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Willehad Eckert O. P.

Der ökumenische Aspekt der christlich-jüdischen Begegnung

Vortrag, gehalten auf der Herbsttagung der Katholischen Akademie Bayern in Nürnberg am 27. Oktober 1963 von Dr. Willehad Eckert O. P., Köln.

Vor einigen Monaten, nämlich in der Nummer vom 31. Mai 1963, schrieb Pinchas E. Lapide einen Artikel für die Wochenzeitung „Die Zeit“: „Der Papst und die Juden“. Darin wird die Hilfstätigkeit des Papstes für die Juden während der Verfolgungszeit, insbesondere während des Zweiten Weltkrieges, gerühmt. Anerkennend erwähnt der Verfasser die Hilfsbereitschaft der Kirche, von der Pius XII. 1946 gesagt habe, sie erhebe sich über alle engen, willkürlichen, von menschlicher Selbstsucht und rassischer Leidenschaft geschaffenen Schranken. Er setzt dann aber hinzu: „Jedoch war es ganz etwas anderes, hilflosen, staatenlosen Flüchtlingen zu helfen, als einen jüdischen Staat zu unterstützen“, nämlich Israel, das nach dem Krieg proklamiert wurde.

Lapide meint, darüber hinausgehend, dass es ebenfalls etwas anderes ist, ob man sich in Zeiten der Verfolgung der in Not geratenen Menschen annimmt, auch wenn sie anderer Konfession sind, oder ob man diese Menschen heute als Partner anerkennt. In diesem Zusammenhang erwähnt er die Worte einer Predigt Msgr. Österreichers, des Herausgebers der Zeitschrift „The Bridge“, die der christlich-jüdischen Verständigung dient: „Wir erkennen jetzt besser als je zuvor, dass die Kinder Israels trotz ihres einstigen oder jetzigen Widerspruchs zum Evangelium dem Herrn teuer bleiben, denn er ist ein Gott der Treue.“ In den Bemühungen des Sekretariats für die christliche Einheit sieht er einen Beweis für die Bereitschaft zur Partnerschaft. Von dieser Partnerschaft soll die Rede sein.

Aber wenn wir von dem ökumenischen Aspekt christlich-jüdischer Begegnung sprechen, dann stellt sich uns die Frage: Gibt es das überhaupt, wenn ja, wie versteht er sich? Versteht er sich als die Begegnung von wachen Einzelnen, versteht er sich als das Gespräch des einzelnen betroffenen Christen und Juden oder versteht er sich als Gespräch von Gemeinschaft zu Gemeinschaft?

Vor einigen Wochen hatte ich ein Gespräch mit Studenten und Studentinnen über das Zweite Vatikanische Konzil. Sie legten mir die Frage vor: Gewiss da gibt es also nun ein Sekretariat für die Einheit der Kirche, da gibt es die Bemühungen des Kardinal Bea, und da erfahren wir, dass die Kirche auch etwas über die Juden sagt. Das ist alles sehr schön, aber wer ist eigentlich der Gesprächspartner?

Die Frage ist berechtigt, denn es gibt keine jüdische Lehrautorität. Versuche, die im Staate Israel unternommen wurden, etwas einer Lehrautorität Vergleichbares ins Leben zu rufen, blieben schon in den Anfängen stecken. Zudem ist Israel nicht ohne Weiteres der Sprecher der gesamten Judenheit. Die Juden in den anderen Ländern betrachten sich nicht als Auslandsisraeli; neben der Hochschätzung des neuen Staates gibt es Vorbehalte, da dieser Staat keine Theokratie, sondern eine Demokratie westlicher Prägung ist. Der Staat Israel hebt also die Galut, die Zerstreuung über die Welt, nicht auf. Die Autonomie der Gemeinden hindert das Entstehen einer Lehrautorität. Infolgedessen kann es kein Gespräch der Kirche als Gemeinschaft mit der Synagoge als Gemeinschaft geben. Wohl aber kann die Kirche die Stimme gewichtiger Persönlichkeiten des Judentums hören. Bei Formulierungen über das Judentum, die vom Sekretariat für die Einheit dem Konzil vorgelegt werden, besteht die Möglichkeit einer vorhergehenden Rücksprache mit den Menschen, die dank ihrer religiösen und geistigen Haltung gültige Aussagen über den Glauben ihrer Väter und ihren eigenen machen können.

