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Lothar Ahne

„Jüdische und christliche Geistigkeit“

Ein Bericht über die 14. Studientagung des Deutschen Evangelischen Ausschusses für Dienst an Israel über Kirche und Judentum vom 13. bis 16. März 1962 in der Ev. Akademie Hofgeismar. Mit freundlichem Einverständnis des Verfassers und der Schriftleitung bringen wir den folgenden Bericht leicht gekürzt aus ‚Junge Kirche’ (23/5), Dortmund, 10.5.1962, S. 271 ff.

Dies war eine intime Tagung, wie sie alle zwei Jahre stattfinden soll, und die der Initiator und Leiter dieser in Europa einmaligen Dialoge Prof. D. Rengstorf (Münster) ein Zusammensein des „Einatmens“ nannte. Das Thema ergab sich sozusagen von der übriggebliebenen Insuffizienz der SYNAGOGA in Recklinghausen. Es sollte vom tragenden Kreis der Teilnehmer dieser Tagungen aufgegriffen werden (vgl. FrRu XIII/50/52, S. 73 f., Anm. d. Red. des FrRu).

Wie immer war es auch diesmal eine europäische Angelegenheit, nicht nur im deutschen Rahmen begrenzt. So sprach Pfarrer Rasmussen am Begrüßungsabend – er ist Däne aus Kopenhagen. Von 1936 bis 1939 war er in Polen. Der polnische Antisemitismus war derart, dass viele polnische Juden die Arbeit der Judenmission dankbar begrüßten. Es kann dabei nicht um einen Monolog, sondern nur um Dialog gehen.

Rabbiner Dr. Maybaum (London) begann damit, dass er auf die kranken Juden in London während des Krieges hinwies, die die Christen in zwei Kategorien ansahen: in solche, die Juden schützen und die es unterlassen. England zeichne sich als pluralistische Gesellschaft dadurch aus, dass die Juden nur eine Gruppe unter anderen seien. Die Zusammenkunft von Juden und Christen in der Art der Tagungen Prof. Rengstorfs unterscheide diese Epoche von allen anderen – und das sei wichtiger als Glenn und Gagarin! Maybaum verwies auf den amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr, der gefordert habe, dass die Mission vor den Juden halt machen müsse. Früher sah der Jude den Christen als goj – heute als getauften goj. Der Jude habe den goj neben sich, der Christ in sich.

Petrus Huigens, bekannt durch seine beiden Bücher über das altneue Israel, berichtete, dass sich das religiöse Gespräch in Israel geradezu aufdränge. Auschwitz sei der totale Bankrott des Christentums gewesen, habe ihm eine Frau im Land der Väter gesagt. Der Dialog müsse mit der heiligen Schrift geführt werden. So werde die Bibel den Christen neue Einsichten vermitteln.

Die Gestalt des Patriarchen Abraham stand im Mittelpunkt der Referate, die Professor Dr. Edmond Jacob (Strasbourg) und Landesrabbiner Dr. Meyer (Dortmund) hielten. Hören wir zuerst Jacob: Das Alte Testament kenne den „Gott Abrahams“. Das ist eine klare Definition Gottes, die zugleich die Bedeutung Abrahams kennzeichne. Abraham ist „Vater“ für Christen und Juden. Das doppelte Glaubensbekenntnis des Alten und Neuen Testaments laute „unser Vater Abraham“. Die Historizität Abrahams stehe fest.

Vater bedeute: wenn der Sohn vom Vater spricht, ergebe das Distanzierung und Identifikation zugleich. Denn der Sohn trage das Bild des Vaters mit sich: corporate personality. Israel habe in Abraham immer seine Bestimmung gesucht, nicht das, was er und es sein wollten. Es gehe dabei um einen doppelten Bund: bestimmt von Blut und der Korrespondenz von Verheißung und Erfüllung. Nicht das Getto, sondern das Sein in der Welt für die Welt bestimme den Vater der Glaubenden. Er tritt als Heerführer auf, als Mensch, der ganz Gott hingegeben sei, als Missionar in der Begegnung mit Melchisedek. Die Völker werden mit dem Abrahamssegen gesegnet werden. Bei Abraham hänge alles an der Segensverheißung, mehr als am Glauben. Die Bekehrung der Heidenvölker zu Gott sei der Befehl an die Geschichte, den Gott mit Abraham erteilt habe.

