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Gertrud Luckner
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Botschaft und Gebot

in jüdischer, katholischer und evangelischer Sicht

Ein trikonfessionelles Gespräch zwischen Prof. Dr. F. Böckle, Chur, Dr. E. L. Ehrlich, Basel, Prof. Dr. Otto Michel, Tübingen, Prof. Dr. H. van Oyen, Basel, Prof. Dr. Karl Thieme, Mainz, und Religionslehrer I. Werczberger, Basel, redigiert für die Sendung im Studio Basel des Schweizerischen Landessenders Beromünster am 19. März 1962 durch E. von Schenck.

Die christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft in der Schweiz veranstaltete aus Anlass ihrer Generalversammlung in Basel im März 1962 ein öffentliches Forumgespräch über eine religiöse Grundfrage. Da es ein Hauptanliegen dieser Vereinigung ist, dass sich Christen und Juden besser kennen und verstehen lernen, wurde ein Thema zur Diskussion gestellt, bei dessen Erörterung Gegensätze zunächst unmittelbar in Erscheinung treten: Botschaft und Gebot. Es haben daran zwei Juden, zwei Katholiken und außer dem reformierten Theologen der Basler Universität, Professor van Oyen, der als Präsident der christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft das Gespräch leitete, auf protestantischer Seite noch ein lutherischer Theologe, Professor Dr. Otto Michel, teilgenommen.

Die zahlreiche Hörerschaft, die diesem Religionsgespräch mit gespanntester Aufmerksamkeit gelauscht hat, hat manches Ungewohnte gehört, hat manche Überraschung erlebt. Wir vermitteln unseren Hörern in der Folge eine Auswahl aus den Voten der Gesprächsteilnehmer, die Ihnen die wichtigsten der vorgebrachten Argumente vermitteln und Sie an einigen der Höhepunkte dieses spannenden geistigen Geschehens teilnehmen lassen mögen. In seiner Einführung sprach Professor van Oyen über die Voraussetzungen und die Absichten der Veranstaltung:

Man wird nie fertig, begann er, über solche Probleme, wie wir sie heute hier zur Diskussion stellen, nachzudenken. Wir meinen allerdings soweit zu sein, dass wir imstande sind, falsche Vorstellungen, karikaturhafte Vereinfachungen, die in der Öffentlichkeit immer wieder ihre fatalen Wirkungen ausüben, aus dem Wege räumen zu können; Missverständnisse, die die Begegnung zwischen gläubigen Menschen und das gegenseitige Verständnis, seien sie nun jüdisch, katholisch oder evangelisch, immer wieder erschweren.

Die Worte „Botschaft“ und „Gebot“ werden manchem die Worte „Evangelium“ und „Gesetz“ in Erinnerung gerufen haben. Aber damit interpretieren wir ja nur allzu leicht unsere Mitmenschen. Wir sagen etwa: Bei den Juden kommt alles auf das Gesetz an, wenn diese nur alles präzis nach den Buchstaben der Vorschriften ihrer Rabbiner erfüllt haben, dann wird Gott schon sehr zufrieden sein.

Andererseits meinen jüdische Gläubige – ich zitiere nach der Pressemeldung eines jüdischen Referenten –, die Verbreitung der christlichen Lehre konnte vor allem deshalb leicht vor sich gehen, weil das Christentum von seinen Anhängern keine Pflichten und Taten, sondern nur Glaube an Dogmen fordere. Also kein Gesetz, kein Gebot, bloß Evangelium, was aber heißen würde, Glaube an Dogmen ohne Werke. Wir sehen, zu welchen beschämenden Vereinfachungen es kommen kann, wenn man durchaus das andere religiöse Bekenntnis als dem eigenen völlig entgegengesetzt bezeichnen will. Die Worte „Botschaft“ und „Gebot“ hingegen stecken zunächst mal die gemeinsame Basis ab, auf der wir alle miteinander, gläubige Juden, Katholiken und Evangelische, stehen.