Das zeigt aber, dass das Gespräch mit dem Einzelnen geführt werden muss. Vorderhand wird es wohl kein anderes Gespräch geben. Insofern ist der Buchtitel, den Hans Urs von Balthasar wählte, „Einsame Zwiesprache“, gut gewählt. Bei ihm handelt es sich um die Zwiesprache mit demjenigen, der von allen jüdischen Gelehrten, von allen jüdischen Stimmen insgesamt in Deutschland an erster Stelle und weitgehend an einziger Stelle gehört worden ist, Martin Buber. Gewiss ist Martin Buber nicht der einzige – wir hörten es eben –, der gehört zu werden verdiente, aber es ist wahr, dass es seine Stimme weitgehend allein ist, die gehört worden ist. So ist Manches, was er gesagt hat, stellvertretend für das Ganze gesagt worden.

Das Gespräch hat begonnen zu einer Zeit, als wenige es wahrgenommen haben. Wenn wir uns heute zum Gespräch zusammenfinden, dann tun wir es unter dem Eindruck dessen, was geschehen ist, und manchem Gespräch, das nach dem Krieg durchgeführt wurde, merkt man, jedenfalls für mein Gefühl, etwas an, was nach schlechtem Gewissen schmeckt, und da ich eben den Namen Martin Buber genannt habe, möchte ich an ein Gespräch, an eine Partnerschaft anknüpfen, die schon einmal da war, von der man sagen muss, wie schade, dass ihr ein Durchdringen nicht beschieden war.

Auf unserer Ausstellung „Monumenta Judaica“ zeigen wir in der Abteilung ,Wissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts’ auch einen Kasten mit Zeugnissen der Bemühung jüdischer Seite um Begegnung mit der christlichen Theologie, christlich-katholisch, christlich-evangelisch.

Eines der kostbarsten Zeugnisse für uns ist die Zeitschrift „Die Kreatur“. Der Verlag Lambert Schneider, der diese Zeitschrift ermöglicht hatte, hat freundlicherweise die beiden einzigen Exemplare des 1. und 2. Jahrgangs, die noch auf dem Verlagsarchiv waren, der Ausstellung zur Verfügung gestellt. Einer Anregung des damals jungen Lambert Schneider im Jahre 1925 folgten drei profilierte Männer, die bereit waren, gemeinsam als Herausgeber einer Zeitschrift, die sich „Die Kreatur“ nannte, zu zeichnen. Diese drei Männer waren: Martin Buber, Viktor von Weizsäcker und Joseph Wittig. Die drei Herausgeber sprachen jeweils als Jude, als Katholik, als evangelischer Christ, und sie stellten ein gemeinsames Vorwort dem ersten Band voran. Darin heißt es:

„Erlaubt aber, und an diesem Tag der Geschichte geboten ist das Gespräch, der grüßende Zuruf hinüber und herüber, das Sich-einander-Auftun in der Strenge und Klarheit des eigenen Geschlossenseins, die Unterredung in der gemeinsamen Sorge um die Kreatur. Es gibt ein Zusammengehen ohne Zusammenkommen, es gibt ein Zusammenwirken ohne Zusammenleben. Es gibt eine Einigung der Gebete ohne Einigung der Beter. Parallelen, die sich in der Unendlichkeit schneiden, gehen einander nichts an; aber Intentionen, die sich am Ziel begegnen werden, haben ein namenloses Bündnis an der von ihren Wahrheiten aus verschiedenen, aber von der Wirklichkeit der Erfüllung gemeinsamen Richtung. Wir dürfen nicht vorwegnehmen, aber wir sollen bereiten.“

Nichts sollte verwischt werden, die Gegensätze der Glaubensweisen weder geleugnet noch verkleinert werden. Aber aus der Christen und Juden gemeinsamen Überzeugung, von dem sich offenbarenden Gott berufen zu sein, fühlten sie sich zum Gespräch verpflichtet. Das war im Jahre 1926, also zu einer Zeit, da man noch nicht den Untergang der 6 Millionen Juden ahnen konnte, da es noch nicht die Last des Schweigens gab, da die Christen ihre Augen noch nicht vor dem drohenden Unheil verschlossen hatten.

Es fällt mir immer schwer auf die Seele, wenn ich denke, dass damals – im Jahre 1926 bis zum Jahre 1930 – drei solche Männer wie Wittig, Weizsäcker und Buber eine solche Zeitschrift ins Leben gerufen haben, und wenn ich diese Zeitschrift aufschlage – es sind wunderbare Artikel nicht nur von diesen dreien, sondern auch von anderen –, dann sage ich mir, wie ist es möglich, dass diese Stimmen nicht oder nicht genügend gehört wurden? Die Zeitschrift ist ja schon untergegangen, ehe das Jahr 1933 gekommen ist.

