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Professor Dr. Clemens Thoma

David Flusser zum 60. Geburtstag

Eine fragmentarische Biographie

Von Am 15. September 1977 wird Dr. David Flusser, Professor für Religionswissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem (Spezialgebiet: Zeit des 2. Tempels, Neues Testament), seinen 60. Geburtstag feiern können. Der Freiburger Rundbrief will schon vorzeitig mit roten Rosen aufwarten, damit auch andere Freunde, Schüler und Verehrer des Jubilars auf dieses Ergebnis aufmerksam werden.

Professor Flusser hielt im Wintersemester 1975/76 Gastvorlesungen an der Theologischen Fakultät Luzern. Das Thema lautete: „Jesus im Lichte des damaligen Judentums“ (jede Woche 2stündig). Am Ende seiner Luzerner Lehrtätigkeit erzählte er seinen bisherigen Lebensweg in ein Tonband hinein. Der Verfasser dieses Geburtstagsartikels fühlt sich aufgrund dieser akustischen Primärquelle und vieler Begegnungen und Beobachtungen befugt, einiges über Flusser zu erzählen und ihn fragmentarisch zu deuten.

Herkunft und Lebensweg

Kurz vor dem jüdischen Neujahr wurde David Flusser am 15. September 1917 in Wien geboren. Er ist kein Wiener, sondern eine Böhme, der in Wien geboren wurde! Seine Mutter kam nur zur Niederkunft nach Wien. Flusser weist selbst auf den berühmten Parallelfall hin: Jesus war kein Bethlehemite, sondern ein Nazarener, der in Bethlehem geboren wurde!

Als Halbjähriger wurde David, dem man kaum Lebenschancen gegeben hatte, nach Böhmen zurückgebracht. Bis zum 6. Lebensjahr lebte er in der böhmischen Kleinstadt Rekonitz, in der seine Familie schon seit 1618 ansässig war. Der Name Flusser ist eine Berufsbezeichnung. Bei der Glasherstellung hatte die Familie das Privileg der Vorbereitung und Überwachung des (richtigen) Fliessens der heißen Glasmasse. Mütterlicherseits stammt Flusser von der Familie Hamburger ab, die schon im 17. Jahrhundert in Prag lebte. Bekannt sind der Frankisten-Gegner Mordechai Hamburger (17. Jh.) und David Hamburger, Arzt bei Ferdinand dem Gütigen und Urgrossvater unseres David. David Hamburger erhielt den Titel des kaiserlichen Hofarztes deshalb nicht, weil er sich trotz mehrmaligen Drängens nicht taufen ließ. Nach seinem Tode berichtete der Kaplan, der erfolglos mit einer Tauf-Aufforderung zum Sterbenden geeilt war, dem Kaiser: „David Hamburger hat im Wahn gelebt und ist im Wahn gestorben!“ Dazu der Urenkel:

„Stellen Sie sich vor, David Hamburger wäre damals Christ geworden! Würde dann sein Urenkel als Christ soviel vom Christentum verstehen, wie er jetzt als Jude vom Christentum versteht?“

Vom 6.–16. Lebensjahr lebte David in der böhmischen Stadt Nibram. Sie zählte 12 000 Einwohner und hatte ein traditionell katholisches Gepräge. Das Zentrum der Stadt war ein heiliger Berg mit einer Wallfahrtskirche zu Ehren einer schwarzen Madonna aus dem 14. Jahrhundert. David besuchte dort die Volks- und Mittelschule. Er legt Wert auf die Feststellung, dass er in seiner Jugend in Böhmen nie etwas von Antisemitismus gespürt habe. Masaryk verhinderte damals den Antisemitismus. Aber auch früher gab es in Böhmen kaum antisemitische Elemente. Man warf dem Jungen auch nie vor, seine Vorfahren oder er hätten Jesus gekreuzigt. David Flusser besitzt also kein antisemitisches Trauma von seiner Jugend her.

Die jüdischen Gefährten und Zeitgenossen des jungen David Flusser lebten assimilatorisch. Sein Vater verdankte seinen Aufstieg als Ingenieur der Eisenbahn u. a. seiner den Christen angepassten Lebensweise. In Böhmen galt schon als fromm, wer am Freitagabend in die Synagoge ging. Der jüdische Religionsunterricht wurde seitens der Rabbiner lax und forderungsarm erteilt. Für David ergab sich aus all diesen Umständen das problemlose Akzeptieren eines Judentums, das mit dem Tschechentum vollkommen verbunden war. Er kannte die hebräischen und zionistischen Traditionen nur sehr vage. Dies änderte sich auch nicht, als die Familie 1933/34 nach Nordböhmen übersiedelte. Er bezog das dortige Realgymnasium und pflegte Latein und Griechisch als sein besonderes Hobby.

