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Karl Thieme

Paulinismus und Judentum - Teil 3) Zur geschichtlichen Sendung Israels

Hinweis der Redaktion: Die in dieser dreiteiligen Reihe vorgestellte Literatur zum Thema Paulinismus und Judentum entspricht dem Stand des theologischen Paulusverständnisses Mitte des 20. Jahrhunderts.

Vgl. den vorausgegangenen Beitrag (in Freiburger Rundbrief, V. Folge, Nr. 17/18, S. 20-25) 1. Teil: Pauli Durchbruch zum Quellpunkt seiner Lehre; 2. Teil: Pauli Dialektik des Gesetzes.

Nachdem Pauli Durchbruch zum Quellpunkt seiner Lehre und seine Dialektik des Gesetzes im Lichte neuerer jüdischer und christlicher Publikationen betrachtet wurden (Nr. 17/18, S. 20), wollen wir nun die geschichtstheologische Spekulation des Apostels über die Sendung des Gottesvolkes und endlich (in Nr. 21) Pauli praktische Anstalten zu dessen Wiedervereinigung beleuchten.

3) Zu Pauli Geschichts-Theologie Israels

Angesichts von Pauli Thesen, dass 1. der Sinai-Bund, „welcher Haga ist, zur Knechtschaft geboren hat“ (Gal 4,24), und dass 2. „damit voll werde die Sünde, das Gesetz sich einschlich“ (Röm 5,20; vgl. Gal 3,19 ff. und 2,4: „die Eingeschlichenen“), findet Klausner, hier sei „nicht bloß die politische Seite des messianischen Glaubens aufgehoben, sondern auch der Gedanke der Auserwähltheit des jüdischen Volkes, den Paulus selbst eigentlich anerkennt“ (S. 494). In dem angehängten Relativsätzchen leuchtet für einen kurzen Moment auch die Lichtseite der paulinischen Israel-Verkündigung auf, um in allem weiteren wieder unbedenklich ignoriert zu werden, so dass dann allerdings ganz selbstverständlich „der gesunde Instinkt des jüdischen Volkes“ gar nicht anders konnte, als „sich Paulus und seiner Lehre zu widersetzen“ (S. 495). Wird so vom ‚Historiker’ das wirkliche Problem wieder einmal durch Ausschließlichsetzen nur einer Seite eines paulinischen Doppelaspekts beiseite geschafft, so wird der scheinbare Widerspruch in diesem Falle auch beim Romancier – Schalom Asch – mehr abgeschwächt als wirklich aufgelöst in seinen allzu stark verkürzten Wiedergaben der Episteln an die Galater (S. 476) und an die Römer (S. 530 ff.). Was Paulus hier über die Juden sagt, ist mit gewagten Bildern („er verwundete sie, dass Blut floss, und küsste mit dem Munde das Blut weg“) und mit unpräzisen Allgemeinheiten („er wechselte zwischen Segnung und Fluch“) wirklich weder zu referieren noch gar verständlich zu machen.

Und selbst Bubers subtile Text-Analyse versagt hier. Etwa wo es von Paulus bei ihm heißt: „... er lässt den Willen Gottes, Israel zu verstocken, am Sinai selber zu wirken beginnen, in der Stunde also, da es zu Israel und zu seinem Volke wird ...“ (S. 87). Und später: „Die Liebe Gottes, von der er spricht, hat kaum je einen anderen als einen eschatologischen Sinn, ist – mit Ausnahme etwa einer vereinzelten Erwähnung des um der Erzväter willen geliebten Israel (Röm 11,28), die aber ebenfalls eschatologisch intendiert ist – stets mit Christus als dem Herrn der endzeitlichen Gemeinde verbunden ... Aus dem Zeitenabgrund zwischen Erwählung und Erlösung sieht auch hier kein liebendes Gottesantlitz hervor“ (S. 142; noch finsterer S. 91!)

