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Professor Dr. Karl Thieme

Zeugnispflicht, Toleranz und geschwisterliche Liebe

zwischen den im Glauben getrennten Brüdern

Vortrag am 24. September 1961 in Nürnberg auf einer Tagung der katholischen Akademie in Bayern.

Meine Damen und Herren!

Das Thema dieses Vortrags – dessen werden Sie sich bewusst sein – ist ein ganz zentrales Thema des christlichen Daseins vom ersten Anfang an: Da sind Jesu Tränen über Jerusalem, der Wunsch des „Heiden-Apostels“ – wie wir ihn nennen – Paulus, „anathema, verbannt zu sein, von dem Christus hinweg um meiner Brüder willen“, im 9. Kapitel des Römerbriefes Vers 3, und wenig später bei allem prophetischen Ernst des Tadels der Verstockung dieser Brüder jene Ehrenerklärung, die er ihnen im 10. Kapitel Vers 2 gibt, „dass sie Eifer um Gott haben, freilich nicht nach voller Einsicht“, die Fürbitte Jesu Christi und die Fürbitte des Stephanus für die Verfolger, die beiden den Tod bringen; und weiter, wie viel Tränen wurden vergossen und wie viel Blut durch die Jahrhunderte, wenn solche Brüder einander gegenüberstanden, die den Glauben der jeweils getrennten Brüder nur als Irr-Glauben ansehen konnten und aus ihrem eigenen Glauben meistens die, nicht unter allen historischen Umständen notwendigerweise falsche, Folgerung zogen (wie wir heute dem Kommunismus gegenüber!), mit Gewalt dem Gewaltsamen im anderen Lager entgegentreten zu müssen, um es einmal sehr allgemein auszudrücken. Damit ist uns also der Ernst, die Wichtigkeit des Themas wohl genügend vergegenwärtigt, und wir können nun drei Dinge betrachten:

Zunächst einmal, was ist die Haltung, die von uns erwartet wird, um gegenüber im Glauben getrennten Brüdern uns richtig zu verhalten?

Zweitens, wie bestimmen wir denn überhaupt inmitten des Heeres unserer Mitmenschen die, die nun in irgendeinem ernsthaften Sinne unsere Brüder sind, nicht einfach nur Menschenbrüder im allerallgemeinsten Sinne, sondern im Glauben getrennt und doch Brüder?

Und schließlich drittens, was haben diese Erkenntnisse der richtigen Grundhaltung einerseits und derer, auf die sie sich hier bei unserer Untersuchung beziehen soll, andererseits für konkrete Konsequenzen?

I.

Zunächst also die rechte Haltung, aus der heraus wir solchen im Glauben getrennten Brüdern begegnen. Eine rechte Grundhaltung oder Grundeinstellung ist in unserer Sprache eine Tugend, lateinisch eine virtus. Und Tugend ist, sagt uns der philosophische Lehrer, sagt uns Aristoteles, ein Mittleres zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Mir scheint, dass man das auch hier anwenden kann.

Es gibt einen Eifer, der ein blinder Übereifer, wie wir auch sagen, ist und den wir dann oft Fanatismus nennen, und es gibt auf der anderen Seite eine Art innere Untertemperatur. Sie tritt gegenüber Menschen im anderen Lager als Uninteressiertheit an ihren Meinungen und Überzeugungen, als etwas auf, was neutestamentlich wohl als jene Lauheit bezeichnet werden würde, von der es im apokalyptischen Brief an die Laodizener (3,16) heißt: „Weil du weder warm noch kalt bist, sondern lau, will ich dich ausspeien aus meinem Munde“; gegenüber Menschen ist das Abscheuliche diese Lauheit, gegenüber Lehren der Indifferentismus, der da sagt, so schrecklich kommt es ja schließlich nicht darauf an, warum soll nicht der andere auf seine Fasson selig werden, der sich also dem entzieht, mit eifriger Liebe dem anderen, gerade eben diesem andersgläubigen Bruder, innerlich nachzugehen.

Und so ist nun schon ein paar Mal das Wort „Eifer“ gefallen. Eifer ist in der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Bundes etwas außerordentlich Zentrales und Wichtiges, und solcher Eifer, der dann auch als Zorn in Erscheinung treten kann, ist zunächst einmal alles andere als etwa eine Untugend. Vom Zorn sagt Thomas von Aquin selbst, dass, wo er die gefühlsmäßige Folge eines mit der Vernunft Eingesehenen sei, dass solcher Zorn, solcher gerechte Zorn, den wir ja auch in der Person Jesu wiederholt antreffen, sogar ein Positivum sei, und, es ist merkwürdig, es gibt auf der anderen Seite einen Ausspruch Luthers, er kenne kein besser Werk denn Zorn und Eifer, „wenn ich gut lehren, schreiben und predigen soll, dann muss ich zornig sein, da erfrischt sich mein ganz Geblüte und alle unlustigen Gedanken weichen“. Man braucht nur an die Gestalt und Persönlichkeit dessen, der diesen Ausspruch getan hat, zu denken, um auch wieder die Gefahr zu ahnen, zu verspüren in solch einem Ausspruch: die Zweipoligkeit, die Doppelpoligkeit von Zorn und Eifer, Eifer und Zorn, die so leicht dem andersdenkenden Bruder gegenüber auftauchen, diese Doppelpoligkeit wird einem bewusst.

Fragt man, wo in der Schrift zum ersten Mal der Eifer als etwas zentral Wichtiges auftaucht, dann wird man vielleicht an jene Szene erinnert, wo auf dem Zuge von Ägypten nach dem von Gott den Söhnen Israels gelobten Land diese Söhne Israels sich von den Moabiterinnen verführen lassen, dann der Levit Pinchas in heiligem Eifer entbrennt und zunächst einen der Missetäter mit der Lanze ersticht.

Und dann wird von Gott selbst gesagt, dass durch diesen Eifer gegen den Sünder im Volke selbst Gottes Zorn, der bereits Todesopfer durch Seuche gefordert hatte, sozusagen unnötig geworden sei und nunmehr nicht mehr weiter über das Volk hereinzubrechen brauche; das steht im Numeri, dem 4. Mosesbuche, im 25. Kapitel, es ist eine der weniger bekannten, aber darum nicht weniger wichtigen Partien des Alten Bundes-Buches, und es wird von Paulus im 1. Korintherbrief wiederaufgenommen, im 10. Kapitel, 8. Vers.

Aber es ist ja auch von Gottes Eifer die Rede, und wir wissen ja, dass Gott ein eifriger Gott ist, ein eifersüchtiger Gott, der keinen anderen neben sich duldet, und dieser Zorn Gottes, dieser Eifer, diese Eifersucht ist geradezu identisch mit der Liebe Gottes, der unauslöschlich glühenden Liebe, die es nicht ertragen kann und nicht ertragen will, dass irgendwer anders als er, der Liebende, auch der Geliebte sei, dass die Liebe verstreut, verzettelt werde; also das Lieben und das Zürnen sind dieselbe Grundqualität, die sich eben nur dem, der in der Liebe ist, als diese schrankenlose Liebe, dem, der von der Liebe fällt, als dieser flammende Zorn enthüllt.

Und wir merken also, wie sehr das, worum es hier heute geht, im vollen Mittelpunkt der Offenbarung steht, von Gott her gesprochen, ebenso wie vom geschichtlichen Geschehen im Volke Gottes gesprochen, und dann erinnern wir uns daran, dass ja unsere deutsche Sprache uns eine Abwandlungsmöglichkeit für unser Empfinden gegenüber Anderen lässt, dass wir da, wo wir lieben, wenn wir in unserer Liebe enttäuscht werden, am ersten das Wort Zorn gebrauchen; da, wo wir mit einem Gegenüber, das uns wehtut, peinigt und dergleichen, bloß nicht fertig werden, ohne lieben zu können, im Gegenteil, dass wir da weniger von zürnen als von hassen sprechen, weshalb man eigentlich nie deutsch sagen kann, Gott hasse.