Der Glaube Abrahams ist die Konkretisierung der Erfahrung und Mission Israels. Theophanie und Bundesschluss, die später bei Mose und Jesaja auftreten, sind bei Abraham schon da. Der Glaube ist keine Eigenschaft, sondern aktuelle Haltung. Der Gegensatz Glaube–Werke ist im Alten Testament ein Pseudoproblem. Glaube ist eine Tat – „er macht sich fest in Gott“. Die Erwählung Israels wird im Glauben, also in Entscheidungen und Taten, realisiert. –

Im Neuen Testament ist die Reihenfolge Abraham–Mose. Abraham bleibt der Vater, Glaubensheld und Gottesfreund im Neuen Testament. Abraham wird nicht „christlich“ überhöht. Er ist das erste Glied einer Kette, die sich durch das Alte und Neue Testament zieht (Römer 4).

Die Heilsgeschichte hat zwei Höhepunkte: mit Abraham beginnt die Erwählung, mit Jesus Christus die Auferstehung. Die Bedeutung Abrahams für den christlichen Glauben legte Jakob in drei Punkten dar:

1. Glaube ist Aufbruch, Gehen und Wandern. Der „Gott Abrahams“ ist der, der mit seinem Volk zu einem Ziel auf vorgezeichneter Straße wandert. Damit sind Geschichte und Eschatologie in ein untrennbares Verhältnis gekommen.

2. Der Glaube hat eine universale Dimension. So wie Abraham und Israel soll die Kirche Glaube ausstreuen und missionieren. Hat Abraham denn missioniert: In Melchisedek begegnet Abraham einem kananäischen Priesterkönig mit dem Gott El elion. Abraham protestiert nicht gegen den Segen Melchisedeks. Die Erkenntnis des Schöpfergottes der „Heiden“ wird ihm so groß, dass er sie aufnimmt. Mission ist zuerst Aufnahme dieser Art und dann Gespräch und Austausch.

3. Abraham hilft dem Glauben zu einer menschlichen Dimension – er ist der „Freund Gottes“. In der Fürbitte für Sodom betet und redet er menschlich mit Gott und vermeidet dennoch jeden Synergismus wie die Vermenschlichung Gottes. Vom irdischen Vater Abraham führt uns Jesus zum himmlischen Vater. Leo Baeck: mit Abraham hat eine Sache angefangen, die uns alle angeht.

Landesrabbiner Dr. Hans Chanoch Meyer (Dortmund) führte aus, dass Abraham für den jüdischen Glauben mehr bedeute als Mose. Es gibt kein jüdisches Hauptgebet, in dem nicht Abrahams gedacht würde. Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bedeute immer: Gott erscheint helfend, wo Not ist. Es gibt keinen Feiertag, an dem Abraham nicht im Mittelpunkt steht. Selbst bei Pessach spielt Mose keine gleich qualifizierte Rolle.

Die Hohen Festtage sind ein einziges Loblied auf Abraham und die Väter. Bei Rosch-ha-schanah spielt Abraham die Rolle. Die Widderhörner-schofarim, die am Jom Kippur geblasen werden, erinnern an die Opferung Isaaks (Gen 22): Gottes Gnade wird helfen auch in der größten Krise, wie er Abraham am Berg Morija half. Beim Minchagebet des Jom Kippur wird die Umgebung Gottes vor Augen gemalt: die Erzengel beten mit Gebetsriemen, und sogar Gott habe solche angelegt, auf denen zu lesen steht: Wer ist wie Israel? Zu dieser späten Stunde (mincha) soll die Opferung Isaaks erfolgt sein. Und es heißt in den Worten der Weisen, dass das, was unten geschieht, oft größer sei als das, was oben ist.

Die Geschichte Abrahams sei Alt und Jung verständlich. Selbst Salomo und David hätten nicht den gleichen Rang wie Abraham. Keiner von ihnen verdiene den Namen „unser Vater“. Abraham stehe nicht nur in den Büchern – er sei eine tägliche Begegnung des Juden mit ihm. Es sei das Verwandtschafts- und Liebesverhältnis des Enkels zum Großvater. Kein Jude könne leben, ohne auf Abraham zu stoßen.

Zur Frage „Jüdische Geistigkeit?" sprach zuerst Rabbiner Dr. Maybaum (London). Man kann jüdische Geistigkeit in zwei Worte fassen: höre und liebe! Das Judentum ist nach einem seiner Gebete ein Volk, „das deinen Namen eint“. Während Christen und Mohammedaner Gott bekennen, habe das Judentum Zeuge der Einheit Gottes zu sein, und zwar in der Welt. An der Sabbatfeier machte Maybaum das deutlich. Sabbat ist das Erlebnis, dass die Welt Gottes vollkommen ist. Sie bedarf nicht des Menschen zu ihrer Verbesserung. Darum ist es für den Juden die Hauptfrage, ob er den Sabbat feiern kann. Unter Hinweis auf F. Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ III, 1261, und „Briefe“, 331 f.2, wird der Unterschied von Sabbat und christlichem Sonntag klar.