Bubers Paulus hat hier eine fatale Ähnlichkeit – nicht mit dem wirklichen Heidenapostel, dessen von Karl Barth (Dogmatik 11/2, S. 335) mit Recht unterstrichene Feststellung, dass auch hier die noch ‚teilverhärteten’ Juden schon „jetzt Erbarmen finden sollen“ (Röm 11,32 s. u.!), in keiner unserer Übersetzungen mehr abgeschwächt werden dürfte, wohl aber – mit jenen Christen, die sich Neigung zu den Juden erst von dem Moment an vorstellen können, wo dieselben zu Jesus bekehrt sind (durch unseren Hass?), und die sich wohl gar nach ihrem eigenen Bilde das eines Gottes zurechtdichten, der für sein Volk anderes empfände als manchmal (Lk 19,41 ff.; Sach 14,2 ff.) bekümmerten Zorn und immer (Jes 62,11 f.) suchende Liebe.

„An dieser Stelle zumal zeigt“, wie Schrenk (Judaica 8, 1, S. 19) treffend hervorhebt, Bubers „Referat eine gewisse Schwarz-Weiß-Malerei, die z. B. eine Äußerung wie die von der göttlichen ANOCHE (das ,Ansichhalten’ im Zorneswirken in Nachsicht, Langmut, Geduld) in Röm3,5 f., die ausdrücklich Bezug hat auf die vorchristliche Zeit, nicht in Anrechnung bringt. Gerade sie zeigt, dass der Gott des Paulus auch vor Christus kein nur Zürnender, sondern auch ein sich Erbarmender ist. An der Verzeichnung des Paulus, dessen Gott in der Phase vor Christus kein gnädiger, barmherziger, liebender Gott sein soll, ist einmal schuld eine Trennung von Zorn und Gnade, während beides dem Gottesbild des Paulus als immer vorhandene Synthese seines Wesens stets implicit ist, aber auch die Verkennung der Wesensart des Eschatologischen. Wenn, wie zugegeben wird, bei Paulus die Barmherzigkeit Ziel des Weltplans ist, so ist eben diese Barmherzigkeit nicht ‚nur’ eschatologisch, denn das Eschatologische lässt das, was von jeher vorgezeichnet ist ... zur Vollendung gelangen. Es ist nicht etwas Urneues, am Ende der Zeiten aus den Wolken Fallendes, sondern die Vollführung des göttlichen Seins, Wollens und Handelns von jeher in krönender Endgestaltung.“

Man kann diese Gedanken Schrenks als echt neutestamentliche, ja speziell paulinische Stellungnahme zum jüdischen Schicksal bis zu Jesus, aber auch seit Jesus, kaum genug durchdenken und beherzigen und wird sie durch Barths Gedanken zu jenem zweiten „jetzt“ in Röm 11,32 ergänzen dürfen: „... nicht zukünftig, sondern gegenwärtig ist ja das den Heiden erwiesene Erbarmen, und indem dieses und also das Mittel des Göttlichen Erbarmens auch für die Juden schon Gegenwart ist, ist heimlich auch schon jene Aktion des Erbarmens Gottes den Juden gegenüber in Gang begriffen. Es ist (wer Ohren hat, zu hören, der höre!) das Abschieben der Judenfrage in die Eschatologie, das dem christlichen Antisemitismus durch dieses auffallende zweite ‚jetzt’ un-möglich gemacht wird. Dass Israels Hoffnung wirklich seine und der Kirche Hoffnung und also Zukunft ist, ändert nichts daran, dass die Verantwortung der selber von Gottes Erbarmen lebenden Kirche Israel gegenüber schon volle Gegenwart ist“ (Dogmatik II, 2, S. 335).