Unter „Botschaft“ ist zu verstehen der Ruf des lebendigen Gottes in seiner Offenbarung, in seinem Wort an die Menschen, so wie der Jude ihn am Sinai vernimmt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhause herausgeführt hat.“ Also, der Ruf des lebendigen Gottes, der sein Heil in der Geschichte offenbart durch den Bund mit Israel, der sein Heil in die Geschichte kommen lässt. Also der heilige Gott, der sein Volk zur Heiligung ruft, damit es ihn zum Segen aller Völker heilige. Von dieser alttestamentlichen Basis aus sieht der Christ die Verwirklichung der Heilstat dieses Gottes in Jesus Christus. –

Als Botschaft und Gebot in ihrer Zusammengehörigkeit wäre hier die gemeinsame Ausgangslage unseres Forumgespräches gegeben. Allerdings tauchen bei der näheren Durchführung Fragen auf, die jeden von uns bewegen. Der jüdische Religionslehrer Isidor Werczberger unternahm es zunächst, die entgegen den meist verbreiteten christlichen Missverständnissen untrennbare Einheit von Botschaft und Gebot im jüdischen Glauben darzustellen. Dass bei einem jüdisch-christlichen Gespräch in allererster Reihe dieses Problem, nämlich die Deutung von Botschaft und Gesetz stehen muss, war ja klar.

Religionslehrer Werczberger:

Wir haben wohl das Wort „Botschaft“ in der Bibel. Ich muss aber, um der Deutlichkeit willen, bemerken, dass, wenn ich von der Bibel spreche, meine ich immer nur das Alte Testament; also jenes Buch, das im jüdischen Volk und im Judentum als die Sammlung der Heiligen Schriften bezeichnet wird. In der Bibel aber ist von Botschaft nur im Zusammenhang mit der Heilsbotschaft über das kommende Heil für Israel und für die Völker die Rede, insbesondere bei Jesaja und bei den anderen Propheten.

Wir müssten also anstelle des Wortes „Botschaft“ das Wort „Lehre“ oder „Weisung“ nehmen, und wir müssen uns auch noch überlegen, ob die Worte „Lehre“ und „Weisung“ in ihrer Bedeutung überhaupt so eingeengt werden dürften, dass man über die Lehre, über die geoffenbarte Lehre und Weisung Gottes einerseits, und vom Gebot, vom Gesetz andererseits getrennt reden könnte. Wir haben doch keine Stelle oder kaum eine Stelle in der Bibel, wo die Trennung in diesem Sinne vollzogen würde. Schon beim Bundesschluss mit Abraham heißt es ausdrücklich:

„Denn Ich habe ihn erkannt, dass er seinen Kindern und seinem Haus gebieten wird nach ihm, dass sie beobachten den Weg des Herrn, um zu üben Gerechtigkeit und Satzung, damit der Herr über Abraham bringt den Segen, den Er über ihn gesprochen hat“ (Gen 18,19).

Wir sehen, dass schon bei Abraham keine Trennung zwischen der Botschaft, der Verkündung des kommenden Heils, und dem Gebot, dem Gesetz, vollzogen wird. Wir haben in der ganzen Bibel neben den Ausdrücken „Weisung“, „Lehre“, noch den Ausdruck „Weg Gottes“ als umfassendere Bezeichnung von Gebot und Gesetz: „Ich habe euch den Weg gelehrt, die Gebote, das Gesetz und das Recht.“

Wohl wurde das Gesetz als Lehre und Botschaft, die ganze Gesetzessammlung also, erst am Sinai offenbart; aber wir haben eben festgestellt, dass bei Abraham schon davon die Rede ist, dass er und seine Nachkommen das Gesetz verwirklichen werden. Wenn man nun von christlicher Seite davon spricht, dass im rabbinischen Judentum die Einheit der Gotteslehre aufgelöst wurde in unzählige Gebote, so beruht diese Behauptung auf einem Missverständnis.

An derselben Stelle, wo im Talmud die Zählung von 613 Geboten überliefert wird, werden auch biblische oder nachbiblische Autoritäten aufgezählt, die, nach Ansicht der Rabbinen, die Gesamtheit der Gesetze in wenigen Sätzen oder Worten zusammenfassen; z. B. in Psalm 15, wo da David, der Psalmist, eine Anzahl Gebote aufzählt, die der Mensch, „der reine Hände hat und ein klares Herz“, verwirklichen wird.