Gott hat es nicht nötig zu hassen, der schwache, der zu schwache Mensch hasst; der Mensch, der nicht irgendwie eigene Unterlegenheit zu verarbeiten hatte und mit der Verarbeitung nicht fertig wurde, der hasst nicht, der wird allenfalls, wie es im Psalter heißt „gleich dem Nichts den Bösewicht verachten“, gering schätzen den, der uns kalt lässt, der uns nicht bis zu einem Hass zu bewegen vermag; der nicht unterlegene Mensch, der wird nie hassen, sondern nur zwischen diesen beiden Möglichkeiten sich bewegen, entweder dieses Geringschätzens, Missachtens, vielleicht mit einem gewissen Bedauern des Anderen gemischt, oder dann des Zürnens, des Zürnens, das er da in sich aufsteigen fühlt, wo er in Liebe dem Anderen verbunden ist, etwas von ihm erwartet, wo das Herz an dem Anderen, dem ich zürne, hängt, mein eigenes Herz. Also von daher sehen wir, wie dieser Eifer gegenüber dem Bruder, eben nun gerade dem andersgläubigen, dem eventuell in wesentlicher Hinsicht irrenden Bruder, sehr zentral hineinreicht in das innerste Geheimnis unseres Glaubens.

Andererseits werden wir in der Schrift immer wieder gewarnt vor raschem Eifer, vor raschem Zorn. Nicht umsonst heißt es in dem sogenannten Hohen Lied der Liebe, im 1. Korintherbrief, Kapitel 13: „Die Liebe eifert nicht.“ Nicht umsonst warnt der Jakobusbrief, diese wunderschöne, der Bergpredigt am tiefsten verwandte unter den Episteln, „vor Eifer und Zorn“. Nicht umsonst wird der Eifer immer wieder aufgezählt in den sogenannten Lasterkatalogen der Apostelbriefe, wie etwa Galater 5,20, als das, was nicht vorkommen, was nicht sein soll.

Das ist also sehr merkwürdig, wir haben beides, wir haben wieder denselben Paulus, der sagen kann im 2. Korintherbrief, 11. Kapitel, dass er mit Gottes Eifer um seine geliebten Korinther eifere, die ja auf mancherlei Abwegen sind und seinen berechtigten, seinen nur zu berechtigten Zorn provoziert haben, und derselbe Paulus, der zum Teil in denselben Briefen vor dem Eifer warnt.

Dieser vorschnelle oder rasche Zorn und Eifer klingt zunächst an an die noch harmlosere Form der bloßen leichtfertig unbeherrschten, gegen die Tugend des Maßes verstoßende Form des Zürnens, aber dahinter taucht dann immer wieder das wichtigere auf, dieses Moment der Inanspruchnahme einer Art persönlicher Teilhabe am Eifer Gottes, am Zorne Gottes, das heißt die Fehlhaltung ist nicht identisch mit einem bloßen Zuviel einer an sich guten Qualität, die nun einfach ein wenig allzu eifrig, allzu temperamentvoll ausgewirkt wird – das passiert uns allen – in gewissen Dingen des Alltags, die des Zornes eigentlich gar nicht würdig sind, sondern es steht darin eine Art Anmaßung, so über den je anderen urteilen zu dürfen oder zu müssen, wie Gott urteilt. Gerade im Fanatismus steckt eine indirekte Anmaßung von Gottähnlichkeit, ein Gottes Zorngericht Vorgreifenwollen.

Da ist wohl die eigentliche Gefahr, bei der wir nun merken, dass diese eigentlichste, tiefste und letzte Gefahr ebenso zentral als Gefahr ist, wie der positive Eifer, der positive Zorn eines Paulus gegenüber der innig geliebten, mit der Liebe Gottes geliebten, mit dem Eifer Gottes umeiferten Gemeinde. In beiden Fällen bewegen wir uns wieder an ganz zentralen Stellen, und wir müssen uns nun nur noch klarmachen, dass ja das, was mit diesem Wort, dem griechischen Wort für Eifer und eifern bezeichnet wurde, ζηλωτης der Eiferer, ζηλοω ich eifere, dass es sich da nicht nur um – wir nennen es jetzt einmal individuelle Eigenschaften von bestimmten einzelnen Menschen handelt, sondern dass es eine ganze Richtung, die sogenannten Zeloten, die Eiferer, gab, welche die eigentlichen radikalen und gewaltsamen und terroristischen Bekämpfer der römischen Besatzungsmacht waren, wie man es durchaus mit Recht heute so oft zu nennen pflegt: die national-religiösen Widerstandskämpfer und Revolutionäre, zu denen [wie schon vor 25 Jahren Pickl in seinem schönen, leider nicht wieder aufgelegten „Messias König Jesus“ gesagt hat, zu denen] vermutlich vor allem jener Mann gehörte, der wie eine Karikatur des Jesus von Nazaret ist, Jesus Barabbas, der nämlich nach zwei Stellen in alten Matthäusmanuskripten auch den Vornamen Jesus trug, den man später aus einem Gefühl der Unwürdigkeit dieses Mannes, diesen Namen zu tragen, tilgte und dessen uns allen bekannter Name noch dazu Barabbas, aramäisch „Sohn des Vaters“ heißt, also geradezu das karikierte Gegenstück zu dem Jesus von Nazaret, der Zelotenführer, der „prominente“ Widerstandskämpfer (Mt 27,16), Jesus Barabbas, für den die Masse vor dem Gericht des Pilatus ihr Wort einlegt zu Ungunsten des Jesus von Nazaret.

Aus dieser Zelotenbewegung ist ja dann jene pseudomessianische Bewegung hervorgegangen, die die gewaltigen und zu ihren Zeiten jeweils gefährlichen Aufstände gegen Rom hervorgerufen hat; die bekannte, die zur Tempelzerstörung im Jahre 70 führte, und die viel zu wenig bekannte und dabei im Grunde fast noch wichtigere, wenn man vom Tempel einmal absieht, des Bar Kochba, der dann von Akiba, dem großen Schriftgelehrten, sogar als „Sternensohn“ (Num 24, 17), als Messias Israels auf Grund seiner Anfangserfolge anerkannt wurde.

Auch hier also, bei diesem fanatischen Eifer derer, die Gottes Gericht beanspruchen und gerade auch den getrennten Brüdern gegenüber – die Bar-Kochba-Aufstandsbewegung ging mit einer scharfen Attacke auf die Christen im Heiligen Lande zusammen, sie sollten nun endlich einsehen, dass der Tempel im Wiedererstehen begriffen sei und dass Jesus geirrt habe –, bei dieser zelotischen Eifererbewegung wird in den verschiedensten Hinsichten die Entscheidung Gottes vorweggenommen, will man sie herbeizwingen.

Und so haben wir nun die beiden Pole: den heiligen, den richtigen, den wahren, den Eifer Gottes, an dem wir wirklich teilhaben sollen, demgegenüber wir nie das Recht zur Flucht in die Lauheit gegenüber dem Bruder, in den Indifferentismus gegenüber seiner abweichenden Lehre besitzen, auf der einen Seite und eben jenen Fanatismus oder Zelotismus auf der anderen Seite, und so ist uns getrennten Brüdern gegenüber als Haltung keineswegs die Toleranz der Gleichgültigkeit erlaubt, ebenso wenig auch jener Eifer, der sich sozusagen selbst Gottes Vertretung im Gericht anmaßt, aber geboten jener heilige Eifer fürsorglicher Liebe, von der man dann wieder sagen kann, dass sie nicht eifert, sondern geduldig, taktvoll und gütig für den Bruder da ist, wo immer und wie nur immer dies möglich sein mag. Das wäre zunächst einmal in der allgemeinen Form die uns gebotene Haltung.