Noch verborgen und doch schon volle Gegenwart ist Gottes Erbarmen für Israel in jenem ‚jetzt’, in den „Fristen der Heiden“, während deren „Jerusalem von den Heidenvölkern niedergetreten wird“ (Lk 21,24); bereits offenkundig (1 Kor 10,1 ff.; vgl. Hebr 11,29 f.) und doch erst auf zukünftige eigentliche Erfüllung hin ausgerichtet (2 Kor 3,1; vgl. Hebr 3,3) hat eben dieses göttliche Erbarmen aber auch nach Paulus schon seit der Sinaizeit über Israel gewaltet.

„Was ist denn nun das überragende des Juden oder welches der Nutzen der Beschneidung? Viel in jeder Hinsicht, und zwar in erster Linie, dass ihnen die Offenbarungsworte Gottes anvertraut worden sind!“ (Röm 3,1 f.) Das geschah am Sinai, und das gilt für immer (Röm 9,4); „denn Gottes Gnadengaben und die Berufung sind unbereubar“ (Röm 11,29). Darum ist und bleibt der Juden-Name für Paulus (Röm 2,28 f.) wie für Johannes (Offb 2,9; 3,9) Ehrenname und mag wohl um unwürdiger Träger willen gelästert werden wie ja auch der christliche (Jak 2,7) und der des beiden gemeinsamen einzigen Gottes (Röm 2,24), kann aber seine innerste Würde, den Charakter des Appells an jeden, der ihn trägt, und jeden, der ihn hört, nie verlieren; „sie erinnern uns an Gottes Gesetz“ (Innocenz III.) im weitesten Sinne des Wortes, das war und ist und bleibt ihre unverlierbare Sendung bis zum Jüngsten Tag, – paulinisch gesprochen.

Eben damit ist dann aber auch gesagt, dass die Aufreizungs- und ,Verstockungs’-Tendenz am Gesetz (2.) allerdings wie schon im Urgebot von Eden: „Nicht sollt ihr essen ...“ (Gen 2,17) potenziert im breiter entfalteten Sinai-Gesetz aktiv wird: „Nicht sollst du begehren ...“ (Röm 7,7; vgl. Ex. 20,17, Dtn 5,21); gesagt auch, dass diese Tendenz je und je gottgewollt ist, „damit voll werde die Sünde“, also die Erlösung als Gnadengabe, nicht als Lohnanspruch erfahrbar.

Und insofern ist allerdings der Sinai-Bund: Hagar, die zur Knechtschaft, genauer: zur Erkenntnis der Sündenverknechtung führt; aber das Volk, das diesen Hagar-Bund passiert, heißt stets nur ,Ismael’, solange und soweit es sich aktuell ,isaakwidrig’ betätigt (Gal 4,28 f.), bleibt aber über jede seiner gnädig an ihm heimgesuchten Verirrungen hinweg „das Würmlein Jakob“ (Jes 41,14; vgl. 27,9), das am Ende unumstößlich zum ‚Israel Gottes’, Abrahams Erben, berufen ist (Gal 6,6).

Es heißt also Paulus geradezu grotesk missverstehen, wenn man wähnt, dass er diesem seinem Volke am Sinai „kein liebendes Gottesantlitz“ zugewendet sehe, da es der Vater in jene Zucht gibt (Gal 3,24), ohne die es doch gerade nach biblischer Offenbarung und Glaubenserfahrung keine wirkliche Liebe gibt (Ps  94,12; Spr 13,24; 19,18; vgl. 2 Makk 6,13 ff.).1

Aber es ist ein nicht weniger unhaltbares – nur leider noch weiter verbreitetes – Missverständnis Pauli zu verkennen, dass auch nach ihrer Verwerfung des apostolischen Auferstehungszeugnisses „die Juden“ für ihn Gottes Volk, „Israel“ sind und bleiben (Röm 9,4)). Nur, dass er unter ihnen wieder einmal die prophetische Scheidung eingetreten sieht, zwischen jenem ,heilgen Rest“ unter ihnen, an dem die Begnadung schon stellvertretungsweise für die Gesamtheit – offenkundig ward (Röm 11,1 f. 5), auf der einen Seite und jenen ‚übrigen’ auf der anderen (11,7), derentwegen man sagen muss, dass „Verhärtung zum Teil dem Israel“ geschah (11,25), bis es „ganz“ gerettet wird (11,26); vgl. die weiteren Ausführungen in dieser Nummer, S. 26 f., im Kommentar zu Röm 9–11, Nr. 7 und vielfach anderwärts, sodass wir hier nicht ausführlicher werden zu müssen meinen.