Die Zeitschrift hat den bezeichnenden Titel „Kreatur“, bezeichnend deshalb, weil darin ausgesprochen wird, die Welt, in der wir stehen, die ist nicht von ungefähr, sondern sie kommt aus der Schöpferhand, und von dieser Welt wissen wir und haben wir aus dem Glauben erfahren durch den sich offenbarenden Gott, und darin sind wir uns einig, Juden, katholische Christen und evangelische Christen, dass wir diese Welt ansehen als Schöpfung, und für diese Schöpfung sind wir als gläubige und im Glauben gehorsame Menschen verantwortlich. Aus dieser gemeinsamen Verantwortung nannten sie die Zeitschrift „Kreatur“ und fragten nach den Aufgaben, in die wir gestellt sind, indem wir die Welt als Kreatur, als Schöpfung unseres Herrgotts ansprechen.

Damit will mir scheinen, dass dieses Gespräch sich bereits unterschied von manchem anderen Gespräch. Religionsgespräche gab es schon sehr lange. Es gibt ein Buch, das 1938 bereits zum ersten Mal erschien von Hans Joachim Schoeps „1900 Jahre jüdisch-christliches Religionsgespräch“, und dieses Buch ist eigentlich nicht die Geschichte eines neunzehnhundertjährigen Dialogs, sondern eines neunzehnhundertjährigen Monologs.

Einer, der es wissen konnte, war Peter Browe SJ. Er schrieb zu einer Zeit, in der das nicht selbstverständlich war, Artikel über die Verfolgungen, die Juden auf Grund verhängnisvoller Legenden, wie der Behauptung des Hostienfrevels, erleiden mussten. In seinen Beiträgen, die in verschiedenen katholischen Zeitschriften veröffentlicht sind, hat er keinen Hehl aus dem Anteil der Kirche an den Bedrängnissen gemacht, die die Juden erleiden mussten. Erwähnt sei z. B. „Judenbekämpfung im Mittelalter“, erschienen in Zeitschrift für Katholische Theologie (62) 1938. Die wichtigsten Ergebnisse seiner Forschung legte er unter dem Titel „Die Judenmission im Mittelalter und die Päpste“, Rom 1942, vor. In diesem Werk geht er auch auf die Geschichte der Religionsgespräche ein.

Nun, das Interessante, Schoeps, der Vertreter der Theologie vom Judentum her, und Peter Browe, der Vertreter der Theologie vom katholischen Glauben her, kommen zum selben Ergebnis: das Religionsgespräch ist Monolog gewesen. Im Mittelalter hat es zunächst begonnen, zum Teil wenigstens mit dem Versuch einer Partnerschaft, und geendet hat das Religionsgespräch im Mittelalter mit dem Versuch, es zur Missionsmethode auszuschlachten. Der Dominikanerorden hat dieses Missionsmittel mit sehr großem Erfolg vorzüglich deshalb eingesetzt, weil er sich der staatlichen Hilfe vor allem in Spanien versicherte. Ich möchte das nebenher erwähnen, obwohl es sehr interessant wäre, eingehender über Psychologie und Motive dieses scheinbaren Religionsgesprächs – in Wirklichkeit Religionsmonologs – zu sprechen.

Die Fragen wurden vom Christen aus gestellt, vor allem die trinitarische Frage und die Inkarnationsfrage, d. h. die Christen wollten wissen, was haltet ihr Juden von dem Dreifaltigen Gott und was haltet ihr von dem menschgewordenen Sohn Gottes, Jesus Christus? Dies waren im Grunde genommen die beiden einzigen Fragen, die der Judenheit gestellt wurden. So kam der Jude selbst mit seinem Glauben gar nicht erst in das Blickfeld des Christen. Was nahm man denn überhaupt vom Juden zur Kenntnis?

In der christlichen Polemik wurde dem Judentum, das sich nicht zu Christus bekehrte, weitgehend die Existenzberechtigung abgesprochen. Die Christen galten als die Erben des Alten Testamentes. Sie glaubten die Heilige Schrift allein zu verstehen. Gewiss, die Juden sprachen die Sprache, in der Gott zu den Menschen geredet hatte. Für sie war das Hebräische lebendig, für die Christen war es weitgehend verschlossen. Bezeichnend ist nun, dass der hl. Augustinus und im Anschluss an ihn viele andere mittelalterliche Theologen die Juden als die blinden Träger der Heiligen Schrift wertet. Sie halten den Christen die Bücher wie einen Spiegel vor, in den sie selbst nicht sehen können. Die Juden verstehen nämlich nach der Meinung des hl. Augustinus die Heilige Schrift nur nach ihrem Buchstaben, die Christen aber nach ihrem Sinn. Die allegorische Schriftauslegung verdient den Vorzug vor der literarischen. Übersehen wird dabei, dass auch die Juden durchaus eine allegorische Schriftinterpretation kennen. Nebenbei sei erwähnt, dass jüdische Exegese nicht ohne Einfluss auf die christliche blieb. Man denke nur an den Namen Raschis, der für Nikolaus von Lyra zum Vorbild wurde.