II.

Aber wer ist nun eigentlich dieser uns gegenüberstehende Bruder, der getrennte Bruder, welchem gegenüber wir diese Haltung bewähren sollen?

Bei der damit gegebenen zweiten Aufgabe dieses Vertrages, dem Versuch einer solchen Bestimmung des Bruders, hilft ein Büchlein, das kürzlich erschienen ist und das mich veranlasst hat, meinen ursprünglichen Vortragsplan umzustoßen und mich stärker daran zu halten, da ich es in den letzten Tagen erst lesen konnte, einfach darum, weil es Ihnen ermöglichen kann, soweit Sie Wert darauf legen, das, was jetzt knapp gesagt wird, zum Teil ausführlicher und sehr gut nachzulesen, das Büchlein von Joseph Ratzinger „Die christliche Brüderlichkeit“, das kürzlich im Kösel-Verlag erschienen ist (s. S. 69).

Es ist zunächst einmal in seiner Anlage, wie mir scheint, dadurch vorbildlich, dass sich hier ein katholischer Dogmatiker um eine zugleich sehr biblische und sehr zeitgemäße Theologie der Existenz, wenn ich es so nennen darf, bemüht hat und dass, wie mir jedenfalls scheint, in sehr wesentlicher Hinsicht, er in diesem Bemühen auch Erfolg gehabt hat, das heißt auf wirklich Wesentliches gekommen ist. Darum also darf ich zunächst einmal in dem Nächsten, was ich jetzt sage, resümieren, was ich ihm verdanke, um dann erst die eigenen weitergehenden Gedanken anzuknüpfen.

Ratzinger versucht vor allem die Herauslösung der christlichen Brüderlichkeit aus irgendeiner allgemein menschlichen, humanitären. Er macht völlig treffend darauf aufmerksam, dass ja schon bei den Griechen, also in vorchristlicher Zeit, eine Vaterschaft Gottes oder der Gottheit und entsprechend eine Bruderschaft der Menschen proklamiert worden ist, wobei sich bei genauerem Zusehen zeigt, dass es sich um etwas Naturhaftes, etwas Kosmisches handelt; selbst wenn man gar keinen Gott-Vater kennt, zu dem man beten kann, den man als Du sich gegenüber hat, kann man die Mutter Natur, den Vater Zeus usw. preisen und kann daraus in einem sehr allgemeinen Sinne eine Bruderschaft der Menschen ableiten.

Vollends dann in der Spätantike, führt Ratzinger ebenfalls treffend aus, gibt es Mysterienbruderschaften esoterischer Art, in denen dann der Mitmyste, der Eingeweihte, Bruder dessen ist, der mit ihm zusammen solchen Bruderschaften angehört, wo man sich wiederum kraft einer in diesem Falle nun besonderen Initiationsgemeinschaft unter dem Patronat irgendeiner, den Vater vertretenden Schutzgottheit als Bruderschaft fühlt und sogar – dafür werden Zitate beigebracht – von dieser Bruderschaft aus auf eine Ausweitung der Bruderschaft sinnen kann, weitere in sie einzubeziehen, der Mysterien würdig zu machen und schließlich als Vollbrüder anerkennen zu können. Das wären Formen von Bruderschaft, die wir schon diesseits des Christlichen, teils in vor-, teils dann in christlicher Zeit kennen.

Aber biblisch ist nun, das zeigt Ratzinger schon sehr klar, mit dem Wort Bruder eben doch etwas anderes gemeint, es beginnt mit der Bruderschaft, der alle in Adam angehören. Zunächst ist hier einmal der Personenkreis der gleiche, wie bei der kosmisch-naturhaften Gott-Vater- und Menschen-Bruderschaft; so wie dort Vater Zeus als Vater aller angesprochen werden kann, so scheinbar der Schöpfer, der alle geschaffen hat, die als Kinder Adams und Evas auf der Erde je aufgetreten sind und auftreten werden. Aber Ratzinger macht schon mit Recht darauf aufmerksam – noch abgesehen von anderem, was man auch sagen könnte –, dass die Adamsbruderschaft ja nicht nur eine Bruderschaft im Guten, sondern eben auch eine Bruderschaft im Bösen als gefallene Menschheit ist und dass gerade ein Appell zur Herauslösung aus einer bloßen Adamsbruderschaft zu einer sozusagen besseren in der gesamten Offenbarung mitklingt.

Das zeigt sich andeutungsweise schon in der zweiten Bruderschaft, in der wir nach der Adamsbruderschaft auch wieder prinzipiell mit allen Menschen drinstehen, in der Noah-Bundes-Bruderschaft, einer Art von Bruderschaft, die wir auch leider in der Christenheit viel zu wenig uns präsent halten: dieser zweite Bund nach der Sintflut, der uns im Prinzip mit allen verbindet, ist der, den wir gebrauchen können, um sozusagen unser (in einem gewisser Sinne) „brüderlich Verbundensein“ mit den sogenannten guten Heiden bzw. denen, die aus dem Uroffenbarungserbe in irgendeiner Weise noch leben, als etwas Positives wahrzunehmen und zu empfinden; die ganze Umorientierung, wie sie heute die Heidenmission erfährt, die ja längst nicht mehr von einem europäisch-hochnäsigen Standpunkt auf die armen törichten Heiden herabsieht, sondern nach den Körnern des logos spermatikos, des ausgesäten Offenbarungssamens, späht, um ihnen keimen zu helfen, wäre biblisch an dieser Stelle im Noah-Bund zu verankern.

Aber nach diesen beiden Bünden mit der jeweils ganzen „geschichtlichen Menschheit“, wie es Ratzinger glücklich nennt, kommen dann jene Bünde, die nun aus dieser Menschheit einen (und dann seinen Stamm oder Samen), den Abraham heraussondern, der Bund mit den Abrahamssöhnen, die das Geschenk des Bundes und dann Bundesgesetzes erhalten, Abrahamsbund und Mosebund.

Da hat nun Ratzinger mit vollem Recht hervorgehoben, dass hier eine Doppelheit waltet, es sind einerseits die Herausgelesenen, ein Sondervolk Gottes unter den Völkern, Priestervolk, heiliges Königtum; und es sind andererseits solche, die nicht um ihrer Verdienste willen, nicht weil sie an sich besser wären als die anderen, ausgelesen sind, sondern, um von Gott her so etwas wie einen Sauerteig zu schaffen, ein Modell-Gottesvolk zu haben, an dem allen gezeigt werden kann, wie es zwischen Gott und einem Menschenvolke zugeht, wenn Er dieses Menschenvolk in seiner Liebe erwählt hat und Treue von ihm verlangt.