Im Jahre 1936/37 inskribierte er sich in Prag für klassische Philologie. Im 2. Universitätsjahr führten die nun auch in Prag deutlich spürbaren antisemitischen Massnahmen Hitlers zu einer vermehrten Beschäftigung Flussers mit seinem Judentum. Er teilte seine Wohnung mit einem Pastor der protestantischen „böhmischen Brüder“. Dieser Pastor hatte Verbindungen zu dem in der Schweiz lebenden religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz. Das Schrifttum von Ragaz eröffnete für Flusser neue Zugänge zum Alten und Neuen Testament. Als der Druck der Nationalsozialisten gegen die Juden überstark wurde, fragte man Ragaz an, ob er Flusser helfen könne, ins Ausland zu gelangen. Ragaz musste ablehnen, weil er nicht einmal seinem eigenen Sohn helfen könne. Er hatte damals in der Schweiz Redeverbot.

Als Hitler in Prag einmarschierte, verließ Flusser Böhmen. Als er sich auf dem Schiff in Richtung Palästina befand, begann er nach dem jüdischen Gesetz zu leben. Die Eltern hatten ihn zuvor dauernd vor diesem Schritt gewarnt. Das Gesetz mache unfrei. Es existiert noch ein Brief aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges, in dem David seinen Eltern – um ihnen nicht weh zu tun – versichert, er lebe noch nicht nach dem Gesetz.

In Jerusalem gab es zunächst große Schwierigkeiten. David Flusser war nie ein guter Zionist, sondern – wie er sich auszudrücken pflegt – immer ein schlechter. Ihn trug nie das Hochgefühl eines Nationalisten. Um so härter plagten ihn Hunger, Armut und die Lasten eines harten Studiums der Philologie und der jüdischen Geschichte. Von 1947–50 weilte Flusser nochmals in Böhmen. Er konnte sich aber mit seiner alten Heimat nicht mehr identifizieren.

Seine Förderer wurden schließlich die Jerusalemer Professoren Hans Lewy (vgl. FR XXIV/1972, S. 20–26) und Gerschom Scholem. Das Jahr 1955 wurde zu Flussers Glücksjahr. Er heiratete seine Frau Hannah, erhielt den Doktorgrad und begann mit Vorlesungen an der Hebräischen Universität Jerusalem. Im Jahre 1961, als der Freiburger Rundbrief zum ersten Male einen Artikel von Flusser veröffentlichte, machte die Redaktion die einführende Bemerkung, die „Informations Catholiques Internationales“ hätten Flusser vor kurzem „als einen der besten israelischen Kenner des Christentums, von großer geistiger Weite“ bezeichnet (XIII [Nr. 50/52], 11.6.19611, S. 66 f.). In den folgenden Jahrgängen des Rundbriefs tritt Flusser immer öfter als Mitarbeiter unserer Zeitschrift auf. Wir danken ihm an dieser Stelle sehr herzlich für seine vielen Anregungen. Er ließ uns nie im Stich.

Persönlichkeit und vorläufige Bedeutung

David Flusser ist ein Mann, der in kein Schema hineinpasst. Alles ist bei ihm überquellend und überströmend: das Wissen, die Fabulierkunst, die Formulierkunst, die Erfahrung, die Phantasie, die Leidenschaft für den Humanismus, für die Geschichte, für die Literatur, für Jesus, für das Judentum, für die Zukunft der Welt, für Gerechtigkeit und Gründlichkeit. Es ist nicht leicht, seinen Gedankengängen zu folgen. Noch schwieriger ist es, seinen Tonfall und seine vielsinnigen Nebenbemerkungen richtig zu verstehen. Er ist ein nicht bequemer, nicht konformer und nicht zähmbarer Gesprächspartner der christlichen Wissenschaftler und des Christentums. Die christlichen Forscher bringen es (trotzdem oder deswegen?) nicht fertig, David Flusser zu ignorieren. Er sagt von sich selbst:

„Es gibt drei Wurzeln für die Beschäftigung mit dem Christentum. Die erste Wurzel ist mein jüdischer Glaube, der immer ungebrochen war, wenn er auch zuerst nur ein Nachplappern war. Dieser Glaube gibt mir die Kraft für die Beschäftigung mit dem Christentum. Als er bewusst durchbrach, war er zuerst ein barthianischer Trotz. Dieser Trotz richtete sich gegen das liberale Judentum ohne Inhalt. Später wurde mein Glaube ein humanistischer Glaube, ein theozentrischer Anthropozentrismus. Er wurde gestärkt, als ich die vielen Leiden der Juden unter Hitler in Böhmen und anderswo sah und erfuhr.

Die zweite Wurzel ist die schon frühe Beziehung zum Christentum und die günstige Interpretation desselben im Kreise der böhmischen Brüder. Die katholische Stadt Nibram ermöglichte mir einen lebendigen Kontakt mit dem Katholizismus.