Oder der Prophet Habakuk, der sagt, „der Gerechte lebe in seinem Glauben“, in seiner Treue; oder bei Micha: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gerechtigkeit üben und Güte lieben und bescheiden gehen mit deinem Gott.“

Aber diese Stellen werden dort als Zusammenfassungen aller Gebote der Lehre gedeutet. Gerade diese Rabbinen gingen ja noch weiter und versuchten selbst, in einzelnen Sätzen – wahrscheinlich von der griechischen Philosophie beeinflusst – die ganze Lehre und also die Gesamtheit der Gesetze zusammenzufassen. So geschieht es bei Hillel, wenn er sagt: „Was dir verhasst ist, tue nicht deinem Nächsten, das ist die ganze Lehre, alles andere ist der Weg dazu, und nun gehe hin und lerne diesen Weg.“

Oder wenn Akiva vom Grundsatz der Lehre spricht, so fasst er sie nicht nur in einem Gebot zusammen, sondern er will darin die gesamte Lehre, also auch Gebot und Gesetz verstehen. Der Grundsatz der Lehre ist laut Akiva: „Du sollst lieben Deinen Nächsten, er ist wie Du.“

Ebenso wenn Ben Soma sagt: „Nicht das ist der Grundsatz, sondern der Grundsatz ist: Im Ebenbilde Gottes schuf Er ihn, Mann und Frau schuf Er ihn und nannte seinen Namen Adam“, will er den Grundsatz von Lehre, Gebot und Gesetz formulieren.

Wir sehen also, dass die Rabbinen die Lehre nicht in Einzelgesetze auflösen wollten. Im Gegenteil suchten sie die ganze Lehre in der Idee auf einen Satz zurückzuführen und in der Praxis der Gebote und der Gesetze die Einheit mit dem Glauben in der Gesinnung dadurch zu schaffen, dass nicht nur Tat und Gehorsam, sondern Liebe und Gesinnung bei der Erfüllung, bei der Verwirklichung der Gebote verlangt wird.

Für den Juden blieb seit jeher und wird auch immer die Einheit zwischen zwei Glaubenssätzen bleiben, die in nichtjüdischer Sicht Gegensätze sein sollten: Nämlich zwischen dem Vertrauen auf die Gnade Gottes und der Gewissheit, dass „Recht und Richter“ in dieser Welt herrschen, also dass Gottes Regiment „Recht und Barmherzigkeit“ ist. Jedes Gebot soll mit der Absicht, Gott zu dienen, erfüllt werden. Wenn jemand, ganz gleich, ob er Gebete spricht oder irgendein formales Gebot, das die Beziehung des Menschen zu seinem Schöpfer gestalten soll, ausübt und nicht dabei die Absicht hat, Gottes Gebot zu erfüllen, also Gott zu dienen, dann hat er nichts getan.

Anders ist es bei den Geboten „zwischen Mensch und Mensch“. Da gilt das Prinzip, dass Gerechtigkeit nur nach dem Maßstab der Liebe, die in der Tat der Gerechtigkeit Wirklichkeit ist, vollendet wird. Übt aber der Mensch die Gebote der Gerechtigkeit mit Liebe aus, so erfüllt er Gottes Gebote und Gesetze auch, wenn er sie nicht mit „Kawwana“, mit der religiösen Absicht, Gottes Gebote zu erfüllen, getan hat.

Es ist auch bemerkenswert, dass das rabbinische Judentum als das Minimum an Lehre im täglichen Gottesdienst nicht die Zehn Gebote, sondern das Wort bestimmte: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig“ und: „Du sollst lieben den Herren Deinen Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele, ganzem Können.“

