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Heinrich Pachowiak

Hier wurde unschuldiges Blut vergossen

Ansprache von Heinrich Pachowiak, Weihbischof von Hildesheim, bei der Gedenkfeier in Bergen-Belsen am 24. August 1962, anlässlich des 79. Deutschen Katholikentages in Hannover.

Mit freundlichem Einverständnis des Zentralkomitees der deutschen Katholiken veröffentlichen wir die nach dem Sühneopfer in der Kirche „Zum kostbaren Blut“1 in dem ehemaligen KZ-Lager Bergen-Belsen gehaltene Ansprache unter der Überschrift, mit der der ‚Christliche Sonntag’ (14/37) sie vom 16.9.1962 brachte (vgl. auch Herder-Korrespondenz, 17/1, S. 34 f.).

Die Klagelieder des Propheten Jeremias, die die Kirche zu ihren Trauergesängen gemacht hat, klangen über das weite Gräberfeld mitten in der Heide. In den gleichen ergreifenden Gesängen, die einst das Gottesvolk zum Himmel sandte, als es vom Heiligtum in Jerusalem verbannt war und in der Gefangenschaft sein Dasein fristete, drückt die Kirche in den Kartagen die erschütternde Klage über den Tod ihres Herrn und Meisters aus. Hier auf der Heide, inmitten der riesigen Grabhügel mit ihren kargen und doch so eindringlich sprechenden Angaben, haben jene Klagelieder ihr besonderes Recht und ihren eigenen Klang.

Die Gräber für 50 000 russische Soldaten befinden sich hier in unmittelbarer Nähe. Hier wurden 35 000 Tote des Konzentrationslagers Bergen-Belsen verscharrt. Hier liegen beieinander die Toten vieler Nationen, Deutsche und Nichtdeutsche, Juden und Christen, Männer, Frauen und Kinder. Gemeinsam haben sie als Opfer ungerechter Gewalt namenlose Grausamkeit erlitten bis hin zu einem Tode in unbeschreiblicher Not und Qual.

Für sie und für alle Opfer des Unrechts und der Gewalt haben wir eben in der Sühnekirche vom Kostbaren Blut, deren Grundriss sich wie ein Leidenskelch zum Lager hin öffnet, das hl. Messopfer dargebracht und zur gleichen Stunde scharten sich in Hannover im Niedersachsenstadion Zehntausende um den Opferaltar.

Beim Berliner Katholikentag 1958 standen wir an der Hinrichtungsstätte Plötzensee und gedachten der Opfer eines verbrecherischen Regimes, die zu Märtyrern geworden sind. Beim Eucharistischen Weltkongress in München waren wir im Lager Dachau und stellten uns die Todesangst der vielen Tausende vor die Seele.2 An diesem Abend des 79. Deutschen Katholikentages in Hannover sind Abordnungen der deutschen Katholiken hierher gekommen um zu bekennen, dass die furchtbare Not der Lager immer noch nach Sühne ruft.

Leid und Not der Menschen gehören ebenso wie Schuld und Sühne unter das Kreuz unseres Herrn. „Er hat unsere Leiden getragen, unsere Schmerzen auf sich geladen“ (Jes 53,4). So wurde im heiligen Opfer eine Brücke geschlagen zu allen Stätten der Not und Grausamkeit, die in unserem Volk und außerhalb seiner Grenzen der Entsühnung bedürfen. Alle Opfer der Gequälten werden segensvoll in der Verbindung mit Christus, der als „Erstgeborener unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29) „durch das Blut seines Kreuzes Frieden stiftete, um alles zu versöhnen, was auf Erden und was im Himmel ist“ (Kol 1,20). Alle Schuld, die vergangene und die gegenwärtige, mag sie noch so groß sein, hat Christus der Herr in seiner Erlöserliebe mit nach Golgatha genommen. –

Sein Sterben war Sühnetod. Doch auch wir Menschen können vereint mit Christus und als Glieder seines Leibes, dessen Haupt er ist, Sühne leisten; ja mehr noch, das Sühnewerk des Opfertodes Jesu Christi verlangt von den Christen eine persönliche Sühnehaltung. Dazu sind wir in besonderer Weise gerufen.