Für den sabbatfeiernden Juden ist die Welt perfekt, sie gehe von der Schöpfung zur Erlösung. Was dazwischen sei – die Geschichte – sei unwichtig. „Seitenblicklos geht der Jude durch die Weltgeschichte“ (F. Rosenzweig a. a. O.). Wichtig sind ihm nur zwei Daten: Schöpfung und Erlösung. Am Sabbat kehrt der Jude zur Schöpfung zurück. Die zukünftige Welt wird ein vollkommener Sabbat sein. Der Christ blicke vom ersten Tage der Woche an vorwärts.

Das Exil, die galuth, bleibe die Bestimmung des Judentums. Es bleibe dabei, was F. Rosenzweig gesagt habe: das jüdische Volk ist ein Volk ohne Land, ohne Volk und ohne Sprache. Auch der Staat Israel habe daran nichts geändert. Erst am Ende der Tage sei die galuth zu Ende. Ein Jude, der die galuth nicht ertragen wolle, gleiche einem Christen, der dem Kreuz ausweiche. Zwar sei der Staat Israel wichtig – aber keine Lösung der Judenfrage. Die löst erst der Messias. Vorher gibt es nur Episoden.

Zionismus wie Antizionismus waren solche Episoden, die in die Rumpelkammer der Geschichte gehören. Die Geschichte kann überhaupt nur Episoden etablieren. „Ich bete um eine lange Episode des Staates Israel“, sagte Maybaum.

Worin liegt der Unterschied zwischen Judentum und Christentum? Judentum ist Monotheismus, während Christentum und Islam monotheistische Zivilisationen seien. Der Monotheismus trifft auf je verschiedene Gemeinschaften: im Judentum bleibt es die Familie, denn Familie wie Welt sind gotterschaffen. Im Christentum ist die tragende Gemeinschaft die polis. Der dialektische Gegensatz zum Staat bleibe an diesen gebunden. Ist die Kirche ein spiritualisierter Staat? Der Islam treffe auf gesellschaftliche Gruppen der verschiedensten Art. Es gehe um ahabija, um Zusammensein. Aber solche Gruppen ohne Staat fallen immer dem Staat zum Opfer. Es kommt zur Despotie. Der Islam ist die Welt des späten Hellenismus, nicht eine moderne Demokratie.

Das Judentum der galuth schaffe keine Zivilisation, keinen Staat. Darum gibt es keinen Gegensatz von Gesetz und Liebe, sie seien im Judentum eine Einheit, da es nicht in den geschichtlichen Prozess eintritt. Christentum und Islam sind Judentum im geschichtlichen Prozess. Das Christentum habe den Typ des citoyen geschaffen, den Soldatenbürger – aber was ist der bourgeois? Im Christentum ist der freie Mensch zu seinem Recht gekommen. Die paulinische Mission ist eine solche am westlichen Menschen. Im Islam darf der Mensch nicht schöpferisch sein – ihm bleibt nur die Flucht in die Arabeske. Der freie schöpferische Mensch ist durch das Christentum von Griechenland nach Jerusalem gebracht worden. Prometheus wird zum Geschöpf bekehrt.

Das Christentum habe seine Wurzeln – so Leo Baeck – in der Makkabäerzeit. Damals entstand der vertikale Messianismus zu dem jüdisch-horizontalen. Beide können koexistieren. Das ist nach Baeck der Friede zwischen Judentum und Christentum. Der Jude galt immer als bourgeois –  Bürger und Jude werden identifiziert. Der bourgeois ist antispirituell, er weicht der Tragödie aus. Golgatha überwindet die Tragödie. Aber Isaak braucht nicht geopfert zu werden! Der Vater-Sohn-Konflikt findet nicht statt. Im Christentum wird der Sohn, der mit dem Vater eins ist, geopfert.

Die Naziperiode bezeichnete Maybaum als „weißen Islam“, den weißen Islam des Humanismus. Die Ostkirche stehe dem Islam am nächsten. Der neue Islam beginnt mit Humanismus und will die Welt ohne den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs verstehen. In der „Einheit Gottes“ sind Opfer und Glück keine Gegensätze mehr wie auch Gerechtigkeit und Liebe. Die Welt kenne den Juden nur als Blutzeugen, aber auch in der Sabbatfeier könne sie den Juden sehen. Denn da ist der Prometheus erlöst durch das Werk der Hände dessen, der die Welt schuf. In der technifizierten Welt stillsitzen und Frieden haben, das hieße den Segen verstehen.