Das heißt, dass dieselben Rabbinen, die versucht haben, die Gebote zu zählen und versucht haben, einen Zaun um die Gebote zu schaffen, die unmittelbar offenbarten Gebote Gottes durch Menschenwerk zu schützen, weil wir es geschützt haben wollen, weil wir uns schwach fühlen, sie ohne Schutz zu bewahren, zu verwirklichen; dieselben Rabbinen haben eingeführt, dass der Jude täglich, am Morgen und am Abend, nicht bestimmte Gesetze, sondern den Glauben, das Vertrauen auf Gott verkünden soll: Er, der Herr, ist einzig, Ihn sollst du lieben, seine Worte sollst du lernen und lehren, seine Worte sollen deinen Geist und deinen Leib beherrschen. –

Dr. Ehrlich vermutete als Historiker des Judentums wohl richtig, dass mancher christlicher Hörer hätte versucht sein können, hier so viel ihm Vertrautes im Judentum zu entdecken, dass er den zunächst unüberbrückbaren Bruch übersehen könnte.

Das, worauf ich da hinweisen will, ist Folgendes: Wenn wir von „Botschaft und Gebot“ reden, bricht doch offenbar der Bruch zwischen Judentum und Christentum besonders heftig auf. Wir denken hier an gewisse Stellen im Römerbrief und im Galaterbrief. Hier scheint uns das gesamte Wissen um die jüdische Tradition als eine der Grundlagen des Neuen Testaments überhaupt nichts mehr zu nützen. Ich denke hier etwa an Römer 4,15: „Denn das Gesetz bewirkt Zorn, wo aber kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung“, oder noch ärger, Galater 3,10: „Denn alle, die aus Werken des Gesetzes sind, die sind unter dem Fluch.“

Hier zeigt sich doch nun etwas ganz Entscheidendes in der Spannung zwischen Judentum und Christentum, wo uns alles Wissen voneinander und alle liebende Kenntnisnahme einfach nicht mehr hilft. Der Jude muss angesichts solcher neutestamentlicher Äußerungen feststellen, dass hier die ganze göttliche Weisung, die göttliche Offenbarung schlechthin negiert wird.

Andererseits liegt aber wohl bei Paulus auch eine ganz andere Wertung des Gesetzes, der Tora vor, die Paulus keineswegs global ablehnt. Wenn wir auf Röm 7 schauen, dann spricht Paulus vom Gesetz als heilig und gut und von Gott gegeben. Es besteht also bei Paulus eine innere Problematik, die nicht ohne weiteres als eine Ablehnung oder Leugnung des Gesetzes verstanden werden kann. Es dürfte sich offenbar um eine innere Spannung in Paulus selbst handeln. Wir möchten nun gern von Herrn Michel [ev.]hören, wie er diese Spannung versteht.

Prof. Otto Michel:

Ich glaube, dass wir hier zunächst einmal die ganze bittere Wahrheit enthüllen müssen, um die es geht. Es ist nicht nur eine Spannung, sondern es liegt eine Diskrepanz vor, die nicht beseitigt werden kann. Was wirft Paulus dem Gesetz vor und was würde er in diesem Augenblick tun, wenn er hier unter uns wäre? – Bei den Sätzen von Herrn Werczberger würde er die Ohren zugehalten haben, und zwar aus einem ganz einfachen Grunde: Er muss dem Gesetz vorwerfen, dass es zunächst christusfremd ist.

Voraussetzung für die Botschaft des Paulus ist, dass ein Geschehen von Gott hergekommen ist, das er anerkannt hat. Und diese letzte Voraussetzung – dass eine Offenbarung von Gott hergekommen ist, die er hat anerkennen müssen – traf ihn auf einem Weg, auf den das Gesetz ihn gebracht hatte und der ihn nicht zur Anerkennung des Messias Jesus führen konnte.

Ja, im Gegenteil, er hat auf diesem Weg des Gesetzes sich vor der Offenbarung unter dem Kreuz schuldig gemacht; er hat Menschen verfolgt, weil er dem Gesetz treu bleiben wollte. Und weil sein Eifer um das Gesetz und sein Lebensweg falsch ausgerichtet waren, ist er zum Gegner des Gesetzes geworden. Darum hat er zunächst einmal gemeint, dass Gott allein die Ohren öffnen müsse, die Augen öffnen müsse, damit die Menschen die Tiefe des Heils erkennen könnten, die vorher das Rabbinat als solche nicht zu erkennen vermocht hatte.