Und schließlich gipfelt, was Ratzinger sagt über diese Reihe der Bünde, die Bruderschaft konstituieren, in dem voll verwirklichten Neuen Bunde in Christus, und er betont nun mit vollem Recht, dass wir Brüder des Neuen Bundes und Kinder Gottes überhaupt nur sind, soweit wir „in Christus“ sind, d. h. es wird klar und einleuchtend herausgearbeitet, dass diese Bruderschaft, also auch diese Gotteskindschaft überhaupt erst im Wir derjenigen Menschen ratifiziert wird, real wird, die miteinander beten können: „Vater unser“, nicht etwa: „Mein Vater“, sondern „Vater unser“, ich darf dazu Ratzinger direkt sprechen lassen:

„Vater ist Gott für uns jeweils nur, sofern wir Teil der Gemeinschaft seiner Kinder sind. Für ,mich’ wird er Vater je nur dadurch, dass ich im ,Wir’ seiner Kinder bin. Das christliche Vatergebet ist ,nicht das Rufen einer Seele, die nichts kennt als Gott und sich selbst’, sondern es ist gebunden an die Gemeinschaft der Brüder, mit denen wir zusammen der eine Christus sind, in dem und durch den wir erst ,Vater’ sagen können und dürfen, weil wir nur in ihm und durch ihn ,Kinder’ sind. So darf man genauerweise nicht formulieren, Christus habe die Menschen zu Gott ,Vater’ sagen gelehrt, sondern es muss in aller Strenge heißen: Er hat sie ,Vater unser’ sagen gelehrt, und das ,unser’ ist dabei nicht weniger wichtig als das ,Vater’. Es gibt den konkreten Standort des Glaubens und des Gebetes an, dessen christologische Komponente“ (S. 72 f.)

Ebenso richtig nun wie diese Feststellung über die entscheidende Wichtigkeit dieses „Unser“ auch in der Gotteskindschaft, also dieses völligen Zusammengehörigseins von Bruderschaft und Kindschaft, das der Gleichsetzung der beiden Teile des doppelten Hauptgebotes – Gottesliebe und Nächstenliebe – entspricht, ebenso richtig ist bei Ratzinger die Akzentuierung, mit der er für die Herausarbeitung des spezifisch christlichen Bruderbegriffes jene Erzählung hervorhebt, die er nach dem Markusevangelium, Kapitel 3, zitiert, wo die Verwandten Jesu nach ihm fragen und er dann jenes große Wort spricht: ,Wer den Willen meines Vaters tut, der ist mir Vater und Mutter, Schwester und Bruder.’ Die, die den Willen Gottes tun wollen, wirklich wollen, die bilden die Bruderschaft.

Und dann bietet Ratzinger auch noch den Ausblick auf die Dazugehörigkeit des Leidens zu dieser Bruderschaft, des Leidens überhaupt schlechthin, und vollends des Leidens in irgendeinem Sinne im Namen Gottes. Er arbeitet dies heraus, indem er daran erinnert, dass im Gerichtsgleichnis, Matthäus 25: „Was Ihr getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder“, wieder das so wichtige ‚Bruder’ sich im Munde Jesu findet, „das habt Ihr mir getan.“

Es ist, wie Ratzinger betont, und ich glaube mit Recht, die einzige Stelle, wo mit Sicherheit nicht entweder der Bruder im Herkunftsvolk, im jüdischen Volk, oder der Christenbruder im Neuen Testament als Bruder bezeichnet wird, sondern der Bedürftige, der Leidende schlechthin, noch ganz unabhängig von seiner Eigenschaft, nun eben durch die Gemeinsamkeit der Bruderschaft derer, die gemeinsam den recht verstandenen Willen Gottes tun wollen, mein Bruder geworden zu sein, er ist Christi Bruder schon bereits durch sein Leiden.

Und dann betont Ratzinger ebenfalls wieder mit Recht, dass zuletzt durch das Leiden die Kirche bzw. die Christenheit auch die zu Brüdern macht, die es vorher noch in keinem Sinne gewesen sind, mindestens potentiell; „gerade in ihrem Erliegen“, schreibt er (S. 113 f.), „feiert die Kirche immer wieder ihren höchsten Sieg, steht sie am nächsten an der Seite des Herrn. Gerade, wo sie für die anderen zu leiden gerufen wird, gelingt ihr der Vollzug ihrer innersten Sendung: der Schicksalstausch mit dem irrenden Bruder“, wie der Jesu am Kreuz, „und so dessen verborgene Wiedereinsetzung in die volle Sohnschaft und in die volle Brüderlichkeit.

In der so verstandenen Beziehung zwischen den ,Wenigen’ und den ,Vielen’ offenbart sich auch erst das wahre Maß der Katholizität der Kirche. Ihrer äußeren Zahl nach wird sie nie vollendet ,katholisch’, d. h. allumfassend sein, sondern letztlich kleine Herde bleiben, mehr sogar, als die Statistik ahnen lässt, die ja lügt, indem sie viele als Brüder nennt, die in Wirklichkeit bloß Pseudadelphoi“, d. h. Falschbrüder, „Namens- und Scheinchristen sind. Aber in ihrem Leiden und Lieben steht sie immerfort für ,die Vielen’, für alle. In ihrer Liebe und in ihrem Leid überschreitet sie alle Grenzen, ist sie wahrhaft ‚katholisch’.“

Also diese beiden Qualitäten des Tuns und des Leidens, des Gotteswillen-Tun-Wollens und im Rahmen dieses Wollens „Vater unser“ zu ihm sagen Dürfens, und des Leidens als schlicht vorhandene Tatsache und als ,Leiden für’, das sind die primär konstituierenden Elemente, nach Ratzinger, die Bruderschaft in einem besonderen Sinne bilden, aber uns noch nicht ermöglichen, solange wir die Untersuchung weitertreiben, klar abzugrenzen, wo nun diese Brüder sich genau befinden.

Ratzinger selbst hat von diesen Ausgangspunkten her in der Richtung weiter gesucht, dass er die Bruderschaft derer, die miteinander die Kommunion, die Eucharistie feiern, in der Eucharistie zur Gemeinschaft, zur Bruderschaft werden, als das zentral Wirkliche erklärt und Folgerungen für die Ortsgemeinde, auch für die Übersehbarkeit der örtlichen Pfarrgemeinde, innerhalb deren sich diese Brudergemeinschaft real darstelle, gezogen hat; das gehört nicht zu meinem heutigen Thema und möge darum mit diesem Satz nur erwähnt sein.

Nun, Ratzinger hat sich auch im Nachwort die Frage nach den getrennten Brüdern gestellt, als welche er Protestanten und Ostchristen ausdrücklich nennt. Wenn er zunächst rein dogmatisch feststellt: Es gibt zwar Gnade außerhalb der Sakramente und außerhalb der sichtbaren Kirche, aber es gibt nicht eine beliebige Zahl von Kirchen; die objektive Darstellung des Vertretungswerkes Christi ist der einen Kirche vorbehalten, so wird ihm bestimmt kein katholischer Christ widersprechen.

Dann geht er von der dogmatischen Ebene auf die, wie er sagt, der konkret menschlichen Beziehungen über, respektiert neben der katholischen Brudergemeinde derer, die sich zur Kommunion zusammenfinden, die jeweils eigene Brüderlichkeit der Andersgläubigen und fordert, dass sich jeweils die beiden Brüdergemeinden, die katholische und die evangelische, als Geschwister im Herrn verstehen, ohne aber das Moment der Trennung einfach zu überspringen, was ja hieße, sich damit abfinden, des heiligen Eifers für die Einheit der Gesamtbruderschaft entbehren.

Dazu kann man glaube ich Ja sagen, aber man wird vielleicht doch bedauern, dass er dann nicht noch etwas weiter ausholt und Art und Grenze solcher Brüderlichkeit nicht noch näher bestimmt hat. Die bloße Wendung nämlich, die sich bei ihm findet, von einer Gemeinschaft der Taufe und des Bekenntnisses zu dem einen Herrn, reicht doch wohl nicht aus.

Wir müssen zunächst von solchen ganz brutalen Gegebenheiten ausgehen, wenn wir Bedenken zu dieser Formulierung ‚Gemeinschaft der Taufe und des Bekenntnisses zum einen Herrn’ äußern, wie der sogenannten Konditionaltaufe, die ja von der römischen Kirche nicht überall, aber bis vor kurzem fast überall und auch jetzt noch vielfach in dem Fall gespendet wird, wo jemand, der einer nichtkatholischen christlichen Gemeinschaft angehört hatte, seine Wiedervereinigung, wie ich es nennen möchte, mit der römisch-katholischen Kirche vollzieht und ihm mit den Worten „Wenn Du nicht getauft bist, taufe ich Dich hiermit“ die Taufe gespendet, eventuell also: nochmals gespendet wird.