Diese paulinische Konzeption, die Buber in problematischer Einheitsfront mit dem von Barth bekämpften ‚christlichen Antisemitismus’ als ,nur’ eschatologische Gottgeliebtheit seines Volkes in der Sicht des Apostels missdeutet, wird heute auch im protestantischen Schrifttum meist richtiger gesehen, als die des (mit konfessioneller Polemik belasteten) ‚Gesetzes’ (neuerlich etwa bei K. L. Schmidt, Die Judenfrage im Lichte der Kapitel 9–11 des Römerbriefes, Zürich 1943, und bei W. Vischer, vgl. Nr.8/9, S. 31).

Aber was deutlich gesehen wird, findet darum noch keineswegs immer zutreffende Beurteilung. Holzner lässt hier plötzlich den Apostel „seine früheren schroffen Ausführungen über das Gesetz“ fast bedauern!; „sein Nationalgefühl bäumt sich auf“ etc. (S. 332); und auch Davies redet von ,Nationalismus’, ‚Patriotismus’ und von Pauli Weigerung, „seine Nation der logischen Konsequenz aufzuopfern“ (S.85); – so wenig begreifen diese Autoren, dass ja das Problem des jüdischen Volkes vom Apostel „nicht nur wegen einer natürlichen Zuneigung des Blutes, sondern vielmehr, weil es ein theologisches Problem ist“, das der göttlichen Verheißungstreue nämlich behandelt werden musste. (Wie Riciotti S. 444, Anm. 5 treffend schreibt, um dann freilich S. 446 die Lösung durch an falscher Stelle eingetragene Lohngedanken gründlich zu verfehlen.) Wenn man also von den überwiegend verständnisvollen Kommentatoren des Römerbriefes absieht, von denen hier nur Paul Althaus versagt, während zu den s. Zt. von uns beifällig zitierten katholischen Erklärern inzwischen Josef Kürzinger in der Echter-Bibel hinzugekommen ist (Echter Verlag, Würzburg 1951), muss man leider feststellen, dass in der eigentlichen Paulus-Literatur das Verständnis für des Apostels Deutung der Geschichte seines Volkes noch in den Kinderschuhen steckt; wie auf jüdischer so auch auf christlicher Seite; man wird mit Thomas von Aquin (Röm 11,25) sagen müssen: ignorantia huius mysterii nobis damnosa fuit (Thomas: esset) und wird fordern müssen, dass allerseits des Apostels Geschichts-Theologie Israels richtiger begriffen und dargestellt werde.

(Schluss folgt.)


  1. Dass auch ein überzeugter Jude dies begreifen und nachvollziehen kann, erweist das Beispiel von Max Brod, der in seinem Bekenntnisbuch „Heidentum, Christentum, Judentum“ (München 1921, II., S. 183) klar ausspricht: „das Bewusstsein der Sünde ist der erste Schritt zum Heil, das Gesetz also gibt den Juden einen gewissen Vorrang, weshalb ihnen (nach der paulinischen Auffassung: Röm 1,16) das Evangelium zuerst verkündet worden ist“. Auch sonst sieht der Jude Brod Pauli Gesetzes-Dialektik ähnlich, wie wir sie (unter 2.) entwickelten, so dass wenigstens über das, was er tatsächlich lehrte, christlich-jüdisches Einverständnis leichter sein sollte, als Buber und Schoeps oft vermuten lassen.


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