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Dr. David Flusser

Die Geschichte des Zweiten Tempels

Ein Problem historischer Forschung

Die Geschichte des Zweiten Tempels1, der Zeit zwischen dem Ende des babylonischen Exils und der Zerstörung des Tempels durch Titus, ist im allgemeinen weniger bekannt als die biblische Epoche des Ersten Tempels. Die biblische Geschichte ist ja einem jeden jüdischen und christlichen Kind ziemlich geläufig. Dennoch ist die Geschichte der Zeit des Zweiten Tempels vielleicht noch bedeutsamer als die eigentliche biblische Periode.

Bevor wir uns mit dem eigentlichen Problem dieser Zeit befassen, sind zwei Punkte klarzulegen: Einmal endet die biblische Geschichte nicht genau mit der Zerstörung des Ersten Tempels durch die Babylonier; es gab auch noch Propheten zur Zeit der persischen Herrschaft über das Land Juda, und gerade diese Propheten, z. B. Zecharia und Maleachi und besonders der Prophet, dessen Worte im 40. Kapitel des Buches Jesaja beginnen, und der ein Zeitgenosse des Perserkönigs Cyrus war, bilden den Übergang zwischen der biblischen Zeit, zu der sie ja noch gehören, und der Zeit des Zweiten Tempels. Darum müssen diese späten Propheten auch als die ersten Zeugen der neuen Periode gelten.

Ferner haben wir zu beachten, dass ein Mensch aus der Zeit der Makkabäer auf die Frage, welche Zeit wichtiger sei, die seine oder die biblische, sicher geantwortet hätte, seine Zeit sei nur eine Epoche der Epigonen im Vergleich mit der goldenen Zeit der großen biblischen Gestalten. Wir aber würden ihm nicht zustimmen. Denn sein griechischer Zeitgenosse würde auch meinen, die große Zeit der Griechen sei nur die alte klassische Periode Athens gewesen, und doch war es gerade seine eigene, die hellenistische Zeit, die der Welt die griechische Bildung übermittelt hat. Es gibt also gleiche Züge in der Entwicklung der jüdischen und der griechischen Kultur: die klassische Kultur beider Völker war geographisch eng umgrenzt, Judentum wie auch Christentum wurden zu Weltkulturen erst in der hellenistischen Zeit. Damals wurde das klassische Erbe dieser Kulturen zum Eigentum der Menschheit.

Judentum als geistige Weltmacht

Das Judentum des Zweiten Tempels hatte, vielfach ohne es zu wissen, eine neue Botschaft zu verkünden: Die jüdische Religion wurde zu einer Weltreligion. Das war möglich, weil die jüdische Religion, deren Gott der Weltschöpfer ist, sich im Grunde immer an die ganze Welt gewandt hat. Es gibt im Judentum eine merkwürdige Polarität: die Religion des auserwählten Volkes ist gleichzeitig universelle Religion. Diese Polarität wurde besonders in der Zeit des Zweiten Tempels offenbar. Auf der einen Seite horchten viele Menschen unter den Völkern auf die Juden und wurden entweder Halbproselyten, die an den einen unsichtbaren Gott glaubten, oder sie nahmen das jüdische Brauchtum ganz an und wurden volle Juden. Auf der anderen Seite wandten sich die Juden von der „Unreinheit“ der Völker ab, es entwickelte sich ein jüdischer Separatismus und als Antwort auf ihn der griechische „wissenschaftliche“ Antisemitismus.

Schließlich entstand aus dem Judentum die neue Religion, das Christentum, das die Nichtjuden nicht durch das Gesetz gebunden hat. Es scheint, dass viele das Christentum angenommen haben, weil es ein „billigeres“ Judentum war. So ist das jüdische Erbe, nicht ohne Änderungen, an die Völker gelangt, während das von der neuen Religion misshandelte und gemarterte Judentum aus der großen Welt verdrängt wurde und sich in die „leidende Synagoge“ verwandelte.