Das ist ein wohl verständliches schweres Ärgernis für viele der getrennten Brüder, dass das so ist. Aber wenn einem dieses Ärgernis begegnet, dann kann, darf, muss man je nachdem im Rahmen der Erfüllung der Zeugnispflicht sagen, es sind tatsächlich in unserem Jahrhundert Fälle vorgekommen, wo z. B. in einem Familienkreis in der Schweiz ein reformierter, sogenannter liberaler Pfarrer die Taufe mit den Worten einleitete: „Es gibt viele Aufnahmeriten, und ich könnte Dich, mein Kind, im Namen Wotans taufen oder im Namen Jupiters taufen, aber weil wir nun im christlichen Abendland leben, taufe ich Dich ...“, und dann kam die christliche Taufformel.

Dass bei einem solchen Vorgang, wenn dieses Kind irgendwann einmal später römisch-katholischer Christ werden sollte, kirchlicherseits gewisse Zweifel an der moralischen Sicherheit einer gültigen Taufe im Sinne der Kirche auftauchen können, das muss doch wohl verständlich sein; das müssen auch persönlich gläubige und durchaus im Sinne der Kirche getaufte, gegebenenfalls taufende, nichtkatholische Christen verstehen, dass von da aus diese gewisse Vorsicht bei der Aufnahme von nicht-katholischen Christen in die römische Kirche waltet aus Prinzip, auch wenn – erfreulicherweise – in immer häufigeren Fällen gar nicht mehr von einer Konditionaltaufe die Rede ist, weil die moralische Sicherheit, dass die Taufe von dem Betreffenden empfangen wurde, der sich da mit der Kirche wieder vereinigt, durchaus besteht, also kein Anlass zu einer solchen Konditionaltaufe gegeben ist: Aber das sind Realitäten, denen man ins Auge sehen muss, wenn man nicht wie die Katze um den heißen Brei herumgehen will, wenn man sich dem Ernst des Problems nicht entziehen will.

Und weiter: „Gemeinschaft der Taufe und des Bekenntnisses zum einen Herrn!“ Hier muss man fragen, ist das Bekenntnis der nicht-katholischen Christen zu dem einen Herrn so eine klare Angelegenheit, dass man von der Formel eines solchen Bekenntnisses her gleichsam die Grenze ziehen kann und sagen, bis hierhin haben wir dieses Bekenntnis, von dort an haben wir es nicht. In diesem Jahrgang 1961 der im angesehenen Verlag Mohr in Tübingen erscheinenden evangelischen ‚Zeitschrift für Theologie und Kirche’ findet sich ein Aufsatz eines evangelischen Theologieprofessors Fuchs: „Müssen wir an Jesus glauben, wenn wir an Gott glauben?“ und jeder, der diesen Aufsatz liest, wird feststellen, dass eben dieses „Müssen wir?“ nicht bejaht, sondern sehr schön mit einem: „Wir dürfen an Jesus glauben, wenn wir an Gott glauben“ beantwortet wird, das heißt, dass die Grenze dessen, was als Bekenntnis zu dem einen Herrn zu werten ist, vollkommen anders liegt, anders läuft im Bereich der nicht-katholischen, der andersgläubigen Christen.

Man wird es also nicht vermeiden können, einmal (nicht, um es ernst zu nehmen, sondern im Gegenteil, um es ad absurdum zu führen) die Frage zu stellen: ,Ja, wie viel Prozent dogmatischen Glaubens, nämlich des vollen Glaubens der römischen Kirche und ein wie hoher Grad von moralischer Sicherheit gültigen Sakramentenempfanges muss bei dem einzelnen Andersgläubigen oder bei der betreffenden evangelischen Bruderschaft vorhanden sein, in der einverleibt einer (nach Ratzinger) Gotteskind geworden ist, damit dieser Einzelne Bruder heißen bzw. die Gemeinschaft, der er angehört, als solche Bruderschaft, mit der wir verbunden sind, mehr anerkannt werden kann als in dem Sinne, in dem ja auch der Ungetaufte Bruder ist, um wieder mit Ratzinger zu sprechen.

Wenn man die Frage so stellt, merkt man, dass es so nun eben doch wohl nicht geht, denn sonst hieße es bei dem einen: ,nur der Orthodoxe’, der Griechisch-Orthodoxe, Russisch-Orthodoxe, bei dem keine eigentlichen wesentlichen Glaubensdifferenzen gegenüber der römischen Kirche bestünden, nur er sei in diesem Sinne wirklich durch die Taufe und das Bekenntnis zum Herrn voll unser Bruder.

Sehr viele werden das als einen allzu konservativen Standpunkt beurteilen und werden sagen, aber der Altkatholik, Christkatholik, Anglokatholik sind doch auch unsere Brüder, selbst wenn vielleicht nicht ganz so viele dogmatischen Gemeinsamkeiten bei ihnen vorhanden sein mögen. Ein weiterer wird sagen: Selbstverständlich kommt noch der Lutheraner dazu, da er ja an die Realpräsenz Christi, Jesu Christi mit Leib und Seele, im Altarsakrament glaubt; aber wieder ein weiterer Gesprächspartner kann uns sagen: Calvin hat an der Realität der Gegenwart Christi im Altarsakrament durchaus festgehalten, auch wenn er gegenüber dem, was er als allzu materiell bei Luther empfand, Bedenken gehegt hat, warum soll der Calvinist nicht noch dazu gezählt werden?

Ja, aber selbst wenn wir so weit sind, so weiß jeder, der sich mit ökumenischen Dingen beschäftigt, dass im sogenannten Weltrat der Kirchen in Genf noch Gemeinschaften einbezogen sind, die nun immer noch weitere Abstriche gegenüber dem katholischen Vollglauben machen, also eben (in solchen Quantitäten gesprochen): noch weniger glauben, und jeder, der etwa die Berichterstattung der Herder-Korrespondenz verfolgt, wird in den letzten Jahren festgestellt haben, dass das Gewicht dieses Weltrates, der keine Superkirche sein will und doch in gewisser Hinsicht immer mehr eine Superkirche wird, ständig weiter nach links wandert theologisch, das, wie es einmal von J. P. Michael ausgedrückt wurde, die Entwicklung dahin geht, „das ‚Katholische’ nach und nach durch das ,Evangelische’ zu integrieren“ (Christen suchen eine Kirche, Freiburg 1958, S. 155).

Also ist nun wirklich durch eine Art Abwägung des Quantums von gemeinsamen Glaubensinhalten und ein Haltmachen an irgendeiner Stelle bei dieser Art der Betrachtung, ist dadurch etwa wirklich der Bruder festzustellen?

Aber, wenn nicht, wo liegt denn dann die Basis dieses der Sache nach so eminent wichtigen Bruderseins auch solcher, die nicht zu der nach unserem Glauben allein wahren Kirche Christi gehören, die aber dennoch durch dieselbe geistliche Herkunft und dieselbe Zukunftshoffnung und durch immer neue Gemeinsamkeit in entscheidenden Einstellungen auch zu Gegenwartsaufgaben mit uns verbunden sind, etwa seinerzeit der Gegenwartsaufgabe des Widerstands gegen Hitler!? Das ist doch eine Verbundenheit, die sich damals dokumentiert hat, die auf Tod und Leben der ganzen Existenz da war, unabhängig von dem Prozentsatz eines gemeinsamen Glaubens innerhalb jener Bruderschaft!?