Diese Bemerkungen mögen uns als Hinweis dienen, die Wurzel des Missverstehens darin zu erkennen, dass der Jude nicht wahrhaft Partner des Christen in dem viele Jahrhunderte dauernden Religionsgespräch werden konnte.

Judenheit und Christenheit stellen eine sehr verschiedene Art religiösen Lebens und religiösen – wenn wir einmal das Wort gebrauchen wollen – Selbstverständnisses dar. Wer einmal durch die Abteilung ,Das jüdische Jahr’ unserer Ausstellung „Monumenta Judaica“ hindurchgeht, der wird in manchem zunächst einmal auf das Fremde stoßen, und er soll auch auf das Fremde stoßen, er soll einmal weglassen, was er schon weiß oder zu wissen glaubt und was doch vielfach von Vorurteilen belastet ist, er soll fragen und erfahren, was jüdische Weise des Glaubens ist. Da erfährt er, dass Judenheit sich unter Gottes Gebot gestellt sieht. Überspitzt kann man sagen – und jüdische Gelehrte haben es unter dem Einfluss der liberalen evangelischen Theologie ebenfalls so formuliert –, dass das Judentum eine nichtdogmatische Religion ist. Das Christentum ist zweifellos eine dogmatisch gebundene Religion, deshalb haben sich Christen schon in der Antike über den Sinn der Glaubensgeheimnisse gestritten und in verschiedene Kirchen aufgesplittert. Um des Glaubensbekenntnisses willen sind Spaltungen entstanden in einem ganz anderen Maße, als sie je im Judentum vorhanden gewesen sind.

Die Judenheit ist bestimmt durch die Tora, durch das Gebot Gottes, durch die Weisung Gottes. Um die rechte Auslegung dessen, was dieses Gebot besagt, ist sehr viel mehr gedacht, überlegt und zuweilen auch gestritten worden als über die Frage der Glaubensgeheimnisse, wie wir sagen würden; in diesem Sinne gab es durch Jahrhunderte hindurch keine jüdische Theologie, die vergleichbar wäre der christlichen Dogmatik.

Das Wort Theologie wurde eigentlich erst im 19. Jahrhundert in das Judentum eingeführt, das Ringen um eine jüdische Theologie entstand nach dem Fall der Gettomauern im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Christentum. Nicht Gottes undurchdringliches Wesen erfassen wollen, sondern hinhören auf Gottes Stimme; denn Gott, das ist unbezweifelbar, hat sich mitgeteilt in der Offenbarung, hat – das sind Heilstatsachen – seinen Bund geschlossen, nicht, dass das Volk sich zu diesem Bund hingedrängt hätte, nein, Gott selbst hat es herausgerufen, hat es gerufen. Eigentlich entgegen dem nur Natürlichen, dem nur Menschlichen hat er sein Volk in den Dienst genommen, ob es wollte oder nicht wollte. Wie oft haben jüdische Denker über dieses Geheimnis nachgesonnen. Dem Juden lag es weniger zu fragen, was die tiefsten Geheimnisse des Wesens Gottes seien, als hinzuhören auf Gottes Wort und Gottes Gebot; es zu achten und zu leben und es so heilig zu halten, dass man sich von der Übertretung auch des kleinsten Gebotes fernhält. Um das Gebot, das Gesetz, zog man einer „Zaun“, erweiterte die Verpflichtungen, um ganz sicher zu sein, das Gebot nicht zu verletzen.

In der paulinischen Sicht erscheint das Gesetz als Last. Aber die Antwort des jüdischen Menschen darauf ist, dies sei doch wohl ein Missverständnis. Gewiss, das Gesetz kann auch zur Last werden, aber das Gesetz, das Gebot, die Weisung hat zunächst einmal den Sinn, dass alles, was immer ich tue, auf Gott bezogen ist. Deswegen gibt es für den auf das Gebot, auf die Weisung Gottes huschenden Menschen nichts, was rein profan wäre. Letztlich gibt es keine Scheidung mehr zwischen dem Sakralen, dem Heiligen, und dem Profanen, sondern es ist alles durch Gottes Weisung zur Erinnerung an Gott geworden, selbst das Speisen und Trinken. Wenn ich mich an die Speisegesetze halte, so werde ich beim Essen an Gott erinnert. Es gibt nichts in meinem Leben, was so profan wäre, dass es aus dieser Gottbezogenheit herausgenommen werden könnte. So gesehen, ist es begreiflich, dass es auch ein Fest der Torafreude geben kam. Ich meine, das muss uns doch etwas nachdenklich stimmen.