Das ganze Studium des Gesetzes konnte keine eschatologische Offenbarung öffnen, und diesen Satz: Das Studium des Gesetzes kann keine eschatologische Offenbarung öffnen – diesen Satz hat Paulus durchgefochten bis zum Letzten. Wo er aber die Gewissheit hatte, dass diesem Satz keiner widersprach, konnte er hinterher sagen: Ja, Wege gibt es vom Gesetz und vom Alten Testament her zum Kreuz und zur Auferweckung Jesu; Wege gibt es, und ich zeige sie euch. Aber diese Wege, die es gibt, sind keine einfachen Wege, sondern solche, auf denen man auf Schritt und Tritt stolpert und die nur von Menschen begangen werden können, denen die Augen in anderer Weise geöffnet sind.

Es ist also nicht so, dass zwischen dem Alten und dem Neuen Testament für Paulus keine direkte Verbindung gegeben wäre; es ist auch keine Spannung da, sondern es ist ein Bruch da: Verflucht ist, wer am Holze hängt – so liest es Paulus im Alten Testament, und er erträgt diesen Fluch. Erst, nachdem der Bruch vollzogen ist und der Fluch gesehen wird, der den direkten Übergang vom Alten zum Neuen Testament verhindert, kann er helfen, die Wege zum Alten Bund wieder zu öffnen. – Ich stimme ganz den Freunden zu, dass das Paulinische nicht das Neutestamentliche ist, das Paulinische ist vielmehr ein Durchbruch mitten im Neutestamentlichen. Aber das Motiv dieses Durchbruchs muss so hart gesehen werden, wie es hier geschildert worden ist, denn nur so verstehen wir uns untereinander.

Diese paulinischen Sätze haben ja unser Blut gekostet, haben das Blut unserer Väter gekostet, haben einen blutigen Kampf entfacht nicht nur zwischen Rabbinat und Paulus, sondern auch zwischen katholischer Kirche und lutherischer Kirche.

Dr. Ernst v. Schenck:

Aus dieser letztlich kaum mehr diskutierbaren Situation, die aus dieser Welt hinausführt, weil durch sie alle befolgbaren Gebote jeden Heilssinn zu verlieren scheinen, führte der Moraltheologe Professor Böckle zur katholischen Ethik, in der er viel Verwandtschaft zur jüdischen Gebotslehre zu sehen bereit war, wie sie von Herrn Werczberger interpretiert wurde.

Professor Franz Böckle:

Es ist ja nicht so, dass wir in der Moraltheologie einfach aus dem Alten oder Neuen Testament fixfertige ethische Sätze herauslesen können, die wir dann im Sinne eines fertigen Gesetzes kasuistisch auf Einzelfälle anwenden können. Das Schriftwort ist ein Glaubenszeugnis; so sehr es durch die Inspiration Gotteswort ist, ist es doch eigentlich ein von Menschen abgegebenes Zeugnis, und zwar ein Zeugnis für das, was Gott am Menschen getan hat. Was Gott am Menschen schöpferisch getan hat, was er erst recht durch die Erlösung in Christus in der Neuschöpfung, in der „Kainé ktísis“ (neue Schöpfung), am Menschen tut.

Das sind die zentralen Wahrheiten der Offenbarung und darin geborgen die christliche Anthropologie, das christliche Menschenbild. Und in diesem Menschenbild liegt nun im Tiefsten eingeschlossen die sittliche Verpflichtung. Es wird uns also im Alten und im Neuen Testament geschildert, was Gott für uns und an uns gewirkt hat, was Er in der Schöpfung für uns tat, was Er in der Verheißung, im Bund mit Abraham getan hat, wie Er sein Volk zum Heil führen wollte, wie aber das Volk den geheimen Sinn des Gesetzes nicht erkannte, bis Christus durch seinen Tod das Gesetz erfüllt hat. In ihm gründet das neue Gottesvolk, das nicht mehr unter dem Gesetz steht (Röm 6,15), sondern im Gesetz Christi lebt (1 Kor 9,21). So ist für den in Christus neu geschaffenen Menschen das Gesetz nicht aufgehoben, sondern zu Stand und Wesen gebracht.