Nun, Ratzinger selbst scheint mir gleichsam schon den Anfang des Gleises in der neutestamentlichen Betrachtung gefunden zu haben, auf dem man hier weiterfahren muss, um zu einer Bestimmung des getrennten Bruders zu gelangen, die ernstnehmbar ist, die uns wirklich die richtige Auswahl aus der Fülle der Mitmenschen ermöglicht. Es sind jene vorher schon zitierten Worte: ,Wer den Willen Gottes tut und wer letztlich um Gottes willen leidet, der ist unser Bruder, der ist in besonderer Weise unser Nächster, auch wenn es ein andersgläubiger, bzw., um hier das Neue Testament zu zitieren, ein „andersstämmiger“ Samaritaner ist’ (Lk 17,18).

Das Evangelium kennt ja die Möglichkeit, dass jemand Ja sagt in seinem Bekenntnis, aber nicht tut, wie es im Gleichnis von den zwei Söhnen im 21. Kapitel bei Matthäus der Fall ist, wo eben der, der Ja gesagt hatte, nicht tat, und der andere, der Nein gesagt hatte, sehr wohl tat und wo also keineswegs das, was im ersten Wort eines Bekennens zum Willen des Vaters ausgesprochen wurde, schon das Tun dieses Willens nach sich zog. Und wir alle kennen das Bergpredigtwort vom ,Herr, Herr sagen’, aber nicht tun, und wir alle kennen jenes Gerichtswort, das schon zitiert wurde vom ,Tun gegenüber einem meiner Geringsten Brüder’ im Munde des Weltenrichters, und kein Geringerer als Paulus lehrt uns im Römerbrief (6,3) die Taufe, durch die wir mit anderen verbunden werden, als ,Einverleibtsein in Christi Sterbensgestalt“ bzw. ‚Eingetauchtwerden in seinen Tod’ begreifen.

Die Kirche hat das stets dadurch respektiert, dass sie die Bluttaufe als vollgültig, ja höchst gültig anerkannt hat über die Grenzen derer hinaus, die Jesus bewusst kennen konnten. Wenn die Kirche am 1. August das Blutzeugnis der Makkabäischen Märtyrer feiert und vollends, wenn sie am 28. Dezember das Blut der Kinder von Bethlehem, der heiligen unschuldigen Kinder, ins Gedächtnis der Gläubigen zurückruft, dann werden diese jüdischen Kinder als christliche Märtyrer verehrt und anerkannt, die für Jesus, um Jesu willen, an Jesu Stelle hingeschlachtet worden sind, obwohl sie ihn ausdrücklich nicht kennen und sich darum auch nicht zu ihm bekennen konnten.

Das sind die Anknüpfungsstellen, an denen in unserer Zeit ein zunächst noch kleiner Kreis von Christen in verschiedenen europäischen Ländern vor allem zu fragen begonnen hat, ob in diesem Sinne außer den christlichen, im Glauben getrennten Brüdern nicht auch die jüdischen, im Glauben getrennten Brüder zu nennen wären, die zu uns gehören kraft der gleichen Herkunft von der gleichen Offenbarung, kraft der im Prinzip gleichen Hoffnung, bei der sie als den Kommenden den erwarten, den wir als den Wiederkommenden erwarten, und kraft jener Gemeinsamkeit der Grundhaltung, die für beide aus der Tatsache erwächst, dass ja das große Doppelgebot nicht erst im Neuen Testament aus heiter-hellem Himmel aufgetaucht, sondern von Jesus aus dem Alten Testament zitiert worden ist, ,Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst zu lieben’.

Das aber bedeutet doch: wer nach bestem Wissen und Gewissen den Willen des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs zu tun bestrebt ist und sich so von ihm auch in die Bruderschaft derer, die es ebenso wollen, hineinführen lässt, und vollends, wer eben, weil er zu dieser Gemeinschaft oder Bruderschaft gehört, auch der Leiden gewürdigt wird, die Gott den Seinen um aller Menschen willen bestimmt hat, zuhöchst seinem Eingeborenen, und zur Ergänzung, wie Paulus immer wieder sagt, den Gliedern seines Leibes (Kol 1,24; Eph 3,13; 2 Tim 2,10 f.), auch den Gliedern seines künftigen Leibes, zu dem ja dann im letzten Augenblick der Heilsgeschichte auch das Volk der Juden gehören wird, der ist dank und in diesem eingeborenen Sohn Jesus unser Bruder. Getrennter Bruder, wenn ihm gegebenenfalls im Gespräch redlich und offen gesagt werden muss, was Jesus zur Samariterin sagt: ,Ihr betet an, was Ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen.’

Und da sind wir nun bei dem sozusagen klassischen getrennten Bruder des Neuen Testamentes, ja der ganzen Bibel, beim Samaritaner angelangt, der auch durch gemeinsame Herkunft, durch im Prinzip gleiche Zukunftserwartung und in wesentlicher Hinsicht durch eine gemeinsame Haltung, mit Jesus und dem Volke Jesu verbunden ist und eben darum der Häretiker, der Schismatiker, der Andersgläubige, der getrennte Bruder des Neuen Testamentes ist und uns ganz anders als solcher bewusst sein sollte, weil wir dann viel leichter aus dem Verhalten Jesu Christi selbst auch unsere praktischen Verhaltensregeln entnehmen könnten.

Ich kann jetzt hier nur sehr kurz noch andeuten, dass über die gemeinsame Herkunft von Samaritanern und Juden ja im Alten Testament, in den Königsbüchern, im 1. Königsbuch, 11. und 12. Kapitel, im 2. Königsbuch im 17. Kapitel und im (1.) Esrabuch im 4. Kapitel, die Etappen der Abspaltung erst Nordisraels und dann eben später Samarias bzw. der Samaritaner aus dem alten Gottesvolke geschildert sind; was in der Zeit Jesu sich vorfindet, ist das in dieser Hinsicht getrennte Israel, in dem die Samaritaner die sind, denen man vorwirft: ,Ihr habt fremden Götzendienst hineingemengt in die Verehrung des einen wahren Gottes!’ Aber man weiß, man hat mit ihnen gemein, wie es die Samaritanerin am Jakobsbrunnen sagt, „unseren Vater Jakob“. Sie fragt ja Jesus: ,Bist Du etwa größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gegeben hat?’ (Jos 4,12). Jakob-Israel ist ebenso gut ihr Stammvater wie der Stammvater der Juden, und in diesem Sinne ist die gemeinsame Herkunft bestimmt.

Und dieselbe Samaritanerin antwortet ohne weiteres auf Jesu Worte: ,Ich weiß, dass Messias kommt’, d. h. sie hat auch die gemeinsame Hoffnung mit den Juden; und schließlich im Lukasevangelium, im 17. Kapitel, wird uns die Geschichte von jenen zehn geheilten Aussätzigen erzählt, von denen nur einer – nachdem seine Heilung vom Priester konstatiert worden ist – zu Jesus zurückkehrt und Gott lobpreist, dieser aber war ein Samaritaner, und die anderen neun waren nicht wiedergekommen. Das heißt, auch in der Haltung ist die Ähnlichkeit trotz allem Trennenden damals zwischen Samaritanern und Juden, heute kann man sagen, zwischen katholischer Christenheit und ihren verschiedenen im Glauben getrennten Brüdern bis hin zu den Juden, gegeben, und nun hat Jesus gerade den Samaritaner als den herauszustellen, der dankt, der lobt, der preist, und der im Falle des sogenannten barmherzigen Samariters das Gute tut, und es gibt sogar rabbinische Parallelen dazu, in denen von Schriftgelehrten in der Talmudischen Zeit gesagt wird: das, was die Samaritaner als Gesetz anerkennen, halten sie viel treuer als wir Juden, gleichwie man so manches Mal einen katholischen Kenner der Verhältnisse hören kann, der sagt: In den Dingen, in denen die getrennten evangelischen Brüder sich verpflichtet fühlen, können sie uns oft zum Vorbild dienen. –