Die Judenheit, die sich so versteht, behauptet nicht, dass das Gesetz heilsnotwendig ist, denn es wird den anderen Völkern nicht auferlegt, sondern ist Ausdruck des Bundes und ist da, die Gottesherrschaft zu bezeugen. In diesem Sinne wird erst verständlich, was Martin Buber meint, wenn er von der Einheitlichkeit zwischen Gott und Mensch spricht. Dem ist hinzuzufügen: Gottes Weisung ist das eigentlich Maßgebende, von den Menschen wird erwartet, dass sie als Menschen guten Willens Gottes Gebot annehmen.

Im jüdischen Glauben ist kein Platz für die Erbsünde. Das lässt sich auch rechtfertigen aus der Lektüre der alttestamentlichen Texte. Eine Erbsündenlehre in unserem Verständnis ist erst in voller Deutlichkeit bei Paulus, und zwar im Römerbrief, ausgesprochen, wo er davon redet, dass durch einen Menschen der Tod und durch einen Menschen das Leben in die Welt gekommen ist. Dieser Parallelismus ist im Alten Testament so nicht ausgesprochen, daher fehlt auch eine Erbsündenlehre im christlichen, und zwar nicht etwa nur im evangelischen, sondern auch im katholischen Sinne, im jüdischen Glaubensverständnis. Wenn wir uns nicht einer Illusion über die Möglichkeiten eines christlich-jüdischen Gespräches hingeben wollen, müssen wir uns über diesen Grund klar sein, der die Juden nötigt, den Messiasanspruch Jesu abzuweisen.

Wenn es keine Erbsündenlehre gibt, dann kann es konsequenterweise auch nicht ein Bekenntnis zu Jesus als dem Christus geben. Denn dann ist gar nicht einzusehen, welche Heilstat dieser Christus getan haben könnte, da das messianische Zeitalter noch nicht sichtbar geworden ist. Aber das besagt nicht, dass nicht ein intensives Ringen um die Person Jesu eingesetzt hätte. Und da wir hier von der Partnerschaft reden, muss ich auch davon sprechen. Das heißt natürlich nicht, dass jetzt jeder Jude ein persönliches Verhältnis zu Jesus gefunden hätte.

Das Gespräch, das Ringen um Jesus ist belastet. Es ist belastet durch die schreckliche Erfahrung, die die Juden mit den Christen gemacht haben. Man kann nicht den Schatten der Scheiterhaufen einfach wegwischen. Das können wir nicht, die wir schuldig geworden sind, und das kann man auch nicht von den Juden verlangen. Deshalb glaube ich, wäre es zuviel verlangt, zu fordern, dass jeder Jude ein persönliches Verhältnis zu Jesus haben sollte. Aber dass trotz dieses Schattens der Scheiterhaufen, trotz des millionenfachen Mordes, trotz der Lüge, dass die Juden aus demselben Hass, den sie einst gegen den historischen Christus gehabt hätten, die Kinder der Christen umbringen würden, dass trotzdem ein Ringen um die Person Jesu eingesetzt hat; das ist ein derartiges Angebot zur Begegnung, dass wir dafür nur dankbar sein können.

Dieses Bemühen jüdischer Denker und Dichter um Jesus gehört sicher zu den großen Dingen, die gerade unser Jahrhundert uns geschenkt hat. Eine der köstlichsten Schriften Leo Baecks ist jenes kleine, aber an Gehalt so schwere Buch „Das Evangelium als jüdische Glaubensquelle“. Darin wird nachgewiesen, dass Jesus wirklich in der jüdischen Tradition steht. Martin Buber hat in ähnlicher Weise gesprochen und ebenfalls Franz Rosenzweig. Dass Martin Buber in „Zwei Glaubensweisen“ von Jesus als seinem größeren Bruder gesprochen hat, darf hier wenigstens erwähnt werden, und nicht übersehen möchte ich auch die große Arbeit von Josef Klausner, der versucht hat, ein Jesusbild zu gewinnen aus den Zeugnissen des Talmud, der antiken Schriftsteller und eben der Evangelien und der Apostel-Briefe und der Jesus in die jüdische Geistesgeschichte bewusst einbezieht.