Hier kam es zu einem bewegten evangelisch-katholischen Dialog, in dem nun Professor Michel der katholischen Ethik eine Vergriechung vorwarf, welcher der an Israel ergangenen Botschaft den vollen religiös-eschatologischen Ernst nehme.

Professor Michel:

Ich kann nur protestieren: Das Gesetz war niemals in Israel eine Norm zum Erreichen des Menschenbildes, sondern es war in Israel die Norm, die Gott für das Volk gegeben hatte; der Einzelne hatte am Gebot Anteil, soweit er am Volk Anteil hatte. Ich kann, wenn Sie so sprechen, wie Sie eben gesprochen haben, d. h. wenn Sie das Gesetz so stark in die Anthropologie einbeziehen, immer nur das Misstrauen haben, hier handle es sich letztlich um das, was der Grieche mit „nomos“ und der Römer mit „lex“ gemeint haben, hier handle es sich jedoch nicht mehr um das Gesetz Israels. Ich kann nur sagen, dass jedes Gebot bei Paulus, jedes Gebot bei Johannes nichts anderes ist als eine konkrete Einfassung des Grundsatzes: „Ihr müsst mit Christus gestorben sein“ bzw. „Ihr müsset von Neuem geboren werden“.

Professor Thieme führte das Gespräch zurück auf das Verhältnis des Paulus zum Judentum und führte den wichtigen historischen Gesichtspunkt ein, dass es dem Apostel doch um die Missionierung der Heiden zu tun war, welche die den Juden gegebenen Gebote nicht hatten übernehmen können.

„Das Gesetz war für ihn ein Hindernis geworden, die unerhörte Einzigartigkeit des Gottesverhältnisses dieses Jehoschua von Nazaret anzuerkennen, die der Nazarener aus Galiläa für sich selber behauptet hatte und die dann vollends seine Apostel und Jünger von dem Auferstandenen behaupteten“ (Apg 7,55 f.). Wenn ihm nun dieser Auferstandene begegnete, dann scheint es mir kein Zufall, dass in der Apostelgeschichte der Erneuerte in der Synagoge von Damaskus verkündet: ‚dieser ist Gottessohn‘ (Apg 9,20). Erst als zweites ‚dieser ist der Messias‘ (Apg 9,22). Also das eine große Hindernis, warum der Mann aus Nazaret nicht Messias gewesen sein konnte, weil nämlich für ihn ein angebliches einzigartiges Gottesverhältnis – ich brauche absichtlich den noch sehr vagen Ausdruck – behauptet wurde, das war für Paulus durch Damaskus erledigt. In der Hinsicht war das Gesetz zum erstenmal Hindernis gewesen.

Zum zweitenmal wurde das Gesetz Hindernis, als er nun begonnen hatte, den Völkern, den Heiden, zu verkündigen und das Gesetz mit der Forderung kam: ‚Wer zu Israel ganz gehören will, wer Same Abrahams geworden sein will, der muss im Endresultat Vollproselyt werden, die Beschneidung empfangen und alles Entsprechende in der Konsequenz leisten.‘

Das stellte sich als Hindernis heraus gegenüber Pauli Art von Eingliederung der Völker in das nach seinem Glauben erneuerte Israel, diese Kerngemeinde, diese ‚ecclesiola in ecclesia‘, stellte sich als Hindernis dem entgegen, und das hat ja vor allem die Leidenschaftlichkeit des Heidenapostels gegen die sogenannten Judaisten verursacht.