Was uns zuerst nottut ist, dass wir zur Einsicht kommen und unsere Schwäche, menschliche Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit erkennen. Deshalb müssen wir mit Scham und Abscheu feststellen, dass Unmenschlich-Grausames in unserer Mitte geschehen ist. Unschuldiges Blut ist hier und in anderen Lagern vergossen worden. Auch wenn wir in den Jahren der Drangsal nicht wussten, was alles an den Stätten des Grauens geschah, so müssen wir doch bekennen:

Die Kraft unseres christlichen Glaubens
war in jenen Tagen zu schwach.
Das Zeugnis der christlichen Liebe
haben wir nicht ernst genug genommen.
Die Wachsamkeit, die der Herr von uns fordert,
hatte nicht unser Herz ergriffen.
Die Verantwortung für den Widerstand
war in uns zu wenig lebendig.

So wurde das Böse übermächtig in unserem Volk und die Stunde der Finsternis kam über uns. Zwar dürfen wir vertrauen, dass der gewaltsame Tod der Edelsten unseres Volkes, die Widerstand leisteten, ein Sühnopfer sein wird vor Gott und den Menschen. Doch soll auch dieses Bekenntnis ein Akt der Sühne sein und uns alle zu verantwortungsbewusster Sühnetat neu aufrufen.

Dabei umfasst unser Sühnegedenken alle, die hier und an anderen Stätten der Gewalt und des Grauens gelitten haben und gestorben sind. Unter einem jener Hügel dort ruht das Mädchen Anne Frank, das in diesem Lager ihr junges Leben ließ. Wir denken an Pater Maximilian Kolbe, den polnischen Franziskaner, der in Auschwitz für einen Familienvater in den Todesbunker ging und dort umgebracht wurde.

Wir Christen müssen uns besonders der Verpflichtung bewusst bleiben, die wir dem Volke gegenüber haben, aus dem Christus, der Erlöser der Welt, dem Fleische nach hervorgegangen ist. Die Dankbarkeit für die Gnade der Erlösung verpflichtet uns in erhöhtem Maße. Die Gabe der Liebe, die wir vorhin in der Sühnekirche beim hl. Opfer zusammentrugen, ist israelitischen Kindern zugedacht. Sie soll ein Zeichen sein, das anregt, sich im Geiste der Sühne zu vereinen, um an den Überlebenden gutzumachen, was wir an den Toten nicht mehr gutmachen können.

Wir dürfen an dieser Stätte auch jener heiligmäßig großen Frau gedenken, die im Bereich dieses Bistums, in Göttingen, Studienzeit und Jahre geistiger Arbeit verbracht hat und als Beispiel sühnender Liebe zu uns spricht. Als Kind einer jüdischen Familie wurde Edith Stein in Breslau geboren. Sie wusste sich durch Geburt und Abstammung in gleicher Weise dem deutschen wie dem jüdischen Volk verbunden. Als sie den Nachlass eines gefallenen Freundes ordnete, erlebt sie an der Frau des Gefallenen, die evangelische Christin war, wie sehr Leid und Schmerz aus der Kraft des Kreuzes Christi gemeistert werden können. Später führte sie die Biografie einer großen Heiligen zum Glauben an den Gekreuzigten.

Ihm dient sie von da an in ihren wissenschaftlichen Arbeiten bis hin zur Ganzhingabe als Ordensfrau im Karmel zu Köln. Sie litt unsagbar unter dem Unrecht, das ihren jüdischen Volksgenossen von ihren deutschen Landsleuten angetan wurde. Dieses Unrecht erfuhr sie an sich selbst bis zur Verhaftung und Verschleppung in das Lager Auschwitz. Sie setzte allem Leid grenzenlose Geduld und ein Übermaß an Liebe entgegen. Sie nahm alle Grausamkeit und Brutalität der Peiniger in Verbindung mit Christi Leiden als einen Beitrag zur Sühne auf sich. Sie war zutiefst durchdrungen davon, dass aller Hass der Welt nur durch die ausgleichende Liebe wahrhaft überwunden werden kann. Mehr als je zuvor trug sie im Schreckenslager ihren Schwesternnamen mit Recht: Theresia Benedicta vom Kreuz. Wie ein Engel des Trostes stand sie unter den Frauen und Müttern des Lagers. Wo andere verzweifelten, verbitterten und dem Hass verfielen, gab sie Trost und stille Aufmunterung und leistete Kindern, Kranken und Sterbenden auch die geringsten Dienste. Eine Mitgefangene sagt von ihr: „Wie eine Pietà ohne Christus kam sie mir vor.“

In dieser begnadeten Frau hat Gott unserem deutschen und dem jüdischen Volke zugleich ein erhabenes Vorbild gegeben. Mögen nur wenige unter den Millionen, die in den Schreckenslagern lebten und starben, aus solchem Geist ihr Leid gesehen und gemeistert haben: In diesen wenigen ist alles Leid geheiligt. Auch die geringe Schar wirkt in stellvertretender Sühneleistung unendlich viel Segen für beide Völker.