Einer meiner jüdischen Freunde sagte mir, als wir uns zu einem Gespräch auf Burg Rothenfels – es ist jetzt auch schon wieder zwei oder drei Jahre her – trafen, „Herr Pater, wir können auf Jesus nicht verzichten. Die Propheten haben die Liebe gelehrt und Jesus hat sie gelebt“. Ich finde das ein so wunderbares Wort, dass es mir nie mehr aus dem Gedächtnis gegangen ist. Ich muss aber hinzusetzen, was ein anderer meiner Bekannten sagte, „Ich liebe Jesus, aber ich hasse Christus“. Das ist ganz klar, ich liebe Jesus, der in der Tradition drinsteht, der die prophetische Tradition erfüllt, das ist die historische Person, aber ich kann mich nicht anfreunden mit demjenigen, der durch den Gemeindeglauben, um jetzt einmal mit Martin Buber zu sprechen, der durch die Theologie, wie sie Paulus gelehrt und erfunden hat, zum Christus gemacht worden ist.

Das ist in der Tat nun eine ganz schwere Frage, die Juden und Christen auch weiterhin trennen wird und trennen muss, aber trotzdem steht darüber immer wieder das Faszinierende, das von der Person Jesu selbst ausgeht. Wilhelm Beilner hat in seinem Buch „Christus und die Pharisäer“ diese Frage wieder aufgegriffen und von katholischer Seite dahingehend zu beantworten gesucht, dass er sagt, es gab zwischen Jesus und den Pharisäern keinen Streitpunkt im Grundsätzlichen. Die pharisäische Frömmigkeit ist nicht von Jesus schlechthin verworfen worden. Es ist ein großes Verdienst, dass Beilner das so klar zum Ausdruck gebracht hat.

Es ist ein Unsinn, davon so zu reden, als wäre das Judentum hier die Religion des Gesetzes und des Gottes der Rache und das Christentum die Religion des Gottes der Liebe. Den einen Gott der Liebe – und Liebe und Gerechtigkeit sind untrennbar voneinander – haben Jesus und die Pharisäer in gleicher Weise bekannt. Sie waren uneins und mussten uneins sein in dem messianischen Selbstverständnis Jesu. An diesem messianischen Selbstverständnis ist der Konflikt aufgebrochen und nur aus diesem Grunde.

Wir geben zu, um der notwendigen Ehrlichkeit willen, dass wir über diesen Punkt nicht einig werden können, weil wir eine jeweils verschiedene Anthropologie lehren. Wir verstehen den Menschen als den von der Erbsünde Belasteten und die Erlösung als Erlösung von der Erbsünde durch Jesus Christus, der um unseretwillen am Kreuz starb. Das Judentum kann Jesus, solange es Judentum ist, nicht als den Christus akzeptieren, aber es ist sehr viel gewonnen durch die Integrierung der Gestalt Jesu in die jüdische Geistesgeschichte, die Herausarbeitung des Prophetischen und die Bedeutung des Prophetischen seiner Persönlichkeit. Auch hier muss ich mich mit wenigen Andeutungen begnügen. Durch dieses neue Verständnis ist gerade von jüdischer Seite an uns Christen der Anruf und die Verpflichtung zum Umdenken herangetragen worden. Wir bekennen uns zu Jesus, der seiner Volkszugehörigkeit nach Jude war, und werden uns der Kontinuität bewusst zwischen Judentum und Christentum, dass Kirche und jüdische Gemeinschaft aufs engste zusammengehören.

Heilsgeschichtlich hat die Entstehung des Staates Israel vielleicht auch für die Kirche ihre Bedeutung, indem die Kirche darauf hingewiesen wird, dass sie aus Juden und Nichtjuden zusammengewachsen ist und dass Juden und Nichtjuden zu ihr gehören, dass Kirche so Gemeinschaft ist, dass sie an ihren Ursprung gebunden ist.

Und nun fängt man an, über diesen Ursprung nachzusinnen. Partnerschaft-Gespräch kann in fruchtbarer Weise trotz des Trennenden sein über das Verständnis der Hl. Schrift – hier darf ich wenigstens ein Grundthema anreißen –, was Gesetz und Gnade bedeutet oder was der Bund bedeutet. Wir erkennen, dass die Teilung in Alten und Neuen Bund nicht unbedenklich ist, sondern dass es besser wäre, vom Bund und der Bundeserneuerung zu sprechen. Ein Bundesschluss hebt den anderen Bundesschluss nicht auf. Davon hat übrigens die mittelalterliche Theologie doch mehr gewusst, als so im Allgemeinen bekannt ist.

