch Bestrahlung unterzogen. Sogleich danach wurde er in Laufschritt und wieder an die Arbeit gesetzt. Denn es war ja eine Methode zu erproben, die unbemerkt während der Arbeit und ohne Störung derselben Anwendung finden konnte.

Nach 4 Wochen holte man ihn wieder und schnitt ihm das Vorbehandelte heraus. Der Operateur zeigte es ihm vor: das gehörte dir, aber jetzt gehört es uns. Das war ganz sachlich gemeint: Die Hoden des Juden wurden Eigentum der deutschen Forschung, zum Nachweis der Zerstörungswirkung gewisser Strahlen auf menschliche Keimdrüsen. Die Begleitworte wissen wir zwar nur aus dem Zeugnis des Mannes selbst; aber das erfindet ja keine Phantasie, so etwas gibt es nur in Wirklichkeit.

Ich wähle den Fall aus zwei Gründen. Einmal wegen seiner Behandlung in Bonn. Nachdem wir in Stuttgart unsere Verantwortungsfreude angespannt hatten, dem Mann trotz unzulänglichen Gesetzes die Anschaffung einer Schreinereimaschine zu ermöglichen, damit er durch seine Arbeit von seinen Erinnerungen etwas loskomme, kam der Fall auch nach Bonn ins Finanzministerium. Dort bewilligte man in rühmlichem Entsetzen sofort, ohne jedes Gesetz, ohne die Stuttgarter Leistung anzurechnen, das 2½-fache dessen, was wir unsrer Gesetzeslage hatten abringen können.

Der Fall zeigt, dass auch in Bonn, sobald ein Fall wirklich vor einen tritt, plötzliche Beschämung den ganzen Dunst zerreißt und dass dann abgewandten Gesichts Leistungen gewährt werden, an die wir angeblichen Fanatiker der Wiedergutmachung nicht im Traum gedacht haben. Ich vertraue zuversichtlich auf diese Scham; kommt Zeit, kommt Scham; das Bitterböse ist nur, dass wir diese Zeit nicht haben.

Aber mir geht der Fall noch in anderer Hinsicht nach. Für die Wiedergutmachung hat es Bonn, wie Sie wissen, bis zum Defekt an Arbeitskräften gefehlt. Für etwas anderes dagegen hat man viele prächtige Kräfte mobilisieren können, und ihr Fleiß hat die Biene beschämt.

Auf den beiden ersten Seiten des Bulletins der Bundesregierung vom 22. Oktober hat der von ihr gebildete Ausschuss zur Regelung der Frage der Kriegsauszeichnungen sein Gutachten über die künftige Trageweise der Hitlerorden vorgelegt. Wer seinem Volk in der Wiedergutmachungsarbeit zu dienen versucht und dabei fast ohne Hilfe bleibt, und wer dann dieses Produkt deutschen Ernstes, deutschen Eifers und deutschen Fleißes liest, der macht sich von seinen wilden Empfindungen schwer wieder los.

Es bleibt also unwahrscheinlich, dass wir zu Lebzeiten der Verfolgten ein Wiedergutmachungsgesetz haben werden, das dem elementaren Recht Genüge tut. Aber es ist so gut wie gewiss, dass schon bald wieder eine deutsche Soldatenbrust ein Panzervernichtungsabzeichen schmücken wird, verliehen für die – sicherlich mutvolle – Vernichtung des letzten Hindernisses, das zwischen einem Städtchen im Osten und dem Grauen stand, das dem Fuß der deutschen Soldaten folgte.

Meine Damen und Herren, ich weiß, die Sache hat manche Seiten. Aber ich kann mir nicht helfen, ich komme doch zum Ergebnis, es sei das Mindestmaß an Buße, an öffentlich betätigter nationaler Scham, dass die deutschen Männer meiner unseligen Generation, die die Hitlerschmach über ihr Land nicht verhindern und nicht beseitigen konnten, davon Abstand nehmen, sich mit Auszeichnungen zu brüsten, die sie, gezwungen, geblendet oder getäuscht, sich im Dienst eines Menschen verdienten, der uns mit freilich unheimlich sicherer Hand geführt hat, wo wir, fürchte ich, noch immer sind.

Ich bin dankbar, wenn ich hierüber in nächster Zeit von dem einen oder anderen von Ihnen etwas Klärendes höre.

Aber lassen Sie mich damit schließen, dass ich im positiven Sinn einer kriegerischen Auszeichnung gedenke. Ich habe mich heute verpflichtet gefühlt, in gewissem Sinn zum Ungehorsam aus höherem Gehorsam aufzufordern. Als ich den Auftrag übernahm, in dieser Stadt zu sprechen, einer der schönsten im Reiche Maria Theresias, fiel mir der berühmte Orden ein, der ihren Namen trägt. Er wurde nur verliehen für siegbringenden Ungehorsam vor dem Feind.

Lassen sie uns auch in unserer Sache, die bei bloßer Ausführung der uns gewordenen Befehle nicht glücken könnte, die, wie das Ordensstatut sagt, den selbsteigenen Entschluss verlangt: lassen sie uns auch in dieser unserer Sache unseren Ehrgeiz an eine solche Auszeichnung setzen. Ich danke Ihnen für Ihre lange Aufmerksamkeit.


VI. Folge, 1953/1954, Nr. 21/24, S. 3-9



top