Die dritte Wurzel ist mein wissenschaftliches Interesse. Wichtig ist nur, dass der Mensch schafft. Ich bin wahrscheinlich so von meiner Arbeit und dem Willen, dass mein Wirken durchkommt, eingenommen, dass ich keine Zeit für Hoffart oder Demut habe. In diesem Sinne bin ich auch eine Art ‚stupor mundi’ geworden. Ich verzweifle immer mehr an jeder Art von Kommunikation außer an der wissenschaftlichen. Aber dies ist meine neueste Entwicklung.“

Das wissenschaftliche Opus Flussers umfasst bis heute u. a. gut 60 größere Abhandlungen, die in Zeitschriften, Festschriften und Sammelbänden hebräisch, deutsch, französisch, englisch oder spanisch erschienen. Viele wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Die Hebräische Universität Jerusalem gab vor einiger Zeit eine (unverkäufliche) Sammlung wichtiger Flusser-Artikel heraus: „Judaism and Christianity, Collection of Articles.“ Am bekanntesten wurde Flusser durch sein 1968 im Rowohlt-Verlag erschienenes Buch: „Jesus in Selbstzeugnis und Bilddokumenten.“ Es wurde als wissenschaftlicher Bestseller in 6 Sprachen übersetzt.

David Flusser frisiert Jesus nicht jüdisch so zurecht, dass er zu einem nichtssagenden jüdischen Rabbi bzw. zu einem Durchschnittspharisäer würde. Er möbelt auch das Judentum nicht so auf, dass es christlich-salonfähig wird. In diesen wichtigen Fragen redet er weder uns Christen noch den Juden „nach dem Maul“. Beide Gruppen fühlen sich von ihm bisweilen auf die Zehen getreten.

Es gibt eine Frage, bei der sich Flusser über die Christen ärgert: Die Frage nach dem Gesetzesgehorsam Jesu. Er kann nicht begreifen, dass die Christen es für so wichtig halten, dass Jesus das jüdische Gesetz – „souverän“, wie die Christen sagen –, gebrochen habe. Flusser zählt es zu den Sternstunden seines Lebens, dass er (zusammen mit Prof. Shmuel Safrai) herausgefunden hat, dass Jesus nach damaligem galiläischem Gesetzesverständnis das Gesetz nie gebrochen hat. Jene engmaschigen jüdischen Autoritäten, die ihm Gesetzesbruch vorwarfen, seien selbst im Unrecht gewesen. Flusser meint, dass der Gesetzesgehorsam Jesu gut ins christliche Konzept hineinpassen würde (vgl. Gal 4,4 f.). Die Heidenchristen sollten doch darob nicht den Kopf und die Bibel verlieren, da sie ja nicht auf das Gesetz verpflichtet seien. Sie sollten sich aber ernstlich fragen, ob ihr Eifer gegen den Gesetzesgehorsam Jesu nicht ihren versteckten antijüdischen Tendenzen entspringe.

Flusser warnt immer wieder vor vorschnellen Entgeschichtlichungen und den damit verbundenen Überinterpretationen, Überexponierungen, Theologisierungen und Versteinerungen heiliger Texte. Ihm ist wichtig, dass die Offenbarung mit der Geschichte des Volkes Gottes verknüpft ist, nicht mit einer Ideologie. Auch der oft vergötzte moderne Motivationshorizont hat sich dieser Geschichte zu beugen. Der Geschichte des Volkes Gottes und speziell Jesu beharrlich nachzusteigen, hält er für die wichtigste christlich-theologische Aufgabe.

Anlässlich des 25jährigen Jubiläums des Freiburger Rundbriefes schrieb Professor Flusser u. a.:

„Wir Juden in Israel finden im Freiburger Rundbrief unsere jüdische Hoffnung für eine bessere Zukunft bestätigt. Wir fühlen uns im Rundbrief zu Hause [...]. Im Rundbrief herrscht nicht ein sentimentaler Philosemitismus, sondern eine echte christliche Liebe zum Judentum, aus einem stolzen, selbstsicheren christlichen Standpunkt. Gerade solche Haltung lieben wir hier in Israel, wo wir auch daran gewöhnt sind, unseren Glauben selbstverständlich zu leben. So wollen wir in Israel dem Freiburger Rundbrief eine fruchtbare Zukunft wünschen“ (XXV/1973, S. 8).

Es ist leicht, diese Worte für einen christlichen Ausgangspunkt umzuprägen und dann Professor Flusser zu gratulieren: Viele Christen auf der ganzen Welt freuen sich, dass es den Professor Flusser gibt. Sie fühlen sich von ihm angesprochen. Sie schöpfen daraus Hoffnung für eine bessere jüdische und christliche Zukunft. Er ist kein sentimentaler Christenfreund, sondern besitzt eine echte jüdische Liebe zum Christentum, die aus einem stolzen, selbstsicheren jüdischen Standpunkt erwächst. Solche Haltung schätzen wir. Wir wünschen ihm und seiner Familie eine fruchtbare Zukunft: ad multos annos!

  1. „Eichmann und der Gott der Christen“, in: ‚The Jerusalem Post’ vom 21.6.1961, vom FrRu aus dem Englischen übersetzt, veröffentlicht in dem vom 11.6.1961 datierten Heft, an dem das auf Seite 3 dort wiedergegebene Gebet der deutschen katholischen Bischöfe anlässlich des Eichmann-Prozesses in den katholischen Kirchen Deutschlands gebetet wurde (Anm. d. Red. d. FrRu).

Jahrgang XXVIII 1976 Nummer 105/108 S. 27−29


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