Ein Gedanke kommt in der mittelalterlichen Theologie immer wieder zu Wort, das ist der Gedanke der ecclesia universalis. Kirche ist nicht nur die Ecclesia Romana, sondern die Gemeinschaft aller Erlösten. Mit dem Begriff „Ecciesia universalis“' sind alle Erlösten umfasst, wird daran erinnert, dass einmal alle Spaltungen überwunden sind und dass dann sichtbar wird, wer alles zu der Gemeinschaft gehört, die Gott als die Berufenen und Erwählten vorausbestimmt hat.

Der Gedanke an diese umfassende Gemeinschaft nötigt uns, uns Sorgen zu machen, wie Spaltungen überwunden werden können. Das Erste heißt, Vertrauen schaffen. Ich sprach von den Schatten der Scheiterhaufen, von dem Dunst der Scheiterhaufen, der das Gespräch erschwert, aber es gibt Zeichen dafür, dass Vertrauen geschaffen werden kann. Welch weiten Weg legte die Kirche von Papst Pius X. bis zu Papst Johannes XXIII. zurück. In einer Privataudienz, die Papst Pius X. am 25. Januar 1904 Theodor Herzl, dem Wegbereiter des modernen Israel, gewährte, sagte er ihm: „Wenn Sie nach Palästina gehen und Ihr Volk dort ansiedeln, werden wir Kirchen und Missionare bereithalten, es zum Christentum zu bekehren.“ Das klang in den Ohren Theodor Herzls wie eine Zurechtweisung.

Unvergesslich als Ausdruck der Brüderlichkeit waren auch für die Juden die 130 amerikanischen Delegierten, die im Oktober 1961 Rom besuchten, die Worte, mit denen Papst Johannes XXIII. sie empfing: „Ich bin Joseph euer Bruder.“ Hier war nicht mehr die Rede von Mission, denn dieses Wort ist durch die Geschichte verfehlter Religionsgespräche und die Erinnerung an Zwangspredigten und zumindest indirekte Nötigung zur Taufe schwer belastet. Aber hier wurde das brüderliche Gespräch angeboten.

Papst Johannes XXIII. hat auch durch die Tat bewiesen, dass ihm an der Partnerschaft gelegen war. Ein ständiges Ärgernis war die Karfreitagsbitte der Kirche für die Juden. Bei der Fürbitte für alle anderen wurde niedergekniet. Nur bei der Bitte für die Juden unterblieb die Kniebeuge. Im Gebet war außerdem die Rede von ihrer „perfidia“. Selbst noch die Fürbitte der Kirche schien somit antisemitischen Vorurteilen Vorschub zu leisten. Zwar hatte nach dem Zweiten Weltkrieg Papst Pius XII. darauf hinweisen lassen, dass „perfidia“ nicht mit Treulosigkeit, sondern mit Unglauben zu übersetzen sei [vgl. FrRu 45/48, S. 5 ff.].

Das Wort hatte jedoch in jahrhundertelanger Tradition diesen Sinn bekommen. Kein Dekret konnte hindern, dass sich mit dem Wort „perfidia“ sofort die Vorstellung von Treulosigkeit einstellte. Papst Johannes XXIII. begnügte sich daher nicht mit dieser Interpretation, sondern strich das verhängnisvolle Wort ganz. Wie sehr ihm daran lag, einen neuen Anfang zu setzen, kann man aus dem letzten Karfreitagsgottesdienst ersehen, an dem er teilnahm. Als der Priester versehentlich die gestrichenen Worte doch las, ließ er das Gebet unterbrechen und noch einmal von vorne beginnen. Eine verhängnisvolle Tradition sollte nicht wiederaufleben. Gewiss, nur eine kleine Geste. Aber oft kommt es auf diese kleinen Dinge mehr an als auf große Worte, denn sie schaffen die Atmosphäre des Vertrauens, die Voraussetzung des brüderlichen Gesprächs ist.

Das Gespräch ist nicht ganz ohne Vorbild. Mehr als einmal hat man im Mittelalter über Möglichkeiten und Grenzen eines Gespräches zwischen Vertretern verschiedener Religionen gedacht. Erinnert sei an zwei Beispiele aus Spanien. Der große jüdische Dichter und Religionsphilosoph Jehuda Halevy hat ein Religionsgespräch entworfen, das einem der größten spanischen Mystiker, Ramón Llull, wenigstens ist das die Meinung von Jizack Fritz Baer, zum Modell diente für seinen Liber „De gentili et tribus sapientibus“.