Ich glaube, dass man das verstehen kann, verstehen muss, aber nicht so absolut setzen darf wie unsere evangelischen getrennten Brüder versucht sind, es absolut zu setzen, sondern dass dann – das hat ja nun erfreulicherweise Herr Michel am Schluss auch angedeutet – jenseits dieses Bruches die Stelle kommt, wo Paulus wieder entdeckt, das ganze Gesetz hat sein ‚telos‘ (Röm 10,4), sein Endziel, seine Endsumme in dem lebendigen Beispiel dieses Jehoschua von Nazaret, in dem wir einen Person gewordenen Nomos, eine animata lex, Tora, eine Weisung durch Beispiel, statt eine Weisung durch Gebote und Verbote vor uns haben; wenn wir nichts anderes tun als positiv der positiven Weisung, die uns hier vorgelegt ist, nachfolgen, dann haben wir alles, was das andere Gesetz wollte, das ja doch durch seine häufige negative Formulierung uns erschwerte, die Wegweisung freudig anzunehmen, haben wir im ‚Endsinn', haben wir in der Liebe das Gesetz erfüllt, in dem Glauben, der sich in der Liebe auswirkt (Gal 5,6).

Und dann brauchte Paulus auch dem Jakobus, der das Gesetz durchführte, wie er es von Jugend auf gelernt hatte, nicht zu widersprechen und konnte er sogar auf Jakobus’ Bitte eine ausgesprochen gesetzliche Erfüllung leisten (Apg 21,18 ff.), d. h. er konnte in seinem äußeren Handeln bis zu seinem Ende als toratreuer Jude leben, weil er durch den Bruch hindurch jenseits des Bruches tatsächlich wieder beim Gesetz in der Form, in der er es uns zu verstehen gelernt hatte, gelandet war.“

Von hier aus wollte es fast scheinen, als ob das Christentum geradezu in den Stand einer bloßen Variante des Judentums und seiner Gotteslehre für zu bekehrende Heiden zu versetzen sei.

J. Werczberger:

In der Aussprache, die heute zwischen den getrennten Brüdern, evangelischen und katholischen Christen – richtiger zwischen evangelischem und katholischem Christentum – stattfand, geht es auch in meinen Augen nicht nur um Gegensätze zwischen Menschen, sondern zwischen Gemeinschaften und Glaubensweisen; das ist für mich als Juden nicht überraschend, nicht ganz so erschütternd, wie es zu erwarten wäre, weil ich darauf gefasst war, und weil der Gegensatz für mich nicht scharf erscheint.

In dem Moment, wo der Bruch zum Gesetz vollzogen wird, wenn auch bei Paulus dies nicht nur für sich persönlich geschah, sondern in der Hauptsache für die Heiden, die er als geistige Söhne Abrahams zu gewinnen suchte, – in diesem Moment gibt es für mich als Juden keinen Unterschied zwischen solcher oder anderer ideologischer Einstellung zum Begriff des Gesetzes, entscheidend bleibt nur die Einstellung zur Verbindlichkeit des Gesetzes.

Tief war der Gegensatz der urchristlichen Gemeinde zu Paulus, weil Jakobus, wenn er die Gesetze beobachtete und ein toratreuer Jude blieb, hat nur verwirklicht, was ihm, aus seinem Christusglauben als die christliche Aufgabe gestellt war, durch die ihm verbindliche Heilsbotschaft und durch das Vorbild im Leben Jesu das Gesetz neu zu erleben und so erst zu verwirklichen, weil das Evangelium Jesu in Wort und Lehre ihm nichts von einem Bruch der Verbindlichkeit und in der Beobachtung der Gesetze berichtete.

Dr. v. Schenck:

Hier musste Professor Michel noch einmal die ganze Schwere der im diskutierten Thema enthaltenen Problematik mit dem deutlich hörbaren Pathos des in eine gänzlich veränderte Situation geworfenen modernen Menschen aufreißen.

Professor Michel:

Es geht ja nicht darum, dass wir in der Gotteslehre oder in der Lehre vom Menschen die richtigen Überzeugungen bekommen; es geht gar nicht um „Richtigkeit“, denn manches, was Paulus sagt, ist in dieser Form so gar nicht „richtig“, und die Schwierigkeiten bei einem Mann wie Luther lagen nicht darin, dass er in irgendeiner Weise daran gezweifelt hätte, dass seine Gotteslehre richtig war; die Schwierigkeit war vielmehr so, dass er glaubte, weder der Mensch noch die Welt könnten durch eine richtige Gotteslehre oder eine richtige Menschenlehre in Ordnung gebracht werden. Sie sind nicht mehr in Ordnung zu bringen.