Die Zeit des Zweiten Tempels war also die einzige Periode der langen jüdischen Geschichte, in der das Judentum zu einer geistigen Weltmacht wurde. Die Erforschung dieser Zeit ist sehr wichtig, da nur ein richtiges Verständnis des damaligen Judentums eine Einsicht in die Grundlagen unserer Zivilisation ermöglicht. Weiter müssen wir wissen, dass die spätere Entwicklung des Judentums nicht eine direkte Fortsetzung der biblischen Zeit ist, sondern auf der neuen Botschaft des Judentums des Zweiten Tempels fußt. So besitzt die Erforschung jener Zeitperiode eine zentrale Bedeutung nicht nur für die Universalgeschichte, sondern auch für uns Juden: wenn wir uns selbst kennen wollen, müssen wir wissen, was jene unter unseren Vorfahren gewollt haben, die unser Judentum begründet haben.

Nun wird man mit Recht fragen, welche Werke zu empfehlen sind, um diese wichtige Zeit unserer Vergangenheit kennen zu lernen. Leider ist kaum ein Buch zu nennen, ohne dass Einschränkungen seiner Empfehlung zu machen sind. Es gibt zwar manche vortreffliche Einzelstudien, aber zusammenfassende Darstellungen der geistigen und materiellen Geschichte der Zeit des Zweiten Tempels sind entweder – wie z. B. das Buch Klausners – veraltet oder ungenügend.

Verfehltes Kausalitäts-Streben

Wir können in diesem Zusammenhang nicht viel über die allgemeine Krise der Geschichtsforschung sagen. Es muss genügen, darauf hinzuweisen, dass wir heute eher zu ergründen suchen, wie die Ereignisse stattfanden, als warum sie geschahen. Die frühere kausal ausgerichtete Geschichtsauffassung entsprang irgendwie der Ansicht, dass es eine eiserne Notwendigkeit in der Entwicklung gibt, die vorschreibt, dass einem Ereignis das andere folgen müsse. Im Grunde genommen stellte diese Geschichtsauffassung ein nachträgliches Suchen nach Gründen dar, mit deren Hilfe ein Ereignis als unabwendbar dargestellt werden sollte.

Diese merkwürdige Art, die Geschichte scheinbar induktiv, aber in Wirklichkeit doch deduktiv nach rückwärts zu konstruieren, ist noch in der Geschichtsschreibung des Judentums zu spüren. Nehmen wir an, dass der Aufstand der Makkabäer durch den religiösen Druck seitens des Königs oder durch die Aktionen der jüdischen Hellenisten in Jerusalem oder durch die wirtschaftliche Not der jüdischen Bauern entstanden ist; ist dies die ganze Antwort? Warum haben ähnliche Aufstände der damaligen Zeit zu nichts geführt, während der Makkabäeraufstand doch eine entscheidende Station auf dem Wege zur neuen Kristallisierung des Judentums war? Ist es also nicht wichtiger, nach den Kräften, die damals im Judentum wirksam waren, zu fragen, als die Frage nach der Ursache des Aufstandes nur rein kausal zu beantworten?

„Weltanschauung“ und Forschung

Aber nicht nur die veraltete Methode der eisernen Kausalität erschwert die Erforschung der Geschichte des zweiten Tempels, sondern auch der Einfluss von Weltanschauungen der Forscher selbst. Dabei wollen wir nicht behaupten, dass Objektivität des Forschers gleichbedeutend mit Mangel an Weltanschauung ist: ein solcher „objektiver“ Forscher ist ja nur ein Sammler. Die Weltanschauung soll den Forscher leiten, aber sie soll nicht die Tatsachen nach ihrem Bilde zustutzen. Heute ist zum Beispiel in Israel üblich, die Geschichte des Zweiten Tempels mit den Augen des säkularen Nationalismus zu sehen; man vergisst gern, dass das Judentum eine religiöse Gemeinschaft war und der moderne Nationalismus damals weder bei Juden noch bei Nichtjuden existiert hat.