Darin begegnet uns ein heidnischer Philosoph, der recht unglücklich ist, denn er sagt sich: es ist ja alles so schön hier, aber einmal muss ich doch von dieser Schönheit Abschied nehmen, und was ist dann? In diesem Kummer trifft er drei Weise, einen Juden, einen Christen und einen Mohammedaner, und die erzählen ihm dann von dem sich offenbarenden Gott, und jeder schildert nun die Weise seines Glaubens. Am Schluss möchte der für den Glauben Gewonnene sich nun für einen besonderen Glauben entscheiden. Die drei Weisen sagen, er möchte das bitte nicht tun, sonst würde ihr Gespräch belastet werden, wenn er sich vorentscheiden würde. Das klingt also fast nach einer gleichberechtigten Partnerschaft.

Ramón Llull lässt das Buch so schließen: die drei, die nun miteinander gesprochen haben, die eins sind im Glauben an den sich offenbarenden Gott, sich aber in der Weise ihres Glaubens voneinander unterscheiden, beschließen, sich von jetzt an täglich erneut zu treffen, um das Gespräch fortzusetzen, bis sie endlich die Wahrheit gefunden haben.

Im Grund hat Llull keinen Zweifel, dass sie die Wahrheit finden werden. Er ist sicher, dass sie schließlich alle drei erkennen werden, dass nur der christliche Glaube der wahre ist. Wenn sie sich nur seine von ihm entwickelte und gelehrte Denkkunst zu eigen machen, dann müssen sie die Wahrheit des christlichen Glaubens erkennen. Er ist überzeugt, dass man den Glauben so mit den Kräften der Vernunft beweisen kann wie einen mathematischen Lehrsatz. Während er daher einerseits das Bild eines friedvollen Gesprächs entwirft und dabei Gedanken vorwegnimmt, die im 18. Jahrhundert Abbé Henri Gregoire entwickelt, lässt er sich andererseits von seinem König zur Predigt in Moscheen und Synagogen ermächtigen. Bedenken, die Zwangspredigten könnten die Freiheit der Gewissensentscheidung und damit eine wirkliche Bekehrung verhindern, weist er zurück. Seiner Ansicht nach bleibt die Freiheit des Gewissens unangetastet, auch wenn man die Andersgläubigen zum Anhören der Predigten verpflichtet, solange man nicht die Annahme der Taufe verlangt. Aber man wird nicht leugnen können, dass die Freiheit der Gewissensentscheidung durch die Zwangspredigten in Wahrheit eingeengt wurde.

Die Zwiespältigkeit in seinem Verhalten gegenüber Mauren und Juden hat ihren Grund in mangelnden theologischen Einsichten. Gott will das Heil aller Menschen. Wenn wir davon überzeugt sind, dann dürfen wir das Vertrauen haben, dass Gottes Führung auch den Menschen begleitet, der nicht zur Kirche und nicht zum Glauben an Christus findet. Ramón Llull fehlte dieses Vertrauen. Doch nicht nur ihm, vielen anderen ebenso.

Das Zweite Vatikanische Konzil strebt das Gespräch mit den Andersgläubigen an, weil sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Gott die zu finden weiß, die er erwählt hat. Ramón Llull hat sich aber auch zu wenig klar gemacht, dass Glaube nicht vernunftgemäß bewiesen werden kann, weil er Gnade, Geschenk ist. Seine Denkmodelle und -figuren mögen den Weg zum Glauben erleichtern, aber Gott selbst ist, der den Glauben schenkt. Kein Gespräch, keine Predigt, keine Diskussion können den Glauben erzwingen.

Das ökumenische Gespräch der Gegenwart wird nicht von dem Optimismus der mittelalterlichen Religionsgespräche getragen. Was ist heute sein Sinn? Soll es dazu führen, die Christen zu besseren Christen, die Juden zu besseren Juden zu machen? Oder wird am Ende die Scheidung zwischen den Andersgläubigen doch aufgehoben?

Wenn es Gott war, der in unseren Herzen den Wunsch zum ökumenischen Gespräch weckte, dann dürfen wir hoffen, dass sein Segen uns bei diesem Gespräch begleitet, und er es zu einem segensreichen Ende führt. Nicht unsere Meinung, nicht unsere Einsicht wollen wir dem anderen aufreden. Nicht um ein Verwischen der Gegensätze kann es gehen, noch um ein Vorwegnehmen der kommenden Einheit. Wohl aber geht es um die Bereitung des Weges. Was vor Jahrzehnten die Herausgeber der „Kreatur“ in ihrem gemeinsamen Vorwort schrieben, gilt bis heute, heute mehr denn je: Nicht vorwegnehmen, aber bereiten.

 


XV. Folge 1963/64, Nummer 57/60, Januar 1964, S. 9–13

 



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