Also das ist alles als gemeinsames Gut vorhanden. Trotzdem ist die Spaltung da. Die Spaltung ist eine tiefe und grundlegende Spaltung; ich habe die Herkunft dieser Spaltung hier mit den bloßen Hinweisen auf die betreffenden alttestamentlichen Stellen nennen können, ich muss jetzt aber noch einmal den einen entscheidenden Satz, den Jesus zur Samariterin spricht, wiederholen: ,Glaube mir, die Stunde kommt, wo Ihr weder auf diesem Berge, noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet; Ihr betet an, was Ihr nicht kennt, wir beten an, was wir kennen, denn das Heil kommt von den Juden’ (Joh 4,21 f.). Dieses ,Wir’ Jesu ist also: Wir Juden; wir Juden beten an, was wir kennen. So wird, das ist die Zeugnispflicht, der katholische Christ sehr oft, wenn es sich ergibt, dem anderen nüchtern und klar sagen müssen, dass wir nicht anders können als im Gewissen glauben, dass unsere Kirche die allein wahre Kirche ist, dass wir den anbeten, den wir – soweit er sich irgendwie bekannt gegeben hat – tatsächlich kennen und jene nicht; nicht dieses Bekenntnis, nicht das Zeugnis ist Intoleranz, sondern sie kann sich höchstens immer wieder in der Art finden, in der wir uns zu dem Andersgläubigen verhalten, dem gegenüber wir dieses Zeugnis abgelegt haben.

Nun, ich möchte daran erinnern, dass der Spaltung, die sich schon in alttestamentlicher Zeit zwischen Juden und Samaritanern abgespielt hat, jene verschiedenen großen Spaltungen der Kirchengeschichte in Analogie, in Ähnlichkeit entsprechen; als erste und grundlegende Spaltung, die Urspaltung, das Urschisma zwischen der Gemeinde derer, die an Jesus gläubig geworden waren, an Jesus, den Nazaräer, hebr. Nosri; das war der Name, der zu dem Namen Jesus als unterscheidend gefügt wurde, und seine Anhänger waren dann die Nosrim. Diese Nosrim sind gegen Ende des 1. Jahrhunderts in aller Form aus der Synagoge ausgeschlossen worden durch eine Erweiterung des sogenannten 18-Bitten-Gebetes, besser: 18 Benediktionen, weil es jeweils Preisungen Gottes sind.

Über diese Spaltung habe ich selbst in einem eben jetzt erschienenen oder erscheinenden Buch „Christen und Juden“ einen Beitrag mitgeschrieben, auf den ich für das einzelne verweisen muss. Ich habe schon dort die Analogie in der zeitlichen Abfolge betont zwischen der Kreuzigung Jesu im Jahre 30, dazu rund 60 Jahre später dieser Exkommunikation einerseits und andererseits dem Thesenanschlag samt der Verurteilung Luthers 1517 und 1520, dazu der endgültigen Glaubensspaltung, der abendländischen Glaubensspaltung, die man als durch das Ende des Trienter Konzils 1563 vollzogen beurteilen kann; schließlich der Verurteilung von einzelnen Sätzen aus dem Augustinusbuch des Cornelius Jansen (Jansenius) und der wiederum Jahrzehnte später erfolgten formellen schismatischen Selbstausscheidung der sogenannten Jansenisten.

Es ist jedes Mal bei solchen kirchengeschichtlichen Ereignissen so, dass zwischen dem Quellpunkt einer Spaltung und dem tatsächlichen Vollzogensein eine ganze Anzahl von Jahrzehnten vergehen, dann scheiden sich endgültig die Geister, dann hat man nur noch die Wahl, zu welcher von beiden Gruppen man gehören will, und jedes Mal ist es eine bitter-schmerzliche Trennung. Aber wir müssen uns auch darüber klar sein, wenn die Trennung – darüber hat Ratzinger wieder einige sehr gute Sätze geschrieben, – wenn die Trennung geschichtlich eine Weile überdauert hat, dann kann man ja keinem derer, die in von der römischen Kirche abgetrennten Gruppen sind, persönlich mehr irgendeinen Vorwurf der Häresie, der Verstockung und dergleichen machen, dann ist er in Treue dem Gottesdienst ergeben, den seine Väter ihn gelehrt haben und den er nach bestem Wissen und Gewissen zu vollziehen sucht, und gerade darum kann man eben alle als getrennte Brüder ansprechen, die in irgendeiner Weise zum Gottesvolk gehört haben.

Ja, man kann sogar soweit gehen, dass man noch die ganz ausgesprochenen Feldentwicklungen aus dem Gottesvolk im weitesten Sinne dieses Wortes heraus, sowohl den Islam wie den Marxismus, in die allerweiteste Form dieser Gemeinschaft einbeziehen kann, was ich wieder jetzt nicht entwickeln möchte, sondern ich möchte verweisen dürfen auf den Versuch in dieser Hinsicht, den ich in meinem Büchlein „Biblische Religionen heute“ unternommen habe.

III.

Es kommt hier ja jetzt hauptsächlich auf die praktischen Konsequenzen an, die nun aus einer solchen Erkenntnis derer, die eigentlich unsere getrennten Brüder sind, für uns sich ergeben. Zeugnispflicht ist das eine, Gebet ist das andere, und Diakonie, Liebesdienst, ist das dritte.

1. Die Zeugnispflicht wird wohl im Neuen Testament am klarsten und präzisesten in einer Wendung des 1. Petrusbriefes, einer kurzen, sehr präzisen Wendung, uns ans Herz gelegt, die man genau nehmen muss, ernst nehmen muss, um in ihr eine Richtschnur für die Erfüllung dieser Pflicht zu finden. Es heißt dort im 1. Petrusbrief 3,15:

„Den Herrn Jesus Christus haltet heilig in Eueren Herzen, allezeit bereit zur Verantwortung gegenüber jedem, der von Euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung in Euch, jedoch mit Sanftmut und Ehrfurcht.“

Diese Worte des Felsenapostels sind das Beste, was sich der einzelne Christ als Richtschnur für die Erfüllung der Zeugnispflicht nehmen kann, es ist nicht ein von sich ausPropaganda machen, es ist Verantwortung gegenüber jedem, der von Euch Rechenschaft fordert. Besondere Freude macht es mir, dass „über die Hoffnung in Euch“ diese Rechenschaft abgelegt werden soll; es ist diese unauslöschliche Gewissheit der Christenheit, die viel zu wenig uns allen bewusst ist, dass ja unser ganzer Bestand ein in Hoffnung gründender, auf das Ziel der Wiederkehr Christi und des vollen Offenbarwerdens der Erlösung auch unseres Leibes, der ganzen Kreatur, ausgerichteter ist; über die Hoffnung Rechenschaft ablegen können einem jeden, der fragt, jedoch mit Sanftmut und Ehrfurcht, also nicht taktlos, nicht aufdringlich, dabei von ruhiger Festigkeit, Takt und Festigkeit.

Vielleicht haben wir darin die neue Form, die nun die beiden Pole bezeichnet, Eifer, und insofern Glut und Festigkeit, aber zugleich kein Übereifer, kein Fanatismus, kein Sich-Aufdrängen, sondern Takt und Zurückhaltung. Dabei kann es natürlich sein, dass um der Möglichkeit willen, unser Zeugnis abzulegen, wir auch in Kauf nehmen müssen, gegenüber gewaltsamer Behinderung auf die Funktionen des öffentlichen Amtes zurückzugreifen, das uns schützen kann.