Die Diskussion, an der sich einmal alle Teilnehmer, zum anderen nur die vier Referenten beteiligten, war lebhaft bis stürmisch, tief- und weitgreifend. Sie kann in ihren Phasen und Assoziationen vom Chronisten nicht aufgezeichnet werden. Man muss dabei gewesen sein.

Über „Christliche Geistigkeit?“ (das Fragezeichen war dem Referenten sehr wichtig) sprach Professor Dr. H. Noack (Hamburg). Geistigkeit ist kein christlicher Terminus – darum bleibe das Thema fragwürdig im positiv-negativen Doppelsinn. Es erhebe sich die Frage, wann sei eine Geistigkeit schon christlich oder noch christlich. Sie ist es sicher nicht als Produkt des menschlichen Geistes – das zeige das Petrusbekenntnis. An Pascal, Hamann, Matthias Claudius und Kierkegaard zeigte der Referent die obengenannte Fragwürdigkeit auf. Ohne Christus und die Geschichte des Christusglaubens wären sie nicht so, wie sie waren. Das Problem der Vernunft und des europäischen Denkens hätte sich nicht so gestellt.

Dazu gehöre auch der Stachel der Kritik, dass die Vernunft durch die Gefallenheit des Menschen verdunkelt sei. Dunkelheit in diesem Sinne kannte der Plato des Höhlengleichnisses nicht – diese Fragwürdigkeit ist mehr als antike Skepsis. Christliche Geistigkeit könne nie Autonomie im Sinne von Autarkie sein. Es gibt keinen christlichen Staat, denn das Christentum kenne keine bestimmte Staatsform.

Christliche Geistigkeit bedeute vielmehr, dass alle weltlichen Dinge wie Staat, Kunst, Technik etc. ihre letzte Verantwortlichkeit im Glauben wahren. Der Glaube befreit das Denken zur Vernunft der je eigenen Sache. In diesem Sinne ist Säkularisation legitim. Diese sei aber hinwiederum als gegen den Glauben gerichtet möglich, wirklich und brutal, weil das Evangelium die Welt freigegeben habe, freilich unter der Voraussetzung der Liebe und des Glaubens.

Christliche Geistigkeit steht dem Glauben als Nachfolge jeweils näher und ferner – aber die pistis müsse als Dominante spürbar sein, damit Christlichkeit nicht nur als ärmliches und kaum verhüllendes Gewand da sei. Es gebe auch keinen christlichen Stil – er könne aber vom Glauben her dominant bestimmt sein. Kurz, der vom Glauben beseelte Geist, das sei christliche Geistigkeit. Dafür gebe es kein Rezept, kein planbares Werk – aber sie sei auch kein leeres Wort, sondern komme aus der Erfahrung des Wortes Gottes mit dem Menschen.

Am Schluss der Tagung nahm deren Initiator Prof. Rengstorf noch einmal das Wort: Das Niveau sei nicht gesunken. Wir werden weitermachen, denn das Gespräch mit Israel sei Sache der gesamten Christenheit einschließlich der Ostkirche. Die Anregung zu diesen Tagungen kam 1947 aus London von Rev. H. D. Leuner. Die Kirchenleitungen kämen an der Frage der Arbeit dieser Tagungen nicht mehr vorbei ...

  1. „Am Sonntag häuft sich der Christ seinen Schatz geistlicher Stärkung, den er im Lauf der Woche verbraucht. Der Sabbat ist Fest der Erlösung; er ist es sogar doppelt, in seinen beiden Begründungen, sowohl als Erinnerung des Werks vom Anfang, denn er feiere die göttliche Ruhe des siebten Tags, wie als Gedenktag der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten, denn sein Zweck ist, dass Knecht und Magd ruhen wie ihr Herr. Schöpfung und Offenbarung münden bei ihm in der Ruhe der Erlösung.“
  2. „Der Sabbat soll jeden Werktag lehren, auszuharren bis zum Ende und gewiss zu sein, dass es kommt. Wenn ich aber der Vollendung gewiss bin, ‚mit vollkommener Gewissheit’ – wie soll mich dann der Weg dorthin so maßlos interessieren ...“

XIV. Folge 1962, Nummer 53/56, September 1962, S. 32–33.


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