Nun ist die Frage, ob das, was innerhalb der reformatorischen Auslegung geschehen ist, heute nach viereinhalb Jahrhunderten noch wiederholt werden kann und in welcher Form es wiederholbar ist, oder ob es inzwischen vielleicht noch gefährlicher geworden ist als die Gefahren, die vom Judentum und von der katholischen Kirche ausgegangen sind. Ich wäre nicht Lutheraner, wenn ich nicht diese Fragen wieder neu stellte. Wenn sie in dieser Form als bedenklich angesehen werden, dann möchte ich wissen, wie sie anders ausgedrückt und anders ausgesprochen werden können, und ob meine Brüder vom Judentum und meine Brüder von der römisch-katholischen Kirche mir zu helfen vermögen angesichts der Not, in welcher der moderne Mensch heute steht, und zwar mitten in Israel und mitten in der römischen Kirche und mitten in der lutherischen Kirche. Alle Kirchen und Gemeinschaften stehen nämlich heute in einem Engpass und müssen entscheiden, ob ihr bisheriger Weg weiterführt oder ob es besser ist, auf einem anderen Weg vorwärtskommen zu wollen.

Professor Böckle antwortete auf diese herausfordernde Frage zunächst durch einen Abriss der Grundlagen der katholisch-thomistischen Moraltheologie:

Professor Böckle:

„Das Evangelium, selbst wenn es, wie bei Thomas, als Gesetz bezeichnet wird (lex evangelica I. II. 106–108), steht in scharfem Gegensatz zu jedem Versuch, irgendein Gesetz als Mittel zur Rechtfertigung vor Gott zu benützen. Das ,neue Gesetz’ ist die Erlösungsgnade selbst, es ist die Gnade des Heiligen Geistes, die den Menschen innerlich wandelt und ihm die Kraft gibt, den Willen Gottes zu erfüllen. Die Weisungen des Evangeliums bilden mit der Gnade (die Evangelischen mögen sagen mit dem Zuspruch der Rechtfertigung) eine Einheit; sie zeigen uns auf und mahnen uns, was für Frucht zur Heiligung wir bringen sollen.

Und hier glaubte ich eben aus den Worten von Herrn Werczberger einen ganz neuen Ton zu hören. Es besteht eine echte Analogie zwischen dem Verhältnis der Verheißung (Epangelia) zum Gesetz und dem Verhältnis von Evangelium und neuem Gesetz (resp. Evangelischer Ermahnung). Das Evangelium ist wirkkräftiger Zuspruch des Heiles, in der Ermahnung wird der Christ aufgerufen, das Heil anzunehmen und auszuwirken in wahrer Fruchtbarkeit.“

Schlusswort:
Professor van Oyen:

„Es geht eigentlich wohl um diese großen Linien, ob man die Verwirklichung des Lebens vom Gebot her vor Gott auf eine gewisse stufenweise Verwirklichung durchführen kann, auf die Bestimmung der Menschlichkeit, die Bestimmung des menschlichen Lebens hin, auf die Ewigkeit hin, oder ob man annehmen muss, und das ist wohl besonders von der paulinischen Theologie her geprägt worden, ob man annehmen muss, dass eigentlich zwischen Gott und Mensch ein Bruch vorliegt, von der Sünde, von der Erbsünde, von woher auch, jedenfalls ein totaler Bruch, wo man erst von Christus her von der neuen Tat Gottes in Christus her neu einsetzen kann, immer wieder in dem Bewusstsein, dass dieser neue Einsatz schließlich selber auch wieder eine Gabe Gottes ist durch Christus.

Hier sind also zwei Linien zu unterscheiden, die wohl vielleicht die Grundlage des ganzen Gesprächs waren. Wir können nicht zu einem Resultat kommen, das Resultat war das Gespräch selbst. Das war wohl das Wertvolle daran, dass wir überhaupt so miteinander sprechen konnten, uns so begegnen konnten, ich glaube, in dieser Hinsicht hat es einen großen Sinn gehabt und hoffe, dass es auch für Sie mitreißend gewesen ist.“


XIV. Folge 1962, Nummer 53/56, September 1962, S. 5–9


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