Besonders traurig steht es um die Erforschung des hellenistischen Judentums. In der Forschung wird sozusagen der Kampf zwischen den heutigen Anschauungen über die Berechtigung der Diaspora aufgrund eines Materials aus ferner Vergangenheit geführt. Dabei ist zu sagen, dass die Quellen über die jüdische Diaspora des Altertums so verblüffende Ähnlichkeit mit der modernen Zeit zeigen, dass sich dieser Parallele kein Beobachter entziehen kann. Es ist also nicht verwunderlich, dass die Anhänger der modernen Emanzipation in den hellenistischen Brüdern in Alexandrien Verfechter derselben Lehre sahen, die sie selbst vertraten: das hellenistische Judentum war in ihren Augen ein Versuch, unter Ablehnung der engstirnigen Auffassung der Rabbiner das Beste des Judentums mit dem Besten des Griechentums zu verbinden. Man pflegte zu sagen, dass das hellenistische Judentum die enge Judengasse verließ, und dass es ihm gelang, auch rechtlich emanzipiert zu werden.

Jetzt, nach der Tragödie des europäischen Judentums, bläst hier im Lande der Wind nach der entgegengesetzten Richtung: es geht darum, den Versuch der hellenistischen „Assimilation“ als gescheitert zu erklären. Die Juden Alexandriens waren angeblich nie Vollbürger der Stadt, und emanzipationslustig waren hauptsächlich die höheren Schichten des alexandrinischen Judentums, während die niedrigen Schichten des Judenvolkes von der Emanzipation nichts wissen wollten. Die Emanzipation musste misslingen, was sich zeigte, als Ägypten römisch geworden war und die Römer sich mit den Griechen gegen die Juden verbanden. Damals kam es angeblich zu einer „zionistischen“' Selbstbesinnung unter den Juden Alexandriens – aber es war zu spät!

Leider ist es nicht möglich, hier darzustellen, wie es damals wirklich in Alexandrien aussah. Jedenfalls ist ihr Scheitern noch kein Beweis dafür, dass man eine Bewegung verurteilen soll; schließlich ist auch nach wenigen Generationen der Makkabäerstaat gescheitert. Eines sollte man sich jedenfalls klarmachen: Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem hellenistischen Judentum und dem modernen Judentum der Diaspora. Wie viele Juden fielen im Laufe der modernen jüdischen Geschichte vom Judentum ab, aber in der langen Geschichte des antiken alexandrinischen Judentums kenne ich nur zwei Beispiele von Juden, die Heiden geworden sind, während wir wissen, dass viele Heiden von den hellenistischen Juden der Diaspora jüdische Sitten übernommen haben und sehr viele Halbproselyten oder sogar volle Juden geworden sind. Wie kann man also die antike jüdische Stärke mit der modernen Schwäche vergleichen?

Christliche Irrtümer

Eine andere weltanschauliche Verwirrung zeigt die meiste christliche Forschung über die Zeit des Zweiten Tempels. Wir wollen nicht über das Unwissen mancher christlicher Forscher in Bezug auf jüdische Materien sprechen, sondern nur darauf aufmerksam machen, wie sehr das Judentum manchmal von der christlichen Forschung verzeichnet wird.

Das Christentum vertritt oft die Anschauung, dass die jüdischen Gebote eine schädliche Einrichtung seien und dass das Judentum eine separatistische, nationalistische Religion sei. Gleichzeitig aber ist es klar, dass das Christentum aus dem Judentum entstanden ist. Wie löst man also die scheinbare Antinomie? –Neben den „bösen“ Juden, die an dem Buchstaben geklebt haben, hat es auch „gute“ Juden gegeben. Wo man also in den Quellen liest, dass wir den Schabbat beobachten sollen, da handelt es sich um eine pharisäische Quelle, wo man dagegen nur über Moral oder Gotteserkenntnis liest, da sind die „guten“ Juden am Werk. Es ist nicht angebracht, über diese merkwürdige Auffassung zu diskutieren, aber viele Forscher dieser Art verbinden Ignoranz mit einer Verfälschung der Tatsachen. Dass aus dieser Sicht heraus auch die Entstehung des Christentums nicht verstanden werden kann, ist offensichtlich.

Das Problem der Quellen

Wenn wir von einer Unkenntnis der Materie gesprochen haben, sind wir zu einem weiteren wichtigen Punkt gelangt. Es ist heute sehr schwer, ein umfassendes Bild des Judentums des Zweiten Tempels zu geben, weil die Quellen aus dieser Zeit so verschiedenartig sind und aus verschiedenen Kreisen stammen. Wie kann ein Forscher all dies Material verstehen und intellektuell verarbeiten? Manchmal hat man das Gefühl, als habe es damals einige Judentümer und kein zusammenhängendes Judentum gegeben. So sehen wir das hellenistische Judentum vor uns, das aus einer Symbiose zwischen jüdischen und griechischen Werten entstand; der Erforscher dieses Judentums muss nicht nur die jüdischen Quellen, sondern auch griechische Kultur und Philosophie beherrschen.

Zum Verständnis des rabbinischen Judentums müssen wir die ganze Halacha kennen, wobei wir manchmal mühsam feststellen müssen, wie alt diese oder jene sich im Talmud findende Tradition ist. Wir besitzen die Schriften des Flavius Josephus, des einzigen großen Historikers der Zeit, aber es fällt uns schwer, seine Berichte aufgrund anderer Quellen zu verifizieren. Da haben wir die verschiedenen Apokryphen, deren Position im Leben ihrer Zeit manchmal schwer festzustellen ist. Manche von ihnen, unter ihnen auch die Rollen vom Toten Meer, sind Zeugnisse der jüdischen Apokalyptik, der erneuten Prophetie jüdischer Seher, die sich am Ende der Zeiten wähnten und meinten, sie besäßen authentische direkte Offenbarungen der Gottheit.

Wie kann man aus all diesen verschiedenartigen Quellen feststellen, was einst vor sich gegangen ist? Es ist wahr, dass das damalige Judentum differenziert war, dass es viele Kreise gegeben hat, die voneinander verschieden waren, aber es gab ja unter ihnen auch viele Zusammenhänge, und sie standen alle auf derselben Grundlage des damaligen Judentums. Um zu einem zutreffenden Bild zu gelangen, müsste man so viel Wissen auf ganz verschiedenen Gebieten haben, wie es kaum für einen einzelnen Forscher möglich ist. Darum ist es ratsam, zunächst einzelne Fragen zu erforschen und sich möglichst auf alle zur Verfügung stehenden Quellen zu stützen. Um etwa die Geschichte eines Gebetes zu verstehen, dessen Entstehung bekannte Forscher erst in die späte talmudische Zeit setzten, muss man das talmudische Material, die Rollen vom Toten Meer, ein apokalyptisches Buch aus der Zeit des Zweiten Tempels und die christliche Liturgie aus der patristischen Zeit zu Rate ziehen.

Dies möge auf die Schwierigkeiten hindeuten, die der Erforschung der Geschichte des Zweiten Tempels im Wege stehen. Es ist zu hoffen, dass die Arbeit der auf diesem Gebiet tätigen Forscher Erfolg haben wird, sodass es noch in dieser Generation möglich sein wird, ein umfassendes Bild der Zeit zu geben. Dies wäre sowohl für das Verständnis der Weltgeschichte wie auch für die jüdische Geschichte von größter Bedeutung.


 

  1. Wir freuen uns, mit dem Einverständnis des Verfassers und der Schriftleitung den folgenden Beitrag aus dem Mitteilungsblatt der „Irgun Olej Merkas Europa“ (30/24) vom 15.6.1962 nachdrucken zu dürfen. Zu dem darin enthaltenen Satz: „Es scheint, dass viele das Christentum angenommen haben, weil es ein ‚billigeres’ Judentum war“, sei bemerkt, dass uns hier derselbe Sachverhalt jüdisch gesichtet zu sein scheint, für den der Heidenapostel als Christ die Worte fand: amissio eorum reconciliatio est mundi (Röm 11,15; vgl. 11,28!). Dass die Juden (zunächst) beiseitegelegt, zurückgestellt, nicht durch unanfechtbare göttliche Manifestation zum Glauben an Jesu Messianität und Gottheit genötigt wurden, das hat den Völkern einen leichteren, „billigeren“ Weg zum „wahren Judentum“ (i. S. von Röm 2,28 f.) eröffnet, als der gewesen wäre, den sie bei vollzähliger Annahme des Apostelzeugnisses von Jesus durch alle Juden zwangsläufig hätten einschlagen müssen; über den Vollproselytismus ...

XIV. Folge 1962, Nummer 53/56, September 1962, S. 19–22


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