Es ist in der heutigen Christenheit meines Erachtens viel zu wenig bewusst, dass das Neue Testament nicht nur das Lebens- und Leibesopfer der Blutzeugen kennt, sondern dass mitten in der Apostelgeschichte Paulus, als eine Verschwörung gegen sein Leben entstanden ist, auf die Notwehr, bzw. die Unterstützung durch die römische Staatsgewalt zurückgreift und sich von der Kohorte heidnischer, römischer Söldner vor den Verschworenen schützen lässt, nicht in seinem privaten Interesse, er schreibt fast gleichzeitig an die Philipper 1,23 „Ich habe Lust, abzuscheiden und bei dem Herrn zu sein“. Er wäre gerne gefallen, aber er fährt fort, den Philippern gegenüber, „um Euretwillen“, um seine Aufgabe zu erfüllen, glaubt er noch länger am Leben bleiben zu sollen, und darum nimmt er diesen Notwehrschutz ruhig und ohne Gewissensbedrängnis tatsächlich an.

Das Gefährliche ist immer nur das allzu kurzschlüssige Zusammenbringen dieses unvermeidlichen und völlig affektfreien Notwehr-Inanspruchnehmens mit der Grundhaltung, die um keinen Preis verloren gehen darf: dass man selber noch so gerne bereit wäre, mit seinem Blut, mit seinem Leben, gerade auch durch den irrenden Bruder und damit für den irrenden Bruder – wie weit auch seine Verirrung gehen möge – zu leiden. Das, die heute allzu häufige, man könnte fast sagen, Personalunion dessen, der einerseits die Notwehr beansprucht, und desselben, der andererseits das Bekenntnis zur Liebe und zum Liebesdienst ablegt, das ist wohl das, was so manche unserer Zeitgenossen am schlimmsten skandalisiert, was ihnen zum größten Ärgernis wird.

2. Neben dem Zeugnisablegen nannte ich das Gebet. Die frühe Christenheit hat dieses Gebet für die getrennten und irrenden Brüder mit einem ungeheueren Ernst betrieben, uns ist in den Fürbitten des Karfreitags noch die eine, jetzt durch Johannes XXIII. geläuterte Bitte für die getrennten jüdischen Brüder erhalten geblieben. Aber in der frühen Christenheit, so weiß man heute, speziell in Kleinasien, hat man in jeder Osternacht zunächst einmal eine Nacht hindurch gefastet und gebetet für die getrennten jüdischen Brüder und hat erst dann in der Morgendämmerung den wiederkehrenden Herrn, zunächst noch einmal in der verborgenen Gestalt des Brotes, in der Eucharistie empfangen.

Im Prinzip war also noch in der Kontinuität jener jüdischen Traditionslinie, die speziell in einer Paschanacht, in der Befreiungsnacht der alten Befreiung aus Ägypten, die endgültige Befreiung durch den kommenden König erwartete. So erwartete auch die frühe Christenheit gleichsam jedes Ostern ihren Herrn womöglich, so Gott es wollte, schon als den sichtbar wiederkehrenden und, wenn er eben noch nicht sichtbar wiederkehrte, als den in der sakramentalen Gestalt des Brotes empfangenen; dabei in Gebet und Fasten diese ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen für die getrennten Brüder.

Das ist die Gebetshaltung, die den ganzen Ernst dieses Betens unterstreicht, und dabei braucht dieses Gebet in keiner Weise mit Illusionen in dem Sinne begleitet zu sein, als wenn irgendeine – nennen wir es jetzt einmal – organisatorische Wiedervereinigung uns etwa die volle Fülle der Einheit des endzeitlich endgültigen Gottesvolkes schon zu geben vermöchte. Jeder, der kommt von den getrennten Brüdern zu der einen wahren Kirche, ist als eine Art Vorläufer der endgültigen Wiedervereinigung mit Freuden und mit jeder Unterstützung zu empfangen, aber nie dürfen wir uns von irgendeiner Teilvereinigung – auch wenn es einmal eine relativ sehr große Gruppe sein mag – die Sehnsucht nach der ganzen, nach der vollen Vereinigung und das Gebet um diese ganze und volle Vereinigung abnehmen lassen, das ist es, was Ratzinger meinte, als er sagte, ein Hinweggehen über die Trennung, ein sich sozusagen damit begnügen, dass nun das eben auch Brüder seien, das kann dabei nicht in Frage kommen.

3. Und das Letzte schließlich in den drei Grundhaltungen ist die Diakonie. Ich kann hier auch wieder auf etwas schon Publiziertes zurückgreifen. Oscar Cullmann, der Basler Neutestamentler, der auch in Paris lehrt, hat ja vor einigen Jahren den Vorschlag gemacht, dass jeweils in der Wiedervereinigungsoktav zu dem Gebet, das gerade angedeutet wurde, auch das Liebesopfer treten sollte, und er hat dabei sehr schön angeknüpft an jene sogenannt Kollekte, die dem Heidenapostel ein so ungeheueres Anliegen war, wie wir es vor allem aus dem Mittelstück des 2. Korintherbriefes, Kapitel 8 und 9, entnehmen können, wo er sich geradezu mit verzehrender Leidenschaft an die Korinther wendet, dass sie etwas tun möchten, um wirklich ein großes, ein reiches, ein Gott wohlgefälliges Opfer für Jerusalem zu bringen.

Und dieses Opfer sollte damals das Auseinanderklaffen von – wie wir heute sagen – Judenchristen und Heidenchristen, neugewonnenen Christen, verhüten helfen und sollte letztlich dem ganzen Volk Israel zugute kommen; so nennt es ja der Apostel auch, Apostelgeschichte 24, gegenüber dem römischen Richter, Almosen zu bringen für mein Volk, denn es geht ihm gerade bei diesem Liebesopfer nicht nur um die ecclesiola in ecclesia, um die kleine Urgemeinde in Jerusalem, sondern um das Volk als Ganzes, das Gottesvolk, das Alte Gottesvolk, um seine Brüder, die er – wieder das Wort vom Eifer – eifersüchtig, mit heiliger Eifersucht auf die Gottwohlgefälligkeit der neugewonnenen Christen aus den Heiden aufmerksam machen und dadurch gewinnen möchte (Röm 11,13 f.).

Solches gegenseitige Liebesopfer ist sicherlich etwas, was helfen kann, Brücken zu schlagen, Klüfte zu überbrücken, und in welchen Formen auch es sich durchsetzen mag (Cullmann berichtet, dass er einzelne Spenden schon aus beiden Lagern, dem protestantischen wie dem katholischen, für die jeweils getrennten Brüder hat auslösen können durch seinen Vorschlag, der in dem Büchlein „Protestanten und Katholiken“, das vor drei Jahren, 1958, erschienen ist), ob es in absehbarer Zeit zu regelmäßigen Spenden dieser Art in der Wiedervereinigungswoche kommen wird oder noch nicht. Jedenfalls lässt sich sagen, dass jeder in dieser Bereitschaft stehen sollte, nicht nur den unmittelbaren Brüdern gegenüber, sondern gerade auch den getrennten Brüdern gegenüber, Diakon, Diener, liebender Diener zu sein und ihnen diese Verbundenheit noch über das Trennende hinweg dadurch mit der Tat zu bezeugen, die er im Gebet, in der rechten Grundhaltung einnimmt.

In solchem Tun würde sich jener wohl gelenkte, jener heilige Eifer, jener Eifer Gottes dokumentieren, den wir alle den im Glauben getrennten Brüdern schuldig sind.


XIV. Folge 1962, Nummer 53/56, September 1962, S. 9–15

 



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