Wenn wir vor dem unsagbaren Leid der Millionen noch heute hilflos stehen, die in Edith Stein sichtbar gewordene Liebe zum Kreuz weist uns den Weg, den wir als Christen aus dem Glauben gehen müssen. Ein Leben der Sühne unter dem Kreuze Christi vermag Unrecht abzugleichen und die Untat des Hasses in Segen zu verwandeln. Damit dies geschehen kann, bedarf es eines tiefen Glaubens, eines Glaubens, der sich bedingungslos Christus dem Herrn ergibt.

Gerade an dieser Stätte des Leidens und des Grauens bekommt das Wort des Katholikentages GLAUBEN – DANKEN – DIENEN neues Gewicht.

Unser Volk wird nur dann bewahrt bleiben vor dem erneuten Absinken in die Gräuel der Barbarei, wenn die Kraft des christlichen Glaubens in uns erstarkt.

Was hier und anderswo geschah, kann nur verhindert werden, wenn das Zeugnis christlicher Liebe ernst genommen und gelebt wird.

Die Würde des Menschen wird nur dann unangetastet bleiben, wenn wir als Christen die vom Herrn geforderte Wachsamkeit üben.

Den Unheilskräften, die in jedem Volke sich melden können, werden wir nur dann zu widerstehen vermögen, wenn wir in der Verantwortung leben, die das Apostelwort uns auferlegt: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29).

Tiefe Dankbarkeit erfüllt uns gegen die treuen Zeugen, die im Bekenntnis ihres Glaubens nicht versagten und dafür ihr Leben zu geben bereit waren. Dank schulden wir dem Herrn, dass er in dunkelster Zeit seine Auserwählten zwar geprüft hat, wie das Gold im Feuer, sie aber hat leuchten lassen – „ohne Schuld und Fehl inmitten eines bösen und verkehrten Geschlechtes wie Sterne im Weltall“ (Phil 2,15).

Der erhabene Dienst, den sie Volk und Kirche, ja der Menschheit geleistet haben, verbindet ihr Lebensopfer mit dem Opfer unseres Herrn. Und wenn wir „daran die Liebe Gottes erkannt haben, dass er sein Leben für uns hingab, so müssen auch wir unser Leben einsetzen für die Brüder“ (1 Joh 3,16). „Da gilt nicht mehr Heide noch Jude, nicht Knecht noch Freier, sondern alles und in allem Christus“ (Kol 3,11).

So verkünden wir Christus den Gekreuzigten und verpflichten uns erneut dem Gesetz seiner dienenden Liebe. In ihm leuchtet auch hier an der Stätte des Todes die Hoffnung seliger Unsterblichkeit auf. In dieser Hoffnung wenden wir uns zum Herrn und Schöpfer, zum Vater aller Dinge und Menschen und beten:

Herr, heiliger Vater, allmächtiger ewiger Gott, Du hast uns zum Glauben an Jesus Christus, Deinen Sohn, berufen. In Seinem Kreuz hast Du uns das Opfer der Sühne und des Dankes und in Seinem Wandel das Beispiel liebenden Dienens gegeben. Denn Du bist die Wahrheit, Du bist die Liebe, Du allein unser Heil. Dir sei der Dank unseres gläubigen Dienstes durch Jesus Christus in der Einheit des Heiligen Geistes in Ewigkeit. Amen.

  1. Die Inschrift an der Sühnekirche in Bergen lautet: „Diese Sühnekirche vom kostbaren Blut wurde geweiht dem Gedenken an die Opfer ungerechter Gewalt aus allen Nationen und Konfessionen im Lager Bergen-Belsen.“
  2. Vgl. ,Liebe siege über die Gewalt’, Ansprache von Bischof Dr. Franz Hengsbach. Freiburger Rundbrief Nr. 50/52, S. 4 f.

XIV. Folge 1962, Nummer 53/56, September 1962, S